Im Herbst besuche ich gern die Alte Fasanerie, einen dreihundert Jahre alten Wildpark südlich von Hanau. Dann röhren dort die Hirsche und selbst die Wölfe hören auf zu heulen, um zu hören, was die Geweihträger in rebus amoris vortragen. Insgeheim gehe ich aber wegen der Rehe hin. Tausche hundert Strophen Bassgesang gegen eine zierliche Kopfdrehung, ein abwägendes Schlenkern zweier schlanker Ohren. Geradezu heiß bin ich auf das weiße Reh. Mir schlackern die Eigenohren, sobald es spricht:
Häh? Was ist denn Besonderes an mir? Hatten wir die Hautfarbe nicht schon als unwichtig durchschaut? Die Menschen hinter dem Maschenzaun werden allerdings rückfällig, sobald sie mich sehen. »Boah, guckma, ein WEISSES Reh!«, schreit die Fünfjährige ihre Familie aus den umliegenden Waldstücken zusammen. Vati, Mutti plus drei stellen sich zu einem Chor auf und wiederholen meine Fellfarbe.
Oder es ist Mammi, die mich als Erste entdeckt. »Ach guck mal, ein WEISSES Reh!«, ruft sie aus und merkt gerade, dass ihr Junge nicht mehr hinterherdackelt, sondern mit anderen Kindern in einer hübsch bepflanzten Betonröhre spielt. Die ist weit weg. Soll die Mutter schreien oder gestikulieren? Hingehen ist keine Option – zu weit. Also führt sie eine Art Ballett mit eingelegter Lippenarie vor mir auf. Reißt beide Arme hoch und tänzelt, senkt, als sie einen Blick des Juniors erhascht zu haben meint, fallbeilartig einen Arm, bis er auf mich zeigt, stellt das Megafon der anderen Hand um den Mund und formt stumm ihren Schrei: EIN. WEISSES. REH! Worauf folgt: »Nee? Hat er wohl nicht verstanden.« Schreit also doch: »Guck mal: ein GANZ WEISSES!« Der Junge lässt resigniert die spielaktiven Hände sinken, gefangen im Blickkontakt. »Komm doch mal her! Hier ist ein GANZ WEISSES REH!« Eine Minute muss der Junge noch so dastehen, dann darf er sich ganz langsam wieder umdrehen und in seiner Spielröhre verschwinden, denkt er und macht es. Nun läuft die Mutter doch hin. Währenddessen packt die fünfköpfige Familie drei Futtertüten aus, von denen ich zirka zwei durch den Zaun inhaliere. Gut, dass ich eine Wiederkäuerin bin, denke ich mal wieder. In meinem Äser könnte ich die zwei Tüten nicht zwischenlagern. Das zu machen verlangt aber die Solidarität mit meinen rehbraunen Schwestern, die kein Mensch jemals füttert und mit denen ich den Zweitüteninhalt teile, sobald die Familie weitergezogen ist. Aber da naht schon die Mutter des Röhrenjungen mitsamt diesem und seiner Schwester, dazu einer Freundin und deren zwei Kindern, im Laufschritt und Albinofieber: »Da ist es!«, jauchzt die Entdeckermutter, als hätte sie zwischenzeitig befürchtet, sie spinnt, und es gibt mich gar nicht. Ich trete drei vornehme Schritte zurück, ehe die sechs Personen in den Zaun prallen. Man gilt ja als scheu. »Or wie SÜÜÜSS!« beeilt sich jedes der vier Kinder als erstes zu rufen.
Und dann röhrt der Alte von nebenan. Das ist der Moment, in dem ich selbst zweifele, ob es mich gibt, so schnell sind alle sechs weg, meine Ehedemfans. »Wo ist er, Mammi?«, »Ich seh ihn nicht!«, hallt es mit wegen des Brunftlärms erhobenen Stimmchen vielkehlig durch den Kunstwald. Wieder ist die Entdeckermama die schnellste: »Da ist er!«, deutet sie in ein eher lockeres Dickicht. »Seht ihr ihn?« Als alle vier Kinder bestätigt haben, sagt sie mit Seitenblick zur Freundin: »Das ist DER CHEF.« Beide Frauen haben feuchte Augen. Der Alte röhrt noch mal und die Freundinnen zittern, träumen vom Leben in einer klaren Hierarchie und ohne verwirrend ähnliche Waldwege oder Spielröhren, von denen man nicht weiß, in welche das Kind schon wieder verschwunden ist. Ich nutze die unbeobachtete Zeit zu einem Stelldichein mit meinem jungen, schweigsamen Lieblingshirsch und denke, während ich genieße: Ihr seid so unlogisch, liebe Menschen. Wenn wir alle mit diesen klapprigen Meistersängern schlafen würden, hätten wir Rehe, nach Charles Darwin, doch längst selber diesen Blechröhrenbass.