Wie vermutlich keine andere Geschichte der Bibel wird die Erzählung vom Turmbau zu Babel mit dem Gedanken der Hybris, der eifernden Eitelkeit des Menschen, sich selbst zu ermächtigen und an die Stelle Gottes zu setzen, in Verbindung gebracht. An der Popularität dieser Erzählung sind nicht zuletzt die Literatur und die bildende Kunst, etwa durch Pieter Bruegels Bild, maßgeblich beteiligt gewesen.
Wir wissen, der Städtename Babel hat sich bis heute in unserer Sprache erhalten. Die ersten, unverständlichen Laute der Kinder nennen wir babbeln.
Die Turmbauerzählung lebt von der harten Gegenüberstellung des Menschen zu Gott. Der Mensch ermächtigt sich, eine Unterscheidung aufzuheben, die nach Gottes Willen sein Leben bestimmen soll. Wenige Kapitel vor der Turmbauerzählung wird dies sehr eindrücklich in der Bibel beschrieben. Gott schickt die große Sintflut über die Erde, da auch hier die Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre nicht mehr wirklich geachtet wird. Gott stellt jedoch durch die Sintflut die alte Ordnung wieder her. Und der Mensch, in diesem Fall konzentriert er sich auf die Familie Noahs, muss die Strafe unten auf der Erde ertragen. Aber er überlebt nicht allein die tosenden Urfluten. Er harrt aus in einer Arche, in der sich auch alle Tiere, die gesamte Vielfalt des Lebens befinden.
Allerdings kann man das Handeln Gottes am Menschen in der Turmbaugeschichte auch ganz anders verstehen. Gott verwirrt die Sprache der Menschen, er schafft also Vielfalt und schenkt ihnen damit die Freiheit, sich fortan nicht mehr an ein einziges monumentales Bauprojekt zu binden. Durch Vielfalt möchte Gott den Menschen so aus seiner selbstgewählten Sklaverei befreien. Die Vielfalt des Wortes schafft hier also Freiheit!
Mit diesem Wissen erstrahlt die Turmbauerzählung in einem anderen Licht. Der Mensch ermächtigt sich nicht nur in seiner eifernden Eitelkeit. Er versklavt sich selbst durch das Ziel, die Unterscheidungen von oben und unten, Einheit und Vielfalt aufzuheben. Eben deshalb ist die Verwirrung der Sprache keine Strafe, sondern eine Befreiung. Gott befreit den Menschen aus seiner selbstgewählten Sklaverei.
Die Bibel vertritt damit eine klare Position. Die Sprache des Menschen kommt von Gott. Und eben diese Sprache ist immer das Mittel zur Freiheit. Und weil Sprache und Denken so eng verbunden sind, denn wir denken ja in Begriffen, ist auch unser Denken frei. Es ist genauso vielfältig wie die Vielfalt an Sprachen, die Gott gegeben hat.
Wie wird denn nun umgegangen mit dem freien Wort in unserer Zeit? Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, der denkt zwar an einen Täter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind prominent auf dieser Schreckensliste vertreten.
Warum sind die Blogger verstärkt auf dieser Schreckensliste? Das Internet ist ein schnelles Medium, in ihren Blogs rufen sie zu Demos zur Verteidigung demokratischer Rechte auf, sie zeigen mit Fotos, wie brutal Regierungen und deren Geheimdienste teilweise auf das Ausüben demokratische Rechte reagieren. So etwas haben Unterdrücker nicht gern, ihr Handeln soll sich möglichst im Verborgenen abspielen.
2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet. 19 weitere Schriftsteller wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber bei ihnen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.
Wie sieht die Verfolgung konkret aus? Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, zweifach oppositionell also, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der IS. 2014 musste er überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand. Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam er schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe »Gefangenes Wort«, schickte er einen Teil davon sofort an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen. Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein »Writers-in-Exile-Programm« aufzunehmen. Wohnungen hat der PEN in Deutschland für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für drei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei leben und vor allem arbeiten, also zu schreiben können. Acht von achthundert. Im November 2015 ist Fouad in dieses Programm aufgenommen worden.
Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das demnächst eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll, wurde dieses Glück nicht zuteil. Er hatte ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Danach saß Adschami lange im Gefängnis. Mit den Zeilen »Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie von dort nicht auch Gesetze und Freiheit« endet sein Gedicht, das ihm die Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wen er mit dem »Sie« gemeint hatte: dessen Zweitfrau nämlich, die sich auf Auslandsfahrten stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte. Ein Aufruf zum Umsturz soll es gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen, und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie ihm vermutlich wirklich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Nach vielen Protesten aus aller Welt, auch von der deutschen Regierung, wurde er dann doch freigelassen.
Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: »Das schwarze Kartell« heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert, wie hier Mafia und Regierungsstellen schamlos zusammenarbeiten. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist. »Plata o Plomo« heißt es für die Journalisten in Mexiko, die sich mit dieser Kombination anlegen, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld genommen hatte, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im »Writers-in-Exile«-Programm des PEN-Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte. Bis jetzt hat Ana Lilia ihre Rückkehr überlebt.
Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. »Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.«
Bei der Suchaktion nach Nadir haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben.
In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Es ist kaum vorstellbar, dass man diese Strafe überleben kann
Can Dündar, der Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, darf nicht mehr zurückkehren in die Türkei, wo seine Frau als Geisel gehalten wird. Der PEN hat ihm für ein Jahr eine Wohnung in Deutschland besorgt.
Im Writers-in-Exile-Programm befindet sich auch der syrische Schriftsteller Fouad, der niemanden in seine Wohnung lässt. Wir wissen, warum er das tut. Seine Frau wurde vor zehn Jahren von syrischen Soldaten abgeholt. Sie hatte getan, was auch er getan hat, nämlich in literarischen Texten das Regime angeklagt. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Fouad hat seine Wohnung zugehängt mit Bildern von ihr. Er möchte allein sein mit seiner Erinnerung, aber auch mit dem letzten Rest an Hoffnung, die er immer noch hat.
Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Und auch da bietet sich ein Bezug zur Bibel, nämlich zur Schöpfungsgeschichte, an. Gott spricht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch uns, nicht zuletzt durch uns Schriftsteller, können, wenn wir Worte aussprechen oder schreiben, Gedankenwelten entstehen, die zu neuen Realitäten führen. In Diktaturen sind das dann Gegenwelten, die die Unterdrücker ängstigen, die sie um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was Gott ihnen zu ihrer Befreiung gegeben hat.
Die Gegenwart zeigt, dass das Wort nicht frei ist in dieser Welt. Wie unglaublich oft wird es unterdrückt, weil einzelne Menschen mit ihrer eifernden Eitelkeit sich selbst ermächtigen möchten. Der Hybrisgedanke ist also nicht aus der Welt, bei einzelnen, die sich als unumstrittene Herrscher ihres Landes aufspielen möchten, ist er bestens ausgeprägt.
Vielleicht ist die Turmbauerzählung damit so etwas wie das Urbild für Unfreiheit. »Alle Welt hatte einerlei Sprache und einerlei Worte«. Man kann das auch so sehen: Alle Menschen dachten dasselbe. Dies sind vielleicht die Idealbilder für Diktaturen, fanatische Ideologien und Fundamentalismus.
Eben in diesem Sinne ist immer wieder an die Botschaft der Turmbauerzählung zu erinnern. Sie erzählt von dem Menschen, der sich selbst versklavt, der dabei die Demut verliert und erst durch die Freiheit des Wortes von Gott aus dieser Situation befreit wird. Diese Freiheit muss auch heute von den Menschen eingefordert und artikuliert werden.