Am 10. März 2002 veröffentlichte die Los Angeles Times Planungen der USA, die Schwelle für einen Einsatz von Atomwaffen gravierend zu senken, so auch »bei einer überraschenden militärischen Lage«. Mini Nukes sollen als Gefechtsfeldwaffen zur Kriegsführung und als Erstschlagwaffen auch gegen Nicht-Atommächte genutzt werden. Schon vor 65 Jahren behauptete Bundeskanzler Konrad Adenauer, es seien Atomwaffen denkbar, die einer weiterentwickelten Artillerie ähnelten. Das wurde und wird von den Atomwissenschaftlern geleugnet. Heute gibt es laut vor einigen Jahren erschienenen Berichten der »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs« (IPPNW) »Mini«-Nuklearbomben mit einer Sprengkraft von mindestens 5 Kilotonnen TNT. Die Hiroshima-Bombe entfaltete eine Sprengkraft von 12,5 Kilotonnen TNT. Eine solche 5-Kilotonnen-Mini-Atombombe würde IPPNW zufolge eine Umgebung von rund eineinhalb Kilometern um das Ziel stark radioaktiv verseuchen. Darüber hinaus kann der radioaktive Staub je nach Wetterlage vom Wind kilometerweit getragen werden und eine Vielzahl von Krebsfällen und Erbgutschäden auslösen. Auch der Hinweis auf das tiefe Eindringen der »Mini«-Atombomben in die Erde, wodurch die Bombe weniger gefährlich sein soll, wird von IPPNW zurückgewiesen. Die Bomben seien bei Tests allenfalls sieben Meter tief eingedrungen. Das verstrahlte Erdreich wird dabei in die Luft geschleudert und verteilt.
Diese Fakten sind heute weithin unbekannt. Daher folgt hier ein Nachdruck aus Texten des antifaschistischen Widerstandskämpfers und friedenspolitisch engagierten Schriftstellers Günther Weisenborn, die dieser selbst verfasste oder in seiner Arbeit verwandte. Er stellte sie mir für den Ostermarsch der Atomwaffengegner 1962 Hamburg-Bergen-Belsen zur Verfügung. Günther Weisenborns einhundertzwanzigster Geburtstag jährte sich am 10. Juli 2022. Er starb am 26. März 1969.
Das Göttinger Manifest der 18 Wissenschaftler, vor 65 Jahren veröffentlicht, widersprach dem Kanzler Konrad Adenauer (CDU) und ging davon aus: »Die taktischen Atombomben haben die Wirkung normaler Atombomben. Jede einzelne taktische Atomwaffe oder Granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat.« (Das Manifest wurde am 12. April 1957 in Göttingen veröffentlicht.)
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Eine Stadt voll zuckender Menschenreste
Am 6. August 1945 / stand auf Okinawa, gegenüber Japan / ein Flugzeug startbereit. / Es befand sich an Bord des Flugzeugs / die erste Atombombe der Welt, / die auf lebende Menschen gezielt war.
Und dann flog der US-Bomber / durch den klarblauen Sommerhimmel / der Großstadt Hiroshima entgegen, / in deren Straßen wimmelndes Leben herrschte … / und als der Bomber nach wenigen Minuten davonflog, / dehnte sich eine verbrannte Wüste, / in der es von Menschenresten zuckte. / Es wurden aber an diesem Sommermorgen / über 100 000 Menschen vernichtet, / Weib und Kind und Mann, / davon an Kindern etwa 15.000.
Am nächsten Tag / wurde die Großstadt Nagasaki ebenso ausradiert. / Bis heute wurden die Toten / insgesamt eine Viertelmillion gezählt, / direkte und indirekte Opfer dieser zwei Bomben.
Nun aber läuft eine bleiche Angst / durch die blühenden Provinzen der Welt, und viele treue Söhne des Konformismus / erkennen, dass manches nicht stimmt am gelieferten Vorstellungsschema: / Der sich christlich nennt, greift zur Bombe. / Der Sicherheit sagt, wählt die Katastrophe. / Der Freiheit sagt, lobt den Selbstmord. / Der Frieden sagt, rüstet zum Krieg.
(Auszug aus Günter Weisenborn »Göttinger Kantate«, 1958 Berlin)
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In dem Briefwechsel zwischen dem Philosophen Günther Anders und dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly, den sie in die Psychiatrie steckten, weil er seine Schuld bekannte und vor der Bombe warnte, schreibt der Pilot: »Nun, nachdem ich Ihnen über meine Rolle bei der Mission gesprochen habe, möchte ich Ihnen erzählen, dass ich den Entschluss gefasst habe, mein Leben der Aufgabe zu weihen, die Kriegsursachen zu zerstören und für die Ächtung aller Atomwaffen zu kämpfen. Dies gelobte ich in einem Gebet. Und was in der Zukunft auch geschehen mag, ich weiß, dass ich drei Dinge gelernt habe, die für immer Überzeugungen meines Herzens und meines Geistes bleiben werden. Zu leben, selbst das härteste Leben zu leben, ist der schönste Schatz und das wundervollste Wunder in der Welt« (aus Brief 42 von Claude Eatherly vom 8. August 1960).
Als die Bundesregierung im Oktober 1959 die VVN verbieten lassen wollte, fanden sich demokratisch gesinnte Bürger zusammen, um ein Verteidigungskomitee zu organisieren. Der Dichter und Widerstandskämpfer Günter Weisenborn war auch hier dabei. Neben diesem demokratischen Kampf – in dem Weisenborn später noch in den Aktionen gegen die von der Bundesregierung angestrebten Notstandsgesetzgebung aktiv war – galt sein besonderes Augenmerk dem Wirken gegen den Atomtod. In seinen Theaterstücken thematisierte er Probleme, die die Menschheit betrafen. So hatte er ein Stück über die Atombombenversuche in der Wüste von Nevada geschrieben, das bis heute »noch immer auf einen mutigen Regisseur wartet«.
Die vor 65 Jahren veröffentlichte Warnung der 18 Göttinger Wissenschaftler vor dem Atomkrieg riefen auch Weisenborn auf den Plan. Weisenborn, der am 30. März 1958 zu den Mitbegründern der »Aktionsgemeinschaft gegen die atomare Rüstung« gehörte, beschloss, den Diskurs über diese Warnung auf die Bühne zu bringen, um so der Kritik von 18 Atomwissenschaftlern an der Atomrüstungspolitik der CDU/CSU-Bundesregierung weitere Wirkung zu bereiten.
Seine »Göttinger Kantate« wurde mit großem Beifall uraufgeführt. Die Uraufführung fand beim SPD-Parteitag vom 16.-23.Mai 1958 in Stuttgart statt. Der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer fand damals große Worte und versprach die Unterstützung des Kampfes gegen den Atomtod: »Ich möchte hier ganz einfach sagen: Wir sind seit langem nicht für eine gute Sache und in so guter Gesellschaft auf die Straße gegangen.« Das Parteitagsprotokoll vermerkt »Bravo« und »langanhaltender Beifall«. Und nach der abendlichen Aufführung schilderte der Delegierte Harry Bosse aus Hamm, dass die »Göttinger Kantate« eindringlich vor Augen geführt habe, welche Gefahren drohen.
Allerdings wurde dieses Stück danach öffentlich so gut wie nicht mehr aufgeführt. Der Schriftsteller gab in seinem szenischen Disput die Meinungen von Wissenschaftlern (Herstellern) und Politikern (Handhabern) wieder. »Volkes Stimme« wird von einem Chor dargestellt. Der Chor war eine Singgemeinschaft der Sozialistischen Jugend »Die Falken«. Im Jahre 1960 stellte die SPD ihren Kampf gegen die Atomrüstung ein.
In den Berichten über den Krieg in der Ukraine warnen Medien vor Putins Politik des Spielens mit der Bombe – und verharmlosen diese Atomwaffen zugleich, wie sie auch von ähnlichen Drohungen der USA mit nuklearen Waffen ablenken. Wenn Russland die Bombe anwende, werden dies bloß taktische Mini-Nukes sein. Wer will das wissen? Und was bedeuten Mini-Nukes? Siehe oben die Veröffentlichung von IPPNW. Außerdem: Nicht nur Russland droht mit der Bombe, auch US-amerikanische Militärpläne enthalten diese Option.
Es bleibt die Erkenntnis gültig: Ein Krieg mit Atomwaffen führt mit großer Wahrscheinlichkeit zum Ende der Menschheit. Das bestehende Atomwaffen-Arsenal hat ein Mehrfaches der Zerstörungskapazität, die zum Auslöschen der Menschheit nötig ist. Der Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen bildet den Einstieg in den ganz großen Krieg.
Dennoch gibt es immer wieder Empfehlungen, es doch einmal mit Atomwaffen zu versuchen und damit – so meine ich – in die weltweite Katastrophe einzusteigen. Der Experte für nukleare Kriegführung, Professor Louis René Beres, Berater der Regierungen in USA und Israel, veröffentlichte am 2. Februar 2018 im israelischen BESA-Center für Strategische Studien in Tel Aviv einen Kommentar zugunsten eines atomaren Erstschlages gegen den Iran. Im Schlussabsatz zitiert er den berühmten preußischen Militär-Strategen Carl von Clausewitz (1780-1831): »Es gibt den Fall, wo das Äußerste zu wagen die höchste Weisheit ist.«