Der Berliner Verlag Die Buchmacherei hat es sich zur Aufgabe gemacht, vergriffene Titel mit fortschrittlichem Hintergrund und mit sozialgeschichtlicher Bedeutung neu herauszugeben, um sie vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Ein frisches Ergebnis dieser Bemühungen ist die Neuausgabe von Texten und Illustrationen der letzten zehn Ausgaben der Weltbühne. Den Anlass zur Neuauflage gab das Verbot der Zeitschrift vor 89 Jahren im März 2022, wie die Herausgeber Dieter Braeg und Jochen Gester in ihrem Vorspann anmerken. Die letzte Ausgabe wurde am 6. März ausgeliefert »und am 7.3.1933 drang die Polizei in die Redaktionsräume ein, ließ sich alle Schlüssel ausliefern, beschlagnahmte alles und exekutierte das Verbot der Wochenzeitschrift auf unbestimmte Zeit« (S. 11). Zwei Tage zuvor konnte sich die NSDAP mit Hilfe der DNVP eine Mehrheit im Reichstag sichern, die dann nach Ausschaltung der KPD und der Verhaftung oder Flucht zahlreicher SPD-Abgeordneter zur Durchsetzung des sog. »Ermächtigungsgesetzes« führte und die faschistische Diktatur installierte. Die Herausgeber erinnern an Höhepunkte des Enthüllungsjournalismus der Weltbühne wie den Artikel »Windiges aus der deutschen Luftfahrt« vom 12.3.1929. Sie rekonstruieren auch die wenigen Tage zwischen Reichstagsbrand und Verhaftungswelle nach der entsprechenden Notverordnung, den Märzwahlen und dem Verbot der Zeitschrift. Die Bedeutung der Weltbühne liege darin, eine Verbindung zwischen der Welt »der Arbeiterbewegung mit ihren Parteien, Massenorganisationen und Kultur mit dem demokratisch ausgerichteten Teil der Gesellschaft, der außerhalb davon stand«, hergestellt zu haben und diesen »in Grenzen gegen autoritäre Formierungen [zu] immunisieren«. Zwar erreichte sie nur eine Auflage von ca. 15.000 Exemplaren, die dennoch über die engere Leserschaft hinaus eine wichtige Stimme war, »die den Geist der Aufklärung und der kritischen Vernunft versprühte und sich gegen alle Friedensbedrohungen und antirepublikanischen Tendenzen stemmte«, wie Braeg und Gester hervorheben (S. 16).
Als ersten Text aus der Nr. 1 vom 3.1.1933 lesen wir »Wintermärchen« von Carl von Ossietzky. Er nahm die Kamarilla um Reichspräsident von Hindenburg und besonders den sog. »Herrenklub« um Ex-Reichskanzler von Papen aufs Korn. Er unterlag dabei, wie auch andere, der Illusion, dass die Nazis ihren Höhepunkt längst überschritten hätten. Hellmut von Gerlach analysierte die Genfer Abrüstungskonferenz (1932-1934) und charakterisierte die Haltung der deutschen Regierung und ihres Wehrministers General a. D. Groener, der entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrages die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht forderte und indirekt den Wiederaufbau einer Luftwaffe als zukünftiges Ziel formulierte, also die vollständige militärische »Rehabilitierung« Deutschlands vor Augen hatte. Eine Position, die ganz sicher auch den Nazis entgegenkam (S. 43-45). Bertolt Brecht darf in der Nr. 3 vom 17.1.1933 nicht fehlen. Sein »Oh Falladah, die Du hangest!« verband dieses berühmte Zitat aus dem Märchen »Die Gänsemagd« nach den Gebrüdern Grimm mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise für das verelendende Berliner Proletariat (S. 106-107).
Die Nr. 5 vom 31.1. erschien zu früh, um schon die Machtübertragung an Hitler vom Vortag zu kommentieren. Den vorherrschenden Antisemitismus, auf dessen Grundlage die NS-Diktatur ihre nachfolgende Verfolgungs- und Vertreibungspolitik bis 1939 durchsetzen konnte, beschrieb Hilde Walter am Beispiel des Umgangs mit jüdischen Schauspielerinnen und Schauspielern und Bühnenbeschäftigten in dem Beitrag »Judenfreies Theater«. Deren Ausgrenzung am Beispiel des Landestheaters in Gotha in Thüringen sah sie als beispielgebend für die Zukunft an (S. 183-184). Die Nr. 6 vom 7.2.1933 hingegen stand ganz im Zeichen der Tatsache der neu installierten »Regierung der nationalen Konzentration« Hitlers, in der die NSDAP nur eine Minderheit bildete. Ihre Tragfähigkeit beurteilte Carl von Ossietzky deutlich skeptisch und sollte hier irren. Hanns-Erich Kaminski hoffte auf eine Einheitsfront gegen die Rechtsregierung und ermahnte die organisierte Arbeiterklasse, ihre Organisationen gegen das NS-Regime zu verteidigen (S. 199-202). Wie scharf die Diktatur gegen ihre Gegner vorzugehen gedachte, stellte Hellmut von Gerlach am 14.2. in der 7. Nummer am eigenen Beispiel dar, hatte doch der Stahlhelm in einer Resolution die Hitlerregierung aufgefordert, auf Landesverrat die Todesstrafe einzuführen, von Gerlach wurde namentlich genannt (S. 228-232). In der Nr. 8 vom 21.2. setzen sich von Ossietzky und Walter Mehring mit Richard Wagner auseinander. Die vorletzte Ausgabe, Nr. 9, erschien am Tag nach dem Reichstagsbrand. Hier war es von Gerlach, der sich mit Hitlers außenpolitischen Phrasen in »Mein Kampf« auseinandersetzte. Indes war Carl von Ossietzky inhaftiert worden. Am 7.3., dem Tag des letztmaligen Erscheinens der Weltbühne, meldete die Redaktion unter der Rubrik »Antworten« die Verhaftung von Ossietzkys und anderer Mitarbeiter, die durch den Anwalt und Links-sozialisten Kurt Rosenfeld (seit 1931 SAP) vertreten werden würden. Gleichzeitig versicherte die Redaktion, dass sie ihre mahnende Stimme weiter erheben würde, »denn der Geist setzt sich doch durch« (S. 345). Diese Hoffnung trog für zwölf Jahre Diktatur und Krieg. Das Schlusswort in diesem repräsentativen Auswahlband aus einer dramatischen Periode erhielt Walter Mehring, der an seine letzte Begegnung mit Carl von Ossietzky erinnerte.
Dieter Braeg, Jochen Gester (Hg.): 2 Monate. Von Weimar zu Hitler. Autoren und Autorinnen der Weltbühne im Angesicht des Faschismus. Die Buchmacherei, Berlin 2022, 386 S., 17 €.