Das Wort »Wahnsinn« hat Konjunktur in unserer Alltagssprache, kaum eine Sportreportage, keine Werbeanpreisung kommt ohne es aus. Dass Literatur die Aufgabe hat, alle Wortbedeutungen ans Licht zu bringen, schwang immer wieder mit in der Lesung Helga Schuberts im Magdeburger Rathaussaal, die ich am 23.9.2021 moderieren durfte. Die Bachmann-Preis-Gewinnerin des Jahres 2020 sprach vor ausverkauftem Auditorium nach der Lesung des prämierten Textes »Vom Aufstehen« über ihr Misstrauen gegenüber dem Pathos oder von ihrer Angst vor geschlossenen Gesellschaften.
Denn nur in solchen, dies ist Helga Schuberts feste Überzeugung, ist das möglich, was sie in ihrem Buch »Die Welt da drinnen« nachdrücklich in unser Bewusstsein rückt: Die so genannte Euthanasie im Dritten Reich, also, dass Ärzte zu Mördern werden. Die Autorin führt das vor am Beispiel von 179 Fällen aus der Schweriner Nervenklinik; Menschen, die als »lebensunwert« ermordet wurden. Die Akten blieben nach dem Ende der Nazidiktatur unter Verschluss, und zwar im Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Erst nach 1990, als die Unterlagen in das Bundesarchiv kamen, wurden sie zugänglich.
Die Meisterschaft Helga Schuberts besteht nun darin, dass sie im Zuge der Auswertung der Akten keine historische Studie anfertigte, sondern mit den Mitteln der Literatur Schicksale ins Heute holte, Blicke in die wahnsinnige Innenwelt der Täter und ihrer Opfer ermöglicht und den Leser hineinzieht in das grausige Geschehen.
Ein Zettel, geschrieben von Adolf Hitler im Jahre 1939 (er sprach von der Gewährung des »Gnadentodes« für »unheilbar Kranke«), bildete die Grundlage für die geheime Tötung von Geisteskranken und behinderten Kindern in psychiatrischen Einrichtungen. Zwei der erschütterndsten Sätze des Buches lauten: »Diesem Erlass fielen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs etwa 100 000 Erwachsene und 5000 Kinder zum Opfer. Dabei arbeiteten Ärzte, Pfleger, Schwestern, Fürsorgerinnen, Sachbearbeiter, Gutachter, Transporteure, Kraftfahrer, Standesbeamte, Reinigungskräfte, Parteifunktionäre, Geheimdienstmitarbeiter und Krematoriumsbedienstete in genau bestimmter Rollenverteilung zusammen.«
Das Grauen, das zur Sprache gebracht wird, kulminiert dann in den einzelnen Texten des Buches, welche die Schicksale der Opfer und die Welt der Täter und ihrer Helfer in ein Licht stellen, das die Unmenschlichkeit scharf ausleuchtet. Dazu gehören die Rechtfertigungsversuche ebenso wie die so seltenen, aber doch immerhin möglichen Versuche, wenn nicht Widerstand zu leisten, so doch dem Mittun sich zu entziehen.
Gewaltige Wirkungskraft gewinnt Helga Schubert aus der Konfrontation des Vergangenen mit dem Heutigen. So etwa ihr Bericht von zwei Stunden in einem Berliner Gymnasium, die Reaktionen und Antworten von Schülerinnen und Schülern (Leistungskurse Geschichte und Deutsch) und ihrer Lehrerinnen. Sie wurden beauftragt, sich vorzustellen, sie seien einer der auf dem Zettel Hitlers erwähnten »Ausführer« (Reichsleiter Bouhler oder Leibarzt Brandt), und sie sollten nun den Auftrag des »Führers« verwirklichen. Oder der Besuch in Amsterdam in einem Haus, wo auf einem Klingelschild steht: G. f. f. E., wobei E. für Euthanasie steht, denn dieses Fremdwort wird auch im Niederländischen so geschrieben. Aber das Thema Sterbehilfe ist dort nicht weniger schwer zu besprechen als hierzulande, der Vorsitzende jener Gesellschaft gibt sich bei einem geheimnisvollen Treffen auf einem Bahnhof als Kaufmann zu erkennen, wo man doch einen Mediziner erwartet, wenn es um dergleichen geht.
Dieses Buch ist keine angenehme Lektüre, und man zögert manchmal mit dem Weiterlesen. Aber es ist eine überaus notwendige Lektüre, weil sie nicht zuletzt zeigt, wie leicht man Täter oder Opfer werden kann, wenn man in einer geschlossenen Gesellschaft ohne freie Presse und unabhängige Justiz lebt. »Wenn es konkret wird«, ist es grauenhaft«, schreibt Helga Schubert im Vorwort des jetzt wiederveröffentlichten Werkes von 2003.
Zur Erinnerung an die gemeinsame Veranstaltung ließ ich mir das Buch von der Autorin signieren, und von dem am Bücherverkaufstisch Stehenden griffen viele danach. Das stimmt zuversichtlich, denn sie werden sich mit dem Geschilderten auseinandersetzen und hoffentlich anders damit umgehen, als die im Klappentext erwähnten möglichen Leser, welche nur eine begrenzte Auswahl von Euthanasie-Schicksalen lesen wollten oder gar zweifelten, ob sie sich das »antun« würden.
Doch, man muss es sich antun, damit man wach bleibt, wenn gewisse Leute jene Jahre mit ihrer reibungslos funktionierenden Tötungsmaschinerie auf Vogelexkrementgröße reduzieren wollen.
Helga Schubert: Die Welt da drinnen dtv 2021, 296 S., 12 €.