Dieses Jahr ist Italien von der 41. auf die 58. Stelle im World Press Freedom Index abgerutscht. Diese Nachricht macht natürlich traurig, ist aber keine große Überraschung, wenn man sich den Journalismus und die Informationslage in Italien anschaut. Wie ich schon mal erzählt habe, sehe ich seit Anfang der Corona-Krise nicht mehr fern. Natürlich nicht sofort, auch ich wollte informiert sein und wissen, was los war. Wir waren alle durch Ratlosigkeit und Angst erstarrt und versuchten zu verstehen, worum es ging, und was zu tun wäre. Zunehmend jedoch wurden die täglichen Fernsehnachrichten zu quasi amtlichen Bulletins, mit denen die Bevölkerung über die Anzahl der Kranken und Toten und die immer wieder wechselnden Maßnahmen informiert und instruiert wurde. Alle anderen Themen waren plötzlich ausgeblendet, und zu dem öffentlich einzig verbliebenen Thema (Corona) gab es vor allem Statistiken und die Verkündung der nun absolut »zwingend erforderlichen« Schutzmaßnahmen.
Zwar gab es durchaus Versuche, über solche Maßnahmen zu diskutieren, aber die wurden schnell abgebügelt. Was willst du groß diskutieren, wenn die Leute sterben, und man sich in einem Krieg befindet? Es herrschte ein Krieg gegen das Virus, und um den zu »gewinnen«, hilft kein Nachdenken, sind Zweifel sogar kontraproduktiv. Zum Glück wurde trotzdem diskutiert, und es gab entgegengesetzte Faktionen. Die meisten waren für die Maßnahmen, einige wenige dagegen. Die ersten waren die Guten, und die anderen waren die Bösen, Querdenker, Verrückte, Rechtsextremisten. Sie wurden zu Feinden, weil es im Kriege nur Freund oder Feind gibt.
Der Feind da draußen war das Virus, aber in unserer Gesellschaft wurden unsere Freunde, Nachbarn, Kollegen nun auch zu Feinden, weil sie die Maßnahmen in Frage stellten und damit uns alle in Gefahr brachten. Das war eine harte Zeit, und ich hoffe, dass sie endlich vorbei ist, weil ich meine Freunde zurückhaben möchte. Wir waren doch auch vorher längst nicht immer einer Meinung und haben gestritten. Warum ist das nun ein Trennungsgrund?
Und solcher Konflikt »ums Ganze« geht leider weiter. Seit Ende Februar sind wir in einen neuen Krieg hereingerutscht. Viele Leute sterben in der Ukraine durch Putins Krieg, und wieder haben wir in unserer Gesellschaft Freunde und Feinde.
Laut Umfragen sind 60 Prozent der Italiener gegen die Waffenlieferung an die Ukraine und dafür, dass man sofort konkrete Verhandlungsversuche unternehmen müsse. Im Fernsehen und in den meisten Medien hat aber diese Meinung keine große Stimme. Der Pazifismus, auf den wir uns doch lange Zeit alle irgendwie einigen konnten, wird jetzt nur noch von einigen mutigen Intellektuellen vertreten, die Bücher schreiben und in einigen unabhängigen Medien veröffentlichen. Sie werden immer wieder auch im Fernsehen zu Talkshows eingeladen, wo sie aber niedergemetzelt und als Putinversteher abgestempelt werden. Diese Sendungen haben Erfolg, weil die Italiener es anscheinend lieben, wenn die Gäste der Talkshows laut werden und sich streiten. Sie haben sicher auch die Funktion, zu demonstrieren, dass wir in einem demokratischen System leben, in dem unterschiedliche Meinungen »selbstverständlich« geäußert werden dürfen. Schade nur, dass die Pazifisten im Fernsehen in Wahrheit kaum zu Wort kommen, weil sie ständig unterbrochen und angegriffen werden.
Seit Anfang des Krieges werden Listen von diesen bösen Pazifisten in den großen Zeitungen veröffentlicht. Es gibt »gute« Journalisten, die ihre Zeit und Energie dafür einsetzen, die inneren Feinde unter uns zu finden und bekannt zu machen. Diese Journalisten publizieren ihre Listen in »guten« Zeitungen wie Repubblica oder Il Corriere della Sera. Vor ein paar Wochen hat eine dieser Listen für große Aufregung gesorgt. Il Corriere della Sera hatte eine Liste mit Namen und Fotos von italienischen Putinfreunden veröffentlicht. Der Artikel beruft sich auf ein Dokument des »Copasir« (Comitato parlamentare per la sicurezza della Repubblica), eines parlamentarischen Komitees, dessen Aufgabe in der Überwachung der italienischen Geheimdienste besteht. Laut dem Artikel hat das Copasir herausgefunden, dass es einen Zusammenschluss von Intellektuellen, Influencern, Journalisten gebe, die für Putin und Russland Propaganda machen. Diese bösen Pazifisten würden im richtigen Moment eingreifen, um Putins Politik zu unterstützen und unsere Regierung zu schwächen.
Das aber hat das Copasir mitnichten herausgefunden und sogleich dementiert. Es handele sich keineswegs um ein Netz von bezahlten Agenten von Putin, sondern um Intellektuellen, die ihre Meinung äußern. Die Meinung kann gefallen oder nicht, aber wir sind in einer Demokratie. Oder nicht?
Die Aufregung und die Empörung waren groß, es wurde viel diskutiert, und die Zeitung wird von einigen der an die Pranger gestellten sogenannten Putinversteher verklagt. Der Artikel allerdings bleibt im Netz, so wie der Eindruck, dass man besser aufpasst, was man sagt. Alles darf man nicht sagen, sonst ist man ein Feind!