Das Thema »Inflation«, welches so lange von der Tagesordnung ökonomischer und politischer Debatten verschwunden schien und schon fast wie ein Thema aus längst zurückliegenden Epochen anmutete, ist wieder in den Schlagzeilen – zumindest in denen der Wirtschaftspresse diesseits und jenseits des Atlantiks.
Auslöser der aktuellen Debatten sind zwei Ökonomen, von denen das eher weniger erwartet worden war: Larry Summers und Olivier Blanchard hatten sich in den USA kritisch zu dem geplanten 1,9-Billionen-Dollar schweren Hilfspaket geäußert, das der neue US-amerikanische Präsident Joe Biden auf Initiative seiner Finanzministerin Janet Yellen geschnürt hat, um es auf die Reise durch die parlamentarischen Gremien zu schicken.
Summers, selbst ehemaliger Finanzminister und prominenter Unterstützer der Demokraten in den USA, hatte seine Warnung Anfang Februar in der Washington Post ausgesprochen: Der Umfang der Finanzspritzen führe zu einer Überhitzung der Volkswirtschaft und einem Inflationsdruck in einem Ausmaß »wie wir es seit einer Generation nicht mehr gesehen haben«. Seine Kritik kam vor allem deshalb unerwartet, weil er seit einem Jahrzehnt für eine expansive Finanzpolitik eintritt, die, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8. Februar zusammenfasste, »ein dauerhaftes Abgleiten in eine Welt niedrigen Wachstums und tiefer Zinsen verhindern« solle. Davon rücke er zwar nicht ab, die aktuellen Pläne seien aber des Guten zu viel.
In der seitdem hin- und herwogenden Debatte verteidigen Yellen und Bidens engster Wirtschaftsberater, Jared Bernstein, erwartungsgemäß das Paket – unter anderem mit dem Hinweis, weniger Mittel würden armen Familien nicht genügend helfen, die Krisenfolgen tragen zu können.
Die Debatten wecken Erinnerungen an eine uralte ökonomische Debatte aus der Zeit, in der alle mühsam und schmerzhaft die Grundmechanismen der damals noch neuen ökonomischen Ordnung, die wir heute Kapitalismus nennen, zu begreifen versuchten. Diese Debatten kommen den wenigen Menschen, die noch mit dem Marx’schen »Kapital« vertraut sind, merkwürdig bekannt vor. Im 34. Kapitel des III. Bandes dieses heute zumindest in Deutschland langsam in die Vergessenheit sinkenden Werkes befassen sich Karl Marx und Friedrich Engels, der große Teile dieses Kapitels formuliert hat, mit dem »Currency Principle und (der) englischen(n) Bankgesetzgebung von 1844«. Die damals vorherrschende Schule des »Currency Principle« fußte auf den Theorien des englischen Ökonomen David Ricardo (1772-1823) und wird von den beiden in dem ihnen eigenen Sarkasmus als »Schule der ökonomischen Wetterkünstler« (MEW 25, S. 563) bezeichnet. Ihnen werfen Marx und Engels vor, die Gründe der »Weltmarktsgewitter, worin der Widerstreit aller Elemente des bürgerlichen Produktionsprozesses sich entladet«, nicht etwa in der widersprüchlichen Basis dieser Produktionsprozesse selbst, sondern ihren »Ursprung und Abwehr innerhalb der oberflächlichsten und abstraktesten Sphäre dieses Prozesses, der Sphäre der Geldzirkulation« zu suchen (ebenda). Die Übersetzung der Theorien Ricardos führte auf Betreiben seiner Schüler zu den englischen Bankakten von 1844 und 1845, wonach die Ausgabe von Banknoten einer strengen Regulierung und, bei drohender Überhitzung der Wirtschaft, einer Drosselung zu unterwerfen sei. Zweimal – 1847 und 1857 – führte diese Währungspolitik zu einer Verschärfung der sich damals entwickelnden Krisen, die sich erst löste, als die englische Regierung sich über diesen heiligen Bankakt von 1844 hinwegsetzte.
Vieles hat sich seitdem geändert – aber eines nicht: Der Irrglaube, durch noch so kluge Finanzpolitik die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses – oder aktuell die Erschöpfung seiner inneren Dynamik aufgrund des nun einmal geltenden Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate (auch nachzulesen im III. Band des »Kapital«) – »verhindern« zu können, wie Summers glaubt.
Linke in der Traditionslinie von Marx und Engels stehen dem Streit von Summers und Yellen dennoch nicht mit verschränkten Armen, also gleichgültig gegenüber – so wie sich die beiden Weisen im 19. Jahrhunderts eben auch bei völliger Klarheit über die Begrenztheit der Währungspolitik mit Blick auf die Lage der arbeitenden Klassen auf die Seite derer schlugen, die letztlich die Bremsklötze der eigenen Bankgesetzgebung losschlugen, um »zu retten, was noch zu retten war« (MEW 25, S. 576).
Im verzweifelten Bemühen, die lähmende Stagnation der USA und Westeuropas vor dem Hintergrund der Dynamik kommunistisch regierter Länder wie China zu überwinden, ist damit zu rechnen, dass die herrschenden Kreise für die nächsten Jahrzehnte auch ein Wiederaufleben der lange vergessenen inflationären Potentiale in Kauf nehmen – wohl wissend, dass eine Inflation, einmal von der Kette gelassen, schwer auf einen Korridor von ein oder zwei Prozent im Jahr zu begrenzen ist. Der frühere Chefvolkswirt der Allianz-Versicherung jedenfalls, Michael Heise, wird in der FAZ am 18. Februar mit den Worten zitiert, er erwarte »für die Vereinigten Staaten eine Inflationsrate von 2,3 Prozent, für den Euroraum von 1,5 Prozent« schon für 2021.
Bei aller Unterstützung für eine expansive Geldpolitik, »um zu retten, was noch zu retten« ist, bedeutet dies, dass Gewerkschaften, die das Denken in ökonomischen Grundkategorien nicht völlig verlernt haben, dringend aufgefordert sind, in den kommenden Lohnrunden diese zu erwartende Beschleunigung des Währungszerfalls kämpferisch in ihre Lohnforderungen zu integrieren – sonst droht von dieser Seite eine rasche Verschärfung der finanziellen Not abhängig Beschäftigter.