Fast alle Erzählungen des Bandes »Licht hinter dem Fenster« von Tatjana Geringas gehen von Freundinnenfiguren aus, deren Konstellation alles halten und tragen soll, was mitgeteilt wird. Das freilich kann nicht immer funktionieren, und so geraten die Geschichten (zum Glück!) zur Darstellung mannigfaltiger Geschicke. Diese berühren oft stark, Tatjana Geringas Fähigkeit, menschliche Tragödien zu suchen, zu finden, vielleicht auch zu konstruieren, zu schildern, ist bemerkenswert. So etwa Mascha, die nach dem Tod ihrer Mutter deren schwieriges Wesen und deren Verletzungen, die sie ohne zu zögern weitergab, begreift; aber auch, dass sie dieser Frau nie richtig nahegekommen ist. Dennoch waren und sind beide auf ihre Art sogar glücklich. Leider gibt die Autorin manchmal ihrer Neigung zum Predigen nach, und so endet diese Erzählung im »Wort-zum-Tage-Ton«. Schade – der Leser verstünde auch ohne Belehrung, was hier verhandelt wurde.
Der längste und überzeugendste Text des Buches ist die Titelerzählung. Dass sich Teenager oft fremd und allein in der Welt fühlen, ist bekannt. Der Schülerin Tina geht es nicht anders. Sie lebt mit ihren Eltern in einer Moskauer »Kommunalka«, das ist eine Gemeinschaftswohnung, wo die Familie (Vater, Mutter, Kind, Oma und Katze) zwei Zimmer innehat, was als Glücksfall gilt. Tina hat natürlich auch Freunde und Freundinnen, erlebt »Flaschenspiele« um Küsse und die erste Liebe, aber wirklich vertraut ist sie nur mit ihrer Großmutter. Die Anrede »Töchterchen«, die sie verwendet, sagt alles. Überhaupt ist diese Erzählung so richtig »russisch«, etwas, das man in anderen mitunter vermisst: Sie sind nach Handlungsort und Handlungszeit nicht immer problemlos zuzuordnen. Hier aber wird klar, dass man sich in den sowjetischen siebziger oder frühen achtziger Jahren befindet: »Wieder zu Hause schimpfte der Vater lautstark über den Zustand der Wirtschaft in diesem Land: Nichts sei zu kriegen, nicht einmal ein Sarg sei zu bekommen!« Denn die Oma ist gestorben, sie hatte geahnt, dass sie der Auswanderung der Familie nach Israel (der Vater hat sich plötzlich auf seine jüdischen Wurzeln besonnen) im Wege stehen würde. Die Eltern kümmern sich nur um ihre Pläne und Karrieren, kaum um Tina, die zwei Nächte neben ihrer toten Großmutter schlafen muss. Hier spürt man die Tradition der großen russischen Literatur, die einen in den Bann schlagen kann mit Alltagsschilderungen, worin sich in banalen und sonderbaren Begebenheiten der Zustand der Gesellschaft zeigt.
Nicht ganz überzeugend ist jedoch das Nachtragen von Fakten, mitten im Text heißt es dann: »Ein paar Worte über …«. Oder in Tinas Geschichte liest man, dass nach einem Monat Neujahrfest sei. Ein paar Seiten später, dass nun der Dezember näher rücke, und plötzlich holt der Vater den Tannenbaum ins Zimmer. Wurde nicht bemerkt, dass hier die Chronologie holpert?
»Die Versöhnung« nimmt sich eines äußerst wichtigen Themas an, nämlich der Vergewaltigung deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten nach dem Ende des II. Weltkriegs. Leider geschieht das etwas plakativ und ungenau. Wieder geht es um zwei Freundinnen, der einen widerfährt das Furchtbare. Sie hätten sich vor Kriegsbeginn in der Berliner Humboldt-Uni kennengelernt. Die aber heißt erst seit 1949 so. Auch mit Berlin, Westberlin, Mauer, Mauerfall geht es keinesfalls logisch zu. Eine Autorin kann irren, nur sollten die mit der Buchedition Befassten mitunter etwas genauer hinsehen, vielleicht auch den übermäßigen Gebrauch des Adverbs »irgendwie« eindämmen. Denn schnell machen solche Schwächen verdrießlich, und das schadete dem Empfinden der überzeugenden Vorschläge Tatjana Geringas zu Mitmenschlichkeit und Vergebung.
Tatjana Geringas: Licht hinter dem Fenster. Aus dem Russischen von Christine Hengevoss. Mitteldeutscher Verlag, 136 S., 14 €.