Albert Camus’ Werk »Die Pest« wurde aus aktuellem Anlass in vielen Ländern wegen der hohen Nachfrage neu aufgelegt. Der 1947 erschienene Roman hat den Ausbruch der aus dem Mittelalter bekannten Seuche in der (damals) französischen Hafenstadt Oran zum Thema. Gewisse Parallelen zur heutigen Corona-Pandemie sind leicht erkennbar. Das zunächst zögerliche Agieren der Autoritäten bei den ersten Pestpatienten, die erst hilflosen, dann hastigen Hygienemaßnahmen, auch die Quarantäne, die Sperrstunde oder später die Abriegelung ganzer Stadtviertel wie im Frühjahr in China werden von Camus beschrieben. Sogar die schnell ausgehobenen Massengräber, in denen die Verstorbenen unwürdig verscharrt werden, erinnern an Bilder aus den USA, Brasilien und Italien. Schließlich kommt einem auch der Wunsch der Bevölkerung wie auch der Regierenden, es möge alles schnellstmöglich wieder so sein wie vor der Seuche, sehr bekannt vor.
Pandemien sind unsozial. Schon bei der mittelalterlichen Pest zogen sich die wohlhabenden Bürger auf ihre Landsitze zurück und konnten sich so vor der Seuche weitgehend schützen. Auch die Spanische Grippe, welche kurz nach dem Ersten Weltkrieg mehr Opfer forderte als die Kämpfe auf den Schlachtfeldern, traf zwar im Gegensatz zu Corona vor allem junge Menschen, jedoch kaum die Reichen und Mächtigen. Und wer heute ein Haus mit Garten sein Eigen nennt, kann mit den verordneten Corona-Maßnahmen leichter leben als Familien in engen Hochhauswohnungen. Die großen Verlierer sind die Geringverdiener, die Obdachlosen, die Bettler. Sie werden als erste entlassen beziehungsweise Opfer der Hygienevorschriften, und in den leeren Straßen der Innenstädte gibt es keine Almosen. Abstand ist angesagt, und das in einer Gesellschaft, welche ohnehin nach dem Motto »Jeder ist seines Glückes Schmied« zu exzessiver Individualität erzieht.
Eine auf Technik fixierte Gesellschaft, in der scheinbar alles beherrschbar ist, fürchtet nichts mehr als Kontrollverlust und Stillstand. Dabei hat gerade das winzige Virus mit dem Krönchen gezeigt, wie labil und verletzlich die herrschenden Systeme sind. Das Primat der Wirtschaft darf nicht in Frage gestellt, das Weihnachtsgeschäft sollte bis zum letzten Moment gerettet werden, Umsatzeinbußen sind die eigentliche Katastrophe, welche um jeden Preis vermieden werden sollte.
Die wirkliche Seuche ist die pandemische Ausbreitung des Shareholder-Values auf Institutionen der Daseinsfürsorge wie Krankenhäuser, Altenheime, Altersversorgung und Bildung. Das Dogma »Privat vor Staat« hat sich tief in das offizielle Denken eingegraben, das legitime Gewinnstreben, der dringend gesuchte Investor, das Suchen nach der profitablen Marktlücke wird kaum hinterfragt. Ganz nebenbei werden im Namen der Seuche neue Überwachungstechniken eingeführt, und die Kontaktlisten in den Restaurants, welche im Sommer von den Gästen pflichtschuldig ausgefüllt wurden, durften selbstverständlich auch zu polizeilichen Fahndungszwecken dienen. Misstrauen, Angst und Denunziantentum untergraben solidarisches Handeln.
Doch die Pandemie ist nur einer der vier neuzeitlichen Reiter der Apokalypse. Der vielleicht nächste hat den sperrigen Namen Antibiotika-Resistenz. Mit der immer hemmungsloseren Anwendung von Antibiotika bei Menschen und Nutztieren schwindet deren Wirksamkeit rapide, und selbst jene Reserve-Antibiotika, die eigentlich nur für Notfälle gedacht sind, werden auch in der Massentierhaltung verwendet. Mediziner warnen, dass bald wieder Krankheiten zum Tode führen werden, die als längst besiegt galten. Die Pharmaindustrie verdient prächtig an dem Massenprodukt und hat kein Interesse, die Anwendung einzuschränken. Die Entwicklung neuer Antibiotika hat mit Hinweis auf die hohen Entwicklungskosten keine Priorität.
Der dritte Reiter der modernen Apokalypse ist zwar allgegenwärtig und Dauerthema in den Medien, aber er nähert sich offensichtlich zu langsam, um als unmittelbare Katastrophe wahrgenommen zu werden. Die gigantischen Brände im Amazonasgebiet und in der russischen Tundra, in Kalifornien und selbst auf dem höchsten Berg Afrikas bleiben Randerscheinungen angesichts der Milliardensummen, welche für Coronahilfen und unrentable Bergbauunternehmen verschleudert werden. Währenddessen schmelzen die Polkappen schneller als alle Vorhersagen es berechnet haben.
Schließlich der vierte und schrecklichste Reiter: der Krieg. Fast alle Abkommen, die zur Rüstungskontrolle und Kriegsvermeidung geschlossen worden waren, sind »ausgelaufen« oder wurden aufgekündigt. Die Verkäufe von Waffen aller Art steigen weltweit rasant, neu entwickelte »smart bombs« sollen den Nuklearkrieg möglich machen, Hyperschallraketen sollen die Vorwarnzeit auf wenige Minuten verkürzen. Das Wettrüsten ist wieder in vollem Gange, aber wirklich ernst wird die Bedrohung nicht genommen, ganz wie bei der aktuellen Pandemie.
»Es gab auf der Welt ebenso viele Pestausbrüche wie Kriege. Und dennoch treffen Pest und Krieg die Menschen stets völlig unvorbereitet.« Der Ausspruch stammt von Rieux, einem der Protagonisten in Camus’ Roman. Für Camus ist die Pest auch ein Synonym für den Krieg, der Frankreich durch die deutsche Besatzung hart getroffen hatte, die Befreiung ist das glückliche Ende einer Seuche, die über das Land hereingebrochen war.
Albert Camus’ Philosophie bewegt sich zwischen Revolte und Resignation, zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, symbolisiert durch Sisyphos’ absurde Existenz, die trotz aller vergeblicher Mühen Glück verheißt. Camus starb als Beifahrer im Luxuswagen seines Verlegers Gallimard, der den Schriftsteller überredet hatte, mit ihm nach Paris zurückzufahren. Das Billett für den Zug hatte er noch in der Tasche. Der Zustand der Welt ist seit seinem Tod eher noch absurder geworden.