Wertebasiert soll sie sein, die deutsche Außenpolitik. Minister Heiko Maas wird nicht müde, dieses Mantra zu wiederholen. In der Regierungsbefragung am 7. Oktober hat sich der SPD-Politiker ausführlich zum Fall Alexej Nawalny eingelassen und in Richtung Russland gedroht: »Klar ist, dass dann, wenn die Vorgänge nicht aufgeklärt und die dafür notwendigen Informationen nicht zur Verfügung gestellt werden, zielgerichtete und verhältnismäßige Sanktionen gegen Verantwortliche auf russischer Seite unvermeidlich sein werden. Russland täte gut daran, es nicht so weit kommen zu lassen.«
Es blieb den Linke-Abgeordneten Heike Hänsel und Sevim Dağdelen überlassen, den toten Winkel der »wertebasierten Außenpolitik« zum Thema zu machen und im Plenum des Parlaments einmal mehr auf das Schicksal des in britischer Isolationshaft einsitzenden Journalisten Julian Assange aufmerksam zu machen. Die absolute Ignoranz der Bundesregierung in Person des Heiko Maas bezüglich des Dissidenten des Westens dokumentiert eindrücklich das Plenarprotokoll 19/182 vom 7. Oktober 2020 (Seiten 22839-22840), das an dieser Stelle deshalb auszugsweise in Erinnerung zu rufen ist:
»Heike Hänsel (Die Linke): Herr Außenminister, Sie haben den Fall Nawalny heute als eigentlich einziges Thema prominent im außenpolitischen Bericht genannt. Gesundheitlich gesehen gibt es einen anderen sehr prekären Fall. Es geht um den international bekannten Journalisten Julian Assange, der sich unter ganz schwierigen gesundheitlichen Bedingungen in Auslieferungshaft, die ja eigentlich zum Großteil nicht im Gefängnis verbracht werden muss, im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh befindet, in dem Schwerverbrecher und Terroristen einsitzen. Der UN-Berichterstatter für Folter, Nils Melzer, dessen Berichte dem Auswärtigen Amt ja vorliegen, spricht davon, dass er ganz typische Anzeichen von psychischer Folter aufweist. Sind Sie und die Bundesregierung der Meinung, dass diese Behandlung von Julian Assange gegen die UN-Antifolterkonvention verstößt?
Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Wir verfolgen diesen Fall natürlich schon seit Langem. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, dass uns Informationen vorliegen, aus denen hervorgeht, dass es sich um Verstöße gegen internationales Recht sowohl bei der Unterbringung als auch bei der Behandlung von Julian Assange handelt.
Heike Hänsel (Die Linke): Ich möchte Sie aber noch mal daran erinnern, Herr Außenminister, dass das Auswärtige Amt selber bestätigt hat, dass Ihnen die Berichte des UN-Sonderbeauftragten zum Thema Folter, Nils Melzer, vorliegen. Genau in diesen Berichten wird beklagt, dass die Behandlung von Julian Assange gegen die Antifolterkonvention verstößt. Meine Frage: Teilen Sie die Einschätzung, dass Julian Assange auch aus humanitären Gründen endlich aus der Haft entlassen werden muss, und würden Sie sich so einer Forderung anschließen und vielleicht auch ein Angebot machen, dass er hier in der Charité behandelt wird?
Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Nein, weder das eine noch das andere. Ich bin der Auffassung, dass Herr Assange ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren verdient hat, und das ist auch die Haltung der Bundesregierung. Auch an der wird sich nichts ändern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sevim Dağdelen (Die Linke): Meine Frage ist erstens, inwieweit Sie als Bundesregierung hier auf Großbritannien einwirken, um dieses rechtsstaatliche Verfahren tatsächlich sicherzustellen. Und zweitens: Inwiefern sieht die Bundesregierung in diesem Auslieferungsverfahren gegen einen Journalisten, dem vorgeworfen wird, Kriegsverbrechen der US-Amerikaner in Afghanistan und im Irak veröffentlicht zu haben – so wie die »Times«, »Guardian«, »Le Monde« und der »Spiegel« das getan haben –, letztendlich einen Angriff auf den investigativen Journalismus? Und inwieweit sehen Sie in diesem Angriff auf den Journalismus auch eine Bedrohung für alle Menschen? Denn wenn es eine Auslieferung gemäß dem Espionage Act von 1917 gibt, auf dessen Grundlage dieses Verfahren stattfindet, kann es jeden weltweit treffen, ausgeliefert zu werden, ohne dass man jemals in den USA war. Sieht die Bundesregierung eine Gefahr, dass mit dieser Auslieferung ein Präzedenzfall geschaffen wird?
Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Das sehen wir nicht. Wir gehen davon aus, dass das nationale Recht, das es in unseren Partnerländern gibt, ein Recht ist, das auf demokratische Weise in den dortigen Parlamenten zustande gekommen ist. Grundsätzlich gehen wir davon aus – das ist auch der Gegenstand von Gesprächen, die wir mit unseren britischen Partnern führen –, dass das Verfahren natürlich auch mit Blick auf internationale Verpflichtungen abläuft. Ich kann Ihnen nicht bestätigen – zumindest nicht in der Dramatik, wie Sie das geschildert haben –, dass dieser Fall derartige Auswirkungen hat. Natürlich spielen die Themen »Pressefreiheit« und »Meinungsfreiheit« eine ganz besondere Rolle. Es ist auch wichtig, dass die Länder, in denen einerseits entsprechende Verfahren gegen Einzelne geführt werden und die sich andererseits bei anderen Ländern für die Einhaltung der Pressefreiheit aussprechen, diese Punkte immer berücksichtigen. Aber ich habe keinen Grund, insbesondere unseren britischen Partnern in diesem Fall Versagen oder was auch immer vorzuwerfen.
Sevim Dağdelen (Die Linke): Ich finde es bedauerlich, dass Sie diese Dramatik nicht sehen.
Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Das ist ja meistens so.
Sevim Dağdelen (Die Linke): Vielleicht könnte die Bundesregierung sich dann intensiver damit befassen, so wie es über 150 Prominente gemacht haben. Diese Prominenten aus Politik, Kunst, Literatur sowie viele ehemalige Bundesminister – beispielsweise der Justiz, des Auswärtigen oder des Innern – sagen: Diese Auslieferung muss verhindert werden! Vielleicht könnten Sie uns zumindest die Zusage geben, dass man sich mit diesem Fall etwas intensiver im Auswärtigen Amt beschäftigt, so wie es viele in den Medien, aber auch in der Literatur tun, damit es nicht noch andere Fälle nach sich zieht.
Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Wir können uns gerne weiterhin damit beschäftigen. Ich kann Ihnen aber sagen: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich öffentlich entsprechend zu Wort gemeldet haben, und ich werde auch in Zukunft nicht zu denjenigen gehören.«
Die frühere Linke-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht skandalisierte tags darauf in der ZDF-Sendung »Markus Lanz« mit Verve die Doppelmoral der deutschen Außenpolitik. »Alexei Nawalny und Julian Assange haben etwas gemeinsam«, so Wagenknecht, »sie haben Verbrechen aufgedeckt und Korruption bekämpft. Die Unterschiede: Nawalny kämpft gegen Putin und gegen Korruption in Russland, Assange hat sich mit der Aufdeckung schwerster Kriegsverbrechen die USA zum Feind gemacht.« Über die Vergiftung Nawalnys werde breit berichtet, selbst die Kanzlerin habe ihn am Krankenbett besucht, und – ohne dass die Urheberschaft des Giftanschlags zweifelsfrei geklärt wäre – würden Sanktionen gegen Russland gefordert und der Bau der Gas-Pipeline Nord Stream 2 in Frage gestellt. Den Kriegsverbrechen der USA und anderer Verbündeter, etwa mit heimtückischen Drohnenmorden, begegne die Bundesregierung dagegen mit »peinlichem Schweigen«. Für die Bundesregierung, konstatiert Wagenknecht, seien skandalöse Haftbedingungen, ein unfairer Prozess, die Aussicht auf Auslieferung und lebenslange Haft bis hin zur Todesstrafe in den USA kein Grund, die Stimme zu erheben, Assange einen Besuch abzustatten, ihm politisches Asyl anzubieten – von der Forderung nach Sanktionen gar nicht zu reden. »Diese Doppelmoral ist erbärmlich. Es geht um mehr als nur um das Schicksal von Julian Assange. Alle, denen die Pressefreiheit am Herzen liegt, alle, denen Menschenrechte, Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wichtig sind – sie alle sind jetzt gefragt, die Stimme zu erheben und die Freilassung von Julian Assange zu fordern!« (Ausschnitt »Markus Lanz«: https://www.facebook.com/sahra.wagenknecht/videos/vb.206307219386683/2775066762706374/?type=2&theater)