Es war den Medien nur eine kurze Meldung wert: Der Bundeskanzler fordert, dass das Handelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada nicht von allen EU-Staaten, sondern nur von der EU an sich ratifiziert werden soll. Dies kam irgendwann Anfang Oktober, war sozusagen eine journalistische »Eintagsfliege«. Aber deren Konsequenzen könnten zu einem GAU für die Regierungen aller beteiligten Staaten werden. Denn diese Kurzmeldung hat eine Vorgeschichte:
Herr Scholz reist bekanntlich durch die Welt, um Gas zu besorgen. Bei dem Termin in Kanada versprach er – vielleicht als eine Art Gegenleistung? – das seit 2017 teilweise wirksame Abkommen voranzubringen. Die bisherige partielle Umsetzung beinhaltet bereits wesentliche Teile von CETA, jedoch nicht die Klauseln des Investitionsschutzes. Diese sollen also jetzt komplett umgesetzt werden. Interessant ist dabei der vertragliche Zusammenhang.
Im Ursprung dieses Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada ging es um Handelserleichterungen, z. B. sollten die exorbitanten Import-Zölle wegfallen (z. B. bei Käse aus der EU von 245 Prozent, auf kanadisches Rindfleisch von 408 Prozent, laut Wikipedia). Dies wäre eigentlich leicht zu regeln gewesen, denkt man. Aber aus diesem Ansatz wurde mehr. Seit 2009 wurde verhandelt – nur im Geheimen, ohne Offenlegung gegenüber den europäischen Parlamenten. Als dann die ersten Eckpunkte bekannt wurden, war die Katze aus dem Sack: Für den »Schutz« von Investitionen des Privatkapitals sollten spezielle Regeln gelten – keine an parlamentarische Kontrollen gebundene Rechtsprechung, sondern die Entscheidungen von Schiedsgerichten, die außerhalb der staatlichen Rahmenbedingungen Recht sprechen.
Die Personen dieser Schiedsgerichte sollen von allen Vertragsparteien benannt werden (siehe auch Kapitel acht, Artikel 8.27 des deutschen Vertragstextes laut EU-Kommission). Das klingt nach Seriosität, jedoch steckt noch mehr dahinter: Laut Wikipedia treffen damit diese sozusagen »außerhalb des staatlichen Gesetzesraums« agierenden Schiedsgerichte Entscheidungen, die für die betreffenden Staaten bindend sind. Dieser Sachverhalt hat scheinbar mindestens einen US-Völkerrechtler zu der Äußerung veranlasst, dass damit die Politik Instrumente schafft, um die bestehenden demokratischen Strukturen abzuschaffen.
Ich möchte an dieser Stelle auch den Artikel 8.23 zitieren: »Der Investor kann bei Einreichung seiner Klage vorschlagen, dass nur ein einziges Mitglied des Gerichts mit dem Fall befasst wird. Der Beklagte prüft einen solchen Vorschlag wohlwollend.« Fügt man beide Artikel zusammen, kommen zwangsläufig Fragen auf:
Hat damit eine einzelne Person Entscheidungsgewalt zugunsten des privaten Klägers, die der beklagte Staat nahezu widerspruchslos akzeptieren muss – unter Umgehung aller demokratischen Instrumente? Und welcher Staat bzw. welcher Politiker würde nicht nur diese Praxis aushandeln, sondern freiwillig – wie kürzlich geschehen – seine legislativen Möglichkeiten aus der eigenen Hand und an die EU übergeben?
Aber dies ist nicht der einzige undemokratische Aspekt. Ebenso können die Artikel 8.6 und 8.7 zur Inländerbehandlung und Meistbegünstigung auch als Basis dienen, um seitens der Firmen gegen einen Vertragsstaat um bessere Investitionsbedingungen zu klagen; vielleicht ist auch noch eine Entschädigung für die beklagte Ungleichbehandlung rauszuholen… Aus den bisherigen Darlegungen wird bereits deutlich, zu wessen Gunsten diese Klauseln formuliert wurden und wer dabei die Verlierer sind.
Um es an einem möglichen Beispiel zu demonstrieren: Die Chip-Hersteller Siemens und AMD haben am Standort Dresden Staats- und Landeshilfen bekommen, damit sank ihr Kapitalaufwand für diese Produktionsstätten um ca. 30 Prozent. Will jetzt z. B. der Chip-Riese Intel (oder seine kanadische Tochter?) für 7 Milliarden bei Magdeburg bauen, könnten sie aus dem deutschen Steueraufkommen eine Summe von über 2 Milliarden Euro – nein, nicht verhandeln, sondern einklagen!
Interessant ist auch, dass einmal festgelegte »Deregulierungen und Privatisierungen« nie mehr rückgängig gemacht werden können. Dies betrifft in der BRD eine aktuelle Entwicklung sehr massiv: Verschiedene Kommunen möchten ihre Energieversorgung wieder in eigene Hände nehmen; in Berlin ist die Enteignung großer Immobilienkonzerne per Volksentscheid befürwortet worden. Diese demokratisch legitimen Handlungsspielräume wären damit auf allen Staatsebenen gekappt! (In Berlin wird diese Praxis auch bereits »auf kaltem Wege« durchgesetzt, indem die Umsetzung des Volksentscheids verzögert wird.)
Ein weiterer kritischer Aspekt folgt aus Artikel 8.40; Zitat auszugsweise: »Ein Beklagter darf nicht als Einwand (…) geltend machen, dass (…) aufgrund eines Versicherungs- oder Garantievertrags (…) eine Entschädigung beansprucht wird (…) das Gericht gibt einem solchen Vorbringen nicht statt.« Es ist also durchaus möglich, dass das klagende Unternehmen nicht nur vom beklagten Staat eine hohe Summe einfordert, sondern dazu noch eine vergleichbar hohe Summe aus einer Ausfall-Versicherung einheimst – und wieder ist ein dicker Profit da; die Aktionäre des Großkapitals sind zufrieden; die verhandelnden Firmenanwälte kriegen einen dicken Bonus und klettern die Karriereleiter hoch!
Sicher sind für die Fachleute noch weitere »Stolperfallen« in dem CETA-Vertragstext erkennbar; die aufgezeigten Aspekte sollen zur Gesamtbetrachtung ausreichend sein. Waren anfangs noch prominente Stimmen gegen CETA lautgeworden (einschließlich des damaligen EU-Kommissionschefs Juncker), ist es momentan sehr still geworden – aktuell sind die Politiker leider mit anderen Dingen beschäftigt; vielleicht hoffen verschiedene Kräfte, dass damit das CETA-Abkommen still und leise voll »durchgewinkt« werden würde.
Jetzt könnte als Einwand kommen, dass in diesem Beitrag nur das Negativ-Szenario aufgezeigt wird und keine der positiven Möglichkeiten. Genau das ist die Absicht – hat man schon vergessen, wie die Kraftstoff-Hersteller sich die Taschen füllten, als die Bundesregierung die Benzinsteuer senkte, und die Endkunden, also wir, trotzdem den hohen Preis bezahlen mussten? Und derartige Praktiken sind ja seit Jahrzehnten und weltweit zu beobachten. Wer heute vom Großkapital immer noch gute Absichten erwartet, ist dessen Meinungsmachern auf den Leim gegangen. Denn deren Ziel ist mitnichten, sozial und demokratisch zu agieren (siehe Pfizer-Verträge für Corona-Impfstoffe), sondern eine möglichst hohe Profitrate zu erzielen – auch gegen die Bevölkerungsmehrheit, wenn es »etwas bringt«.
Damit drängen sich viele Fragen auf: Warum setzen sich die gewählten Politiker dafür ein? Würden sie damit nicht nur ihre Glaubwürdigkeit verlieren, sondern auch ihre Positionen, den Ministersessel, Büro und Bodyguard? Oder ist ihre Zukunft schon anderweitig »abgesichert« (denkt man an die vielen Chefsessel ehemaliger Staatssekretäre und Minister)?
CAMPACT und andere NGOs haben intensiv über CETA und TTIP aufgeklärt – aber letztendlich wird das Thema in den öffentlich-rechtlichen Medien nur schwach behandelt, und es geht schlicht unter neben Ukraine-Krieg, selbstverschuldeter Energieverknappung und Inflation.
Was aus meiner persönlichen Sicht ganz kritisch ist: Werden auf diese Weise – um eine selbstverschuldete Energiekrise zu kompensieren – wesentliche demokratische Instrumente der BRD unterlaufen – nicht vom Großkapital oder dessen Lobbyisten, sondern vom obersten Regierungsvertreter, dem Vertreter einer Partei, die sich nicht nur als Volkspartei versteht, sondern als DIE Partei für alle Werktätigen?