Dass die Nazis während des zweiten Weltkriegs versuchten, die Volksgruppe der Sinti und Roma vollständig auszulöschen, und dass dem Völkermord 500.000 Angehörige dieser größten nationalen Minderheit in Europa zum Opfer fielen, ist bis heute nur einem kleinen Teil der Bevölkerung Deutschlands bekannt. Noch unbekannter ist die Geschichte des Widerstands, den Sinti und Roma geleistet haben.
In München nahm am 16. Mai dieses Jahres die »Academia rromaï« mit einem »Tag des Widerstands der Sinti und Roma gegen das Naziregime« seine Tätigkeit in der Öffentlichkeit auf. Gefördert durch die Fachstelle für Demokratie und das Kulturreferat der bayerischen Landeshauptstadt, lud der im vorigen Jahr gegründete gemeinnützige Verein zu einem Informations- und Konzertabend in das städtische Kulturzentrum Seidlvilla ein. Der rund hundert Plätze bietende Saal war voll besetzt, als Luise Gutmann als Mitglied des Vereinsvorstands die Gäste begrüßte. Besonders herzlich hieß sie eine große Gruppe von Roma aus Rumänien und aus der Ukraine willkommen.
Als Vorstandsvorsitzende bzw. Stellvertretende Vorstandsvorsitzende des neuen Vereins stellten sich Iovanca Gaspar und Laura Ghinda vor, beide Romnija aus Rumänien. Frau Gaspar war nach ihrem Magister-Abschluss in Soziologie an der Uni Wien mehrere Jahre im Auftrag des Wiener Magistrats für die Arbeit mit der dortigen Roma-Community zuständig; seit 2016 lebt sie in München. Laura Ghinda war nach ihrem Studium der Kommunikationswissenschaft für eine große Organisation in Rumänien tätig und konnte dort vielseitige Erfahrungen sammeln, die ihr sicherlich bei ihren Aktivitäten für den Verein von Nutzen sein werden.
Hauptreferent an diesem Abend war Dr. Erich Schneeberger. Der Vorsitzende des bayerischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma berichtete zuerst, was sich vor genau 78 Jahren, am 16. Mai 1944, in dem im SS-Jargon als »Zigeunerfamilienlager« bezeichneten Abschnitt BIIe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau abgespielt hat. Er bezog sich dabei auf Aussagen verschiedener Augenzeugen, darunter der polnische Häftling Tadeusz Joachimowski, der als Funktionshäftling von der sog. Schreibstube aus die Vorgänge beobachten konnte. Gegen 19 Uhr, so Joachimowski, sei für den Bereich BIIe eine Lagersperre verkündet worden. Vor dem Lager seien Wagen vorgefahren, aus denen SS-Männer mit Maschinengewehren ausgestiegen seien. Das Lager sei von ihnen eingekreist worden. Dann habe der Leiter der Aktion den gefangenen Sinti und Roma befohlen, die Unterkunftsbaracken zu verlassen. Vorgewarnt, verweigerten die mit Messern und Spaten, Brecheisen und Steinen bewaffneten Männer den Befehl. Erstaunt begaben sich die SS-Männer zu einer Beratung mit dem Leiter der Aktion in die Blockführerstube. Danach sei den Männern, die das Lager umstellt hatten, befohlen worden, sich von ihren Posten zurück- und abzuziehen. »Die SS-Männer verlassen das Lager; der erste Versuch, das Lager zu ›liquidieren‹, ist gescheitert.«
Joachimowskis Schilderung wird durch andere Augenzeugen bestätigt. So berichtete der Häftling Willi Ernst nach der Befreiung: »Unser Blockältester hat uns im Mai 1944 gewarnt, dass wir vergast werden sollten. Darauf haben sich alle, so gut es ging, bewaffnet. Ich selbst besaß ein Messer, andere hatten Werkzeuge und Knüppel. Wir wollten nicht kampflos in die Gaskammer gehen. Als die Blocksperre kam, haben wir uns verbarrikadiert. Die SS hat offenbar bemerkt, dass wir entschlossen waren, Widerstand zu leisten, und so hat sie ihre ursprünglich geplante Vernichtungsaktion aufgegeben.« Ein Teil der zu diesem Zeitpunkt im »Zigeunerfamilienlager« Gefangenen wurde dadurch gerettet. Denn wie aus einem Bericht der Überlebenden Zilly Schmidt hervorgeht, machte die SS keinen zweiten Versuch, das Lager bei voller Besetzung zu vernichten. Aus den Erinnerungen der heute 97-jährigen Überlebenden zitierte Schneeberger: »Die SS deportierte in den nächsten Monaten alle arbeits- und widerstandsfähigen jungen Männer und Frauen des Lagerabschnitts zusammen mit ihren Familien in andere Konzentrationslager. Übrig blieben etwa 4.300 Sinti und Roma; die meisten waren Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Diese Menschen wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in die Gaskammer getrieben.« Obgleich diesmal jeder Widerstand aussichtslos gewesen sei, hätten die Menschen erneut verzweifelte Gegenwehr geleistet. Wie Zeugen im späteren Auschwitzprozess aussagten, haben sie bis zuletzt um ihr Überleben gekämpft.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erinnert jedes Jahr am 2. August mit einer internationalen Gedenkfeier auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma. Und jedes Jahr beteiligen sich mehr junge Menschen aus vielen europäischen Ländern daran. Aber nicht in erster Linie zu dem Datum 2. August möchte der Vorsitzende der bayerischen Sinti und Roma die Brücke schlagen, sondern zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung. Sinti und Roma waren, so Schneeberger, Teil der antifaschistischen Befreiungsbewegungen, die im gesamten nationalsozialistisch besetzten Europa gekämpft haben. Vor allem für Frankreich, Italien und Südosteuropa sei die Zusammenarbeit mit Widerstandsgruppen dokumentiert. So hätten Sinti und Roma in Frankreich eng mit der Résistance zusammengearbeitet. »Sie beteiligten sich an der Verbreitung von Flugblättern, an der Übermittlung geheimer Informationen sowie an der Bergung und am Transport von Waffen, die von britischen Flugzeugen abgeworfen wurden. Sie halfen abgeschossenen Piloten und bauten für geflohene Kriegsgefangene ein Fluchtwegenetz auf. Auch einige Offiziere der französischen Widerstandsbewegung waren Angehörige der Minderheit. Sie führten während der Landung der Alliierten in der Normandie Angriffe auf die deutschen Besatzungstruppen durch und erhielten dafür später hohe Auszeichnungen.« Auch in Italien nahmen Angehörige der Minderheit am antifaschistischen Widerstand teil. Besonders bekannt für ihre mutigen Aktionen wurde die »Löwen-Brigade«, die ausschließlich aus Sinti und Roma bestand. Im besetzten Serbien schlossen sich viele Angehörige der Minderheit der nationalen Befreiungsbewegung unter Tito an und wurden später für ihre wichtige Rolle bei der Befreiung ausgezeichnet. Ebenso waren Roma aktiv in den Partisanenbewegungen der Sowjetunion und in der von den Deutschen besetzten Tschechoslowakei. Als Beispiel nannte Schneeberger den »schwarzen Partisan« Josef Jelinek. Der tschechische Rom wurde, zusammen mit seiner Familie, verhaftet und durch die Gendarmerie des Protektorats Böhmen und Mähren in das Konzentrationslager Lety deportiert. Gemeinsam mit anderen Häftlingen gelang ihm die Flucht. Er baute dann eine Partisanendivision auf, die in erster Linie aus geflohenen sowjetischen Kriegsgefangenen bestand.
»Viele dieser Geschichten und Biografien müssten erzählt werden«, schloss Schneeberger seinen Vortrag und bedauerte: »Ich kann hier nur die Breite und Vielfältigkeit des Widerstands von Sinti und Roma andeuten.«
Sinti und Roma waren nicht nur Opfer des faschistischen Völkermordes, sie waren auch Teil der Befreiung, und die Volksgruppe kann stolz darauf sein. Dieses Wissen vermittelte der Landesvorsitzende den Zuhörern an diesem Abend. Die Botschaft wurde aufgenommen von dem Pianisten und Komponisten Adrian Gaspar. Der in Wien lebende Rom fiel schon in der Vergangenheit dadurch auf, dass er die Leidensgeschichte des Münchner Sinto Hugo Höllenreiner zu einem beeindruckenden Oratorium verarbeitete. Er war dreiundzwanzig Jahre alt, als seine »Symphonia Romani« mit dem Titel »Bari duk – Großer Schmerz« 2010 in Österreich uraufgeführt wurde. In den zwölf Jahren, die seitdem vergangen sind, komponierte er nicht nur zahlreiche Stücke voller Lebensfreude und Witz, voller Zartheit und Übermut, im Auftrag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) »vertonte« er auch drei Bilder, die der Wiener Künstler Karel Stojka im KZ Flossenbürg gemalt hat. In der Seidlvilla begeisterte Gaspar die Zuhörer mit einer improvisierten Folge eigener Kompositionen. Dem stellte er die folgenden Zeilen von Karel Stojka voran: »Wir Roma sind wie die Blumen der Erde. Man kann uns zertreten, man kann uns verbrennen, man kann uns erschlagen, man kann uns erschießen. Wir Roma sind wie Blumen, wir kommen immer wieder.«