Frau Schmidt blättert, müde von der Arbeit, in der Tageszeitung. Sie stutzt: Gegen die »Zukunftshoffnung für Europas Konservative«, den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz, wird wegen Verdacht auf eine ganze Reihe krimineller Machenschaften ermittelt. Die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen erinnern sie an einen Mafiafilm: Korruption und Bestechung, illegale Parteifinanzierung und Veruntreuung öffentlicher Gelder, gekaufte Jubelartikel und Umfragen und anderes mehr. Frau Schmidt denkt: Gibt es keine Regeln, keine Moral mehr in der Politik? Beherrschen die skrupellosen, machtgierigen Typen an der Spitze wie Berlusconi und Sarkozy, Trump und Netanjahu, Rajoy und Merz sowie die ganze ehrenwerte Gesellschaft von Milliardären und Bankern die Welt?
Sie blättert weiter: »Hass, Neid, und Provokationen sind Treibstoff der Facebook-Maschine«. Ganz erschrocken – ihre Tochter ist natürlich auch bei Facebook – liest sie die Aussagen einer Whistleblowerin über die Praktiken des Mediengiganten: »den Kindern schaden, die Gesellschaft spalten und unsere Demokratie schwächen«. Kinder und Jugendliche würden ausgenutzt, der Profit stehe über dem Allgemeinwohl. Die Flut an Hassbotschaften und Fake News auf dem (a)sozialen Netzwerk ist offensichtlich Geschäftsgrundlage, denn das solle die »Menschen künstlich triggern und so an die Plattform binden«. Frau Schmidt ist ganz aufgewühlt: Was ist das für ein System, in dem weltbeherrschende Konzerne das Geschäftsziel verfolgen, alles, auch noch das Privateste, über jeden Menschen zu sammeln, um ihn oder sie gezielt beeinflussen zu können?
Aber die Zeitung hält weitere Schrecken für sie bereit. In Frankreich macht sich ein mehrfach wegen Aufruf zum Rassenhass verurteilter rechtsextremer Publizist bereit, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren – durchaus chancenreich. Seinen Aufstieg habe der Rassist einem Milliardär zu verdanken, der ihm mit seinem Sender eine Bühne für die rassistischen Hassreden bietet.
Erschöpft will Frau Schmidt das Blatt weglegen – da fällt ihr Blick auf die Schlagzeile »Geldvermögen ist erneut gewachsen«. Um knapp zehn Prozent sei es im Krisenjahr 2020 gestiegen – ohne Immobilien. Müde denkt die Zeitungsleserin: Auch dieses Wachstum ist an mir vorbeigegangen. Die Kluft zwischen Arm und Reich sei ebenfalls vertieft worden; am meisten profitierten die, die ohnehin schon zu den Superreichen zählen. Frau Schmidt will nicht superreich sein. Aber sie weiß, dass ihr mit ihrem Mindestlohn von 9,60 Euro Armut im Alter winkt. Und sie fürchtet schon die nächste Mieterhöhung.
Prompt springt ihr eine weitere Überschrift ins Auge: »Vonovia ist am Ziel«. Endlich habe der Wohnungskonzern den Konkurrenten unter den Immobilienriesen, Deutsche Wohnen, übernehmen können. Damit entstehe ein Immobilienriese mit mehr als 550.000 Wohnungen. Und die Leute, die quasi mit verkauft werden? Frau Schmidt weiß aus Erfahrung, was das für die Menschen bedeutet, die in den Wohnungen zur Miete wohnen.
Sie hat genug, sie braucht jetzt Schlaf, will die Zeitung weglegen, aber aus dem Augenwinkel registriert sie noch, dass die EU ihr Asylsystem effektiver machen wolle. Ach ja, effektiver – grausamer und unmenschlicher, hat sie doch neulich im Fernsehen die rasiermesserscharfen Zäune und die Prügelszenen an den Grenzen der EU gesehen, schreckliche Bilder: brutale Grenzwächter, die sich an den erschöpften, verzweifelten Flüchtlingen austoben. Und da wagt die EU noch, anderen Ländern Lektionen über Menschenrechte zu erteilen!
Natürlich ist Frau Schmidt keine reale Person – die Meldungen nur eines Tages in einer konservativen Zeitung (Badische Neueste Nachrichten, 8.10.21) sind aber echt. Was lösen eigentlich all diese Meldungen aus, die den Menschen den Zustand der Welt tagtäglich vor Augen führen? Erkennen die LeserInnen den Zusammenhang, der zwischen schamloser Korruption der Machtelite, die sich nicht um Gesetze und Menschlichkeit schert, und Rassismus und faschistischen Entwicklungen besteht?
Wir können uns nicht auf die Erklärungen staatstragender Parteien und Medien verlassen, wenn wir die Fülle politischer Schreckensmeldungen in einen Zusammenhang bringen und Ursache und Wirkung auseinanderhalten möchten. Erst kürzlich konnte man verfolgen, dass im Wahlkampf überwiegend nichtssagende, verlogene Parolen dominierten und das Spitzenpersonal die drängendsten Themen, die das Leben der Bevölkerung massiv beeinflussen – soziale Kluft, Kinder- und Altersarmut, prekäre Arbeitsverhältnisse, unbezahlbare Wohnungen, dem Profit ausgelieferte Gesundheitsversorgung und Kriegsgefahr und -hetze – zu vermeiden wusste. Was ihnen nicht schwer fiel, weil die Sender und Zeitungen die entsprechenden Fragen gar nicht erst stellten.
PolitikerInnen und Medien beklagen den Verlust des sozialen Zusammenhalts, den wachsenden Rassismus und die Verrohung wie auch den Hass in den sozialen Netzwerken, tun aber alles dafür, den Anteil ihrer eigenen politischen Entscheidungen daran zu vertuschen. Ein personen- und parteienzentrierter Wahlkampf beinhaltet mehr Desinformation und Manipulation als Aufklärung über Ziele und Zusammenhänge. Im Fokus der großen Parteien steht die Legitimation der bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse, während sie die Sorgen und Bedürfnisse der Menschen längst aus dem Blick verloren haben. Wohl wird über Hunger in der Welt, das »Scheitern« des Krieges in Afghanistan oder die Klimakatastrophe berichtet. Und die Ursachen? Dass die meinungsbildenden Medien keine Aufklärung leisten, ist kein gutes Zeichen für Pressefreiheit und ihren Gebrauch. Wir können uns gut in Frau Schmidt hineinversetzen, in ihr Erschrecken, in ihre Sorgen. Die Meldungen eines einzigen Tages sind ja nur die Spitze des Eisberges. Wir könnten Seiten füllen mit den Erfahrungen aus dem Tollhaus namens globalem Kapitalismus: Totalüberwachung durch Geheimdienste, Steuerhinterziehung in Billionenhöhe als Normalfall, allgegenwärtige Propaganda und Manipulation durch weltbeherrschende Tech-Konzerne, massiver Lobbyeinfluss auf die Politik, konzertierte Staatsverbrechen wie im Fall von Assange, Verflechtung von Politik und Wirtschaft, Missachtung internationaler Institutionen und Verträge, gigantische Aufrüstung und verlogene Feindbilder, Mauern und Militär gegen die Opfer dieser Verhältnisse. Das Völkerrecht, die UN-Charta haben die Krisenverursacher längst in die Tonne gestampft. Die Liste ist lang und die meisten unerhörten Verbrechen fallen unter die Amnesie – man kann ja nicht alles behalten.
Der neoliberal radikalisierte Kapitalismus hat nicht nur die Wirtschaft dereguliert, was gleichbedeutend ist mit dem Einreißen aller Regelungen zum Schutz von Mensch und Natur vor Beutezügen skrupelloser Egomanen. Er hat alle Lebensbereiche und jede Moral »dereguliert«. Der erfolgreiche neoliberale Politiker gleicht dem charmanten Psychopathen ohne Gewissen, der dir freundlich lächelnd ins Gesicht lügt und erklärt, dass er nur dein Bestes will – dir dabei aber alles nimmt. Da fallen einem zuerst Typen wie Berlusconi, Trump, Bolsonaro und Kurz ein, aber warum nicht auch die ganze Riege der Vorstandvorsitzenden von Banken und Konzernen, Beratungsfirmen und internationalen Gremien, die den katastrophalen Zustand der Welt zu verantworten haben? Ein solches System ist nicht nur irrational, inhuman, und krisenanfällig, sondern selbstzerstörerisch – siehe Klimakatastrophe, Kriege des Westens, Naturzerstörung oder der regelhafte Zusammenbruch des spekulativen Finanz- und Wirtschaftssystems. Das System ist enthemmt und wirkt sich auf die Psyche und das Zusammenleben der Menschen aus.
Kehren wir noch einmal zu Frau Schmidt zurück. Hat sie je erlebt, dass die Regierungen Politik in ihrem Interesse gemacht hätten, dass ihre Sorgen und Ängste geringer geworden wären, ihre Rente höher, ihre Miete niedriger, ihre Arbeitsbedingungen besser und die Zukunft ihrer Kinder sicherer? Was bewirkt diese Erfahrung in ihr und in Millionen von Menschen? Es schafft eine ständige Anspannung, einen nicht abbaubaren Stress. Eine Doublebind-Situation: Ihr wird von den VertreterInnen aus Politik und Wirtschaft und Medien strahlend verkündet, wie gut es ihr geht, wie dankbar sie zu sein hat für all die Wohltaten der Demokratie und der florierenden Wirtschaft. Es gibt doch mehr Frauen in Konzernvorständen, das Vermögen wächst, wir leben in Frieden! Aber sie weiß und spürt genau, dass das nur ein Teil der Wahrheit und oft verlogen ist, dass hinter der Fassade etwas anderes lauert – und sie kann die Dissonanz nicht auflösen. Denn gegen Gewalt in der Diktatur kann man sich wehren, gegen allgegenwärtige Manipulation nicht.
Das enthemmte System lässt die Gegensätze und Spannungen wachsen. Nur wenn die Mechanismen dieser manipulativen Herrschaft erkannt werden, ist ein rationaler Widerstand möglich. Ohne Gegenwehr wächst die Gefahr der Zerstörung der Menschlichkeit und der gesellschaftlichen Solidarität, die Bereitschaft für Hass und Gewalt, für einen modernen Faschismus.