Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die Enthemmung

Frau Schmidt blät­tert, müde von der Arbeit, in der Tages­zei­tung. Sie stutzt: Gegen die »Zukunfts­hoff­nung für Euro­pas Kon­ser­va­ti­ve«, den öster­rei­chi­schen Kanz­ler Seba­sti­an Kurz, wird wegen Ver­dacht auf eine gan­ze Rei­he kri­mi­nel­ler Machen­schaf­ten ermit­telt. Die Ergeb­nis­se der staats­an­walt­schaft­li­chen Unter­su­chun­gen erin­nern sie an einen Mafia­film: Kor­rup­ti­on und Bestechung, ille­ga­le Par­tei­fi­nan­zie­rung und Ver­un­treu­ung öffent­li­cher Gel­der, gekauf­te Jubel­ar­ti­kel und Umfra­gen und ande­res mehr. Frau Schmidt denkt: Gibt es kei­ne Regeln, kei­ne Moral mehr in der Poli­tik? Beherr­schen die skru­pel­lo­sen, macht­gie­ri­gen Typen an der Spit­ze wie Ber­lus­co­ni und Sar­ko­zy, Trump und Netan­ja­hu, Rajoy und Merz sowie die gan­ze ehren­wer­te Gesell­schaft von Mil­li­ar­dä­ren und Ban­kern die Welt?

Sie blät­tert wei­ter: »Hass, Neid, und Pro­vo­ka­tio­nen sind Treib­stoff der Face­book-Maschi­ne«. Ganz erschrocken – ihre Toch­ter ist natür­lich auch bei Face­book – liest sie die Aus­sa­gen einer Whist­le­b­lo­we­rin über die Prak­ti­ken des Medi­en­gi­gan­ten: »den Kin­dern scha­den, die Gesell­schaft spal­ten und unse­re Demo­kra­tie schwä­chen«. Kin­der und Jugend­li­che wür­den aus­ge­nutzt, der Pro­fit ste­he über dem All­ge­mein­wohl. Die Flut an Hass­bot­schaf­ten und Fake News auf dem (a)sozialen Netz­werk ist offen­sicht­lich Geschäfts­grund­la­ge, denn das sol­le die »Men­schen künst­lich trig­gern und so an die Platt­form bin­den«. Frau Schmidt ist ganz auf­ge­wühlt: Was ist das für ein System, in dem welt­be­herr­schen­de Kon­zer­ne das Geschäfts­ziel ver­fol­gen, alles, auch noch das Pri­va­te­ste, über jeden Men­schen zu sam­meln, um ihn oder sie gezielt beein­flus­sen zu können?

Aber die Zei­tung hält wei­te­re Schrecken für sie bereit. In Frank­reich macht sich ein mehr­fach wegen Auf­ruf zum Ras­sen­hass ver­ur­teil­ter rechts­extre­mer Publi­zist bereit, für das Amt des Prä­si­den­ten zu kan­di­die­ren – durch­aus chan­cen­reich. Sei­nen Auf­stieg habe der Ras­sist einem Mil­li­ar­där zu ver­dan­ken, der ihm mit sei­nem Sen­der eine Büh­ne für die ras­si­sti­schen Hass­re­den bietet.

Erschöpft will Frau Schmidt das Blatt weg­le­gen – da fällt ihr Blick auf die Schlag­zei­le »Geld­ver­mö­gen ist erneut gewach­sen«. Um knapp zehn Pro­zent sei es im Kri­sen­jahr 2020 gestie­gen – ohne Immo­bi­li­en. Müde denkt die Zei­tungs­le­se­rin: Auch die­ses Wachs­tum ist an mir vor­bei­ge­gan­gen. Die Kluft zwi­schen Arm und Reich sei eben­falls ver­tieft wor­den; am mei­sten pro­fi­tier­ten die, die ohne­hin schon zu den Super­rei­chen zäh­len. Frau Schmidt will nicht super­reich sein. Aber sie weiß, dass ihr mit ihrem Min­dest­lohn von 9,60 Euro Armut im Alter winkt. Und sie fürch­tet schon die näch­ste Mieterhöhung.

Prompt springt ihr eine wei­te­re Über­schrift ins Auge: »Vono­via ist am Ziel«. End­lich habe der Woh­nungs­kon­zern den Kon­kur­ren­ten unter den Immo­bi­li­en­rie­sen, Deut­sche Woh­nen, über­neh­men kön­nen. Damit ent­ste­he ein Immo­bi­li­en­rie­se mit mehr als 550.000 Woh­nun­gen. Und die Leu­te, die qua­si mit ver­kauft wer­den? Frau Schmidt weiß aus Erfah­rung, was das für die Men­schen bedeu­tet, die in den Woh­nun­gen zur Mie­te wohnen.

Sie hat genug, sie braucht jetzt Schlaf, will die Zei­tung weg­le­gen, aber aus dem Augen­win­kel regi­striert sie noch, dass die EU ihr Asyl­sy­stem effek­ti­ver machen wol­le. Ach ja, effek­ti­ver – grau­sa­mer und unmensch­li­cher, hat sie doch neu­lich im Fern­se­hen die rasier­mes­ser­schar­fen Zäu­ne und die Prü­gel­sze­nen an den Gren­zen der EU gese­hen, schreck­li­che Bil­der: bru­ta­le Grenz­wäch­ter, die sich an den erschöpf­ten, ver­zwei­fel­ten Flücht­lin­gen aus­to­ben. Und da wagt die EU noch, ande­ren Län­dern Lek­tio­nen über Men­schen­rech­te zu erteilen!

Natür­lich ist Frau Schmidt kei­ne rea­le Per­son – die Mel­dun­gen nur eines Tages in einer kon­ser­va­ti­ven Zei­tung (Badi­sche Neue­ste Nach­rich­ten, 8.10.21) sind aber echt. Was lösen eigent­lich all die­se Mel­dun­gen aus, die den Men­schen den Zustand der Welt tag­täg­lich vor Augen füh­ren? Erken­nen die Lese­rIn­nen den Zusam­men­hang, der zwi­schen scham­lo­ser Kor­rup­ti­on der Macht­eli­te, die sich nicht um Geset­ze und Mensch­lich­keit schert, und Ras­sis­mus und faschi­sti­schen Ent­wick­lun­gen besteht?

Wir kön­nen uns nicht auf die Erklä­run­gen staats­tra­gen­der Par­tei­en und Medi­en ver­las­sen, wenn wir die Fül­le poli­ti­scher Schreckens­mel­dun­gen in einen Zusam­men­hang brin­gen und Ursa­che und Wir­kung aus­ein­an­der­hal­ten möch­ten. Erst kürz­lich konn­te man ver­fol­gen, dass im Wahl­kampf über­wie­gend nichts­sa­gen­de, ver­lo­ge­ne Paro­len domi­nier­ten und das Spit­zen­per­so­nal die drän­gend­sten The­men, die das Leben der Bevöl­ke­rung mas­siv beein­flus­sen – sozia­le Kluft, Kin­der- und Alters­ar­mut, pre­kä­re Arbeits­ver­hält­nis­se, unbe­zahl­ba­re Woh­nun­gen, dem Pro­fit aus­ge­lie­fer­te Gesund­heits­ver­sor­gung und Kriegs­ge­fahr und -het­ze – zu ver­mei­den wuss­te. Was ihnen nicht schwer fiel, weil die Sen­der und Zei­tun­gen die ent­spre­chen­den Fra­gen gar nicht erst stellten.

Poli­ti­ke­rIn­nen und Medi­en bekla­gen den Ver­lust des sozia­len Zusam­men­halts, den wach­sen­den Ras­sis­mus und die Ver­ro­hung wie auch den Hass in den sozia­len Netz­wer­ken, tun aber alles dafür, den Anteil ihrer eige­nen poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen dar­an zu ver­tu­schen. Ein per­so­nen- und par­tei­en­zen­trier­ter Wahl­kampf beinhal­tet mehr Des­in­for­ma­ti­on und Mani­pu­la­ti­on als Auf­klä­rung über Zie­le und Zusam­men­hän­ge. Im Fokus der gro­ßen Par­tei­en steht die Legi­ti­ma­ti­on der bestehen­den Macht- und Besitz­ver­hält­nis­se, wäh­rend sie die Sor­gen und Bedürf­nis­se der Men­schen längst aus dem Blick ver­lo­ren haben. Wohl wird über Hun­ger in der Welt, das »Schei­tern« des Krie­ges in Afgha­ni­stan oder die Kli­ma­ka­ta­stro­phe berich­tet. Und die Ursa­chen? Dass die mei­nungs­bil­den­den Medi­en kei­ne Auf­klä­rung lei­sten, ist kein gutes Zei­chen für Pres­se­frei­heit und ihren Gebrauch. Wir kön­nen uns gut in Frau Schmidt hin­ein­ver­set­zen, in ihr Erschrecken, in ihre Sor­gen. Die Mel­dun­gen eines ein­zi­gen Tages sind ja nur die Spit­ze des Eis­ber­ges. Wir könn­ten Sei­ten fül­len mit den Erfah­run­gen aus dem Toll­haus namens glo­ba­lem Kapi­ta­lis­mus: Total­über­wa­chung durch Geheim­dien­ste, Steu­er­hin­ter­zie­hung in Bil­lio­nen­hö­he als Nor­mal­fall, all­ge­gen­wär­ti­ge Pro­pa­gan­da und Mani­pu­la­ti­on durch welt­be­herr­schen­de Tech-Kon­zer­ne, mas­si­ver Lob­by­ein­fluss auf die Poli­tik, kon­zer­tier­te Staats­ver­bre­chen wie im Fall von Assan­ge, Ver­flech­tung von Poli­tik und Wirt­schaft, Miss­ach­tung inter­na­tio­na­ler Insti­tu­tio­nen und Ver­trä­ge, gigan­ti­sche Auf­rü­stung und ver­lo­ge­ne Feind­bil­der, Mau­ern und Mili­tär gegen die Opfer die­ser Ver­hält­nis­se. Das Völ­ker­recht, die UN-Char­ta haben die Kri­sen­ver­ur­sa­cher längst in die Ton­ne gestampft. Die Liste ist lang und die mei­sten uner­hör­ten Ver­bre­chen fal­len unter die Amne­sie – man kann ja nicht alles behalten.

Der neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­te Kapi­ta­lis­mus hat nicht nur die Wirt­schaft dere­gu­liert, was gleich­be­deu­tend ist mit dem Ein­rei­ßen aller Rege­lun­gen zum Schutz von Mensch und Natur vor Beu­te­zü­gen skru­pel­lo­ser Ego­ma­nen. Er hat alle Lebens­be­rei­che und jede Moral »dere­gu­liert«. Der erfolg­rei­che neo­li­be­ra­le Poli­ti­ker gleicht dem char­man­ten Psy­cho­pa­then ohne Gewis­sen, der dir freund­lich lächelnd ins Gesicht lügt und erklärt, dass er nur dein Bestes will – dir dabei aber alles nimmt. Da fal­len einem zuerst Typen wie Ber­lus­co­ni, Trump, Bol­so­n­a­ro und Kurz ein, aber war­um nicht auch die gan­ze Rie­ge der Vor­stand­vor­sit­zen­den von Ban­ken und Kon­zer­nen, Bera­tungs­fir­men und inter­na­tio­na­len Gre­mi­en, die den kata­stro­pha­len Zustand der Welt zu ver­ant­wor­ten haben? Ein sol­ches System ist nicht nur irra­tio­nal, inhu­man, und kri­sen­an­fäl­lig, son­dern selbst­zer­stö­re­risch – sie­he Kli­ma­ka­ta­stro­phe, Krie­ge des Westens, Natur­zer­stö­rung oder der regel­haf­te Zusam­men­bruch des spe­ku­la­ti­ven Finanz- und Wirt­schafts­sy­stems. Das System ist ent­hemmt und wirkt sich auf die Psy­che und das Zusam­men­le­ben der Men­schen aus.

Keh­ren wir noch ein­mal zu Frau Schmidt zurück. Hat sie je erlebt, dass die Regie­run­gen Poli­tik in ihrem Inter­es­se gemacht hät­ten, dass ihre Sor­gen und Äng­ste gerin­ger gewor­den wären, ihre Ren­te höher, ihre Mie­te nied­ri­ger, ihre Arbeits­be­din­gun­gen bes­ser und die Zukunft ihrer Kin­der siche­rer? Was bewirkt die­se Erfah­rung in ihr und in Mil­lio­nen von Men­schen? Es schafft eine stän­di­ge Anspan­nung, einen nicht abbau­ba­ren Stress. Eine Dou­ble­bind-Situa­ti­on: Ihr wird von den Ver­tre­te­rIn­nen aus Poli­tik und Wirt­schaft und Medi­en strah­lend ver­kün­det, wie gut es ihr geht, wie dank­bar sie zu sein hat für all die Wohl­ta­ten der Demo­kra­tie und der flo­rie­ren­den Wirt­schaft. Es gibt doch mehr Frau­en in Kon­zern­vor­stän­den, das Ver­mö­gen wächst, wir leben in Frie­den! Aber sie weiß und spürt genau, dass das nur ein Teil der Wahr­heit und oft ver­lo­gen ist, dass hin­ter der Fas­sa­de etwas ande­res lau­ert – und sie kann die Dis­so­nanz nicht auf­lö­sen. Denn gegen Gewalt in der Dik­ta­tur kann man sich weh­ren, gegen all­ge­gen­wär­ti­ge Mani­pu­la­ti­on nicht.

Das ent­hemm­te System lässt die Gegen­sät­ze und Span­nun­gen wach­sen. Nur wenn die Mecha­nis­men die­ser mani­pu­la­ti­ven Herr­schaft erkannt wer­den, ist ein ratio­na­ler Wider­stand mög­lich. Ohne Gegen­wehr wächst die Gefahr der Zer­stö­rung der Mensch­lich­keit und der gesell­schaft­li­chen Soli­da­ri­tät, die Bereit­schaft für Hass und Gewalt, für einen moder­nen Faschismus.