1987 besuchte ich Japan, mit Jugendtourist, dem Reiseunternehmen der FDJ. Das war sechs Jahre nach Honeckers Staatsvisite im fernöstlichen Kaiserreich. Ein Vierteljahrhundert später studierte mein Jüngster in Hiroshima. Gerhard Beil, einst Außenhandelsminister der DDR und damals Honeckers Reisebegleiter, hatte ihm vor der Abreise noch einige Adressen zugesteckt. Es handelte sich um honorige Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik aus seiner aktiven Zeit. Diese Beziehungen bestanden unverändert fort, was mein Sohn an seiner freundlichen Aufnahme bemerkte. Es war zwar kein Notfall eingetreten, für den diese Anlaufstellen gedacht waren, aber er wollte Menschen kennenlernen, die einst mit der DDR intensive Beziehungen gepflegt hatten. Die üblicherweise bei Japanern anzutreffende Zurückhaltung gegenüber Fremden fand er nicht vor, es schien ihm, als habe man die früher bestehende Vertrautheit und Sympathie auf ihn übertragen. Inzwischen sind diese Menschen wie eben auch Gerhard Beil leider schon tot. Und mit ihnen verschwindet auch die Geschichte im Orkus.
Rühmenswert ist darum das Buch* des in London lebenden Journalisten Shogo Akagawa, das auf seiner Doktorarbeit fußt, die er 2018 am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin einreichte und erfolgreich verteidigte. In akribischer Kleinarbeit hat der studierte Volkswirtschaftler in verschiedenen Archiven nach Belegen gegraben und Zeugen befragt, die noch in der Lage waren, Auskunft zu geben. Sie lieferten den Hintergrund und die Fakten, die sich nicht in Protokollen, Kommuniqués und Zeitungsmeldungen finden. Eine ganz wichtige Quelle für Akagawa war Hans Modrow, der 1972 als Chef eines vierköpfigen DDR-Spähtrupps nach Tokio in Marsch gesetzt worden war. Modrow war damals nicht nur Leiter der Abteilung Agitation im Zentralkomitee, sondern auch Abgeordneter der Volkskammer. Folgerichtig wurde er wenig später auch Vorsitzender der siebzehnköpfigen parlamentarischen Freundschaftsgruppe, die sich für die Beziehungen zu Japan engagierte. Modrow blieb bis zum Ende der DDR eine Schlüsselfigur in den Beziehungen zwischen Berlin und Tokio, obgleich dies sein Platz in der politischen Hierarchie der DDR nicht hergab. Von 1973 bis Herbst 1989 war er Bezirkserster der Partei in Dresden, dann erst wurde er Ministerpräsident für fünf Monate. Am 3. Oktober 1990 war er wieder in Tokio: da allerdings bereits als Abgeordneter des Deutschen Bundestages.
Shogo Akagawa hat mit großem Sachverstand und journalistischem Gespür das organisch wachsende Beziehungsgeflecht zwischen beiden Staaten dokumentiert und in einer sehr lesbaren Sprache dargestellt. Er gliedert die Verbindungen in zwei Phasen – in jene vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen 1973 und in die danach, deren politischer Höhepunkt Honeckers Staatsbesuch 1981 war, dem ersten übrigens eines DDR-Staatsoberhauptes in einem kapitalistischen Land, zu jener Zeit des nach den USA wirtschaftlich stärksten. Die Beziehungen ruhten auf drei Säulen: Außenpolitik, Wirtschaft und Kultur. Warum das Verhältnis so reibungslos funktionierte, erläutert Akagawa sehr ausführlich und vorurteilsfrei. Dabei untersucht er kenntnisreich die innenpolitischen Entwicklungen der beiden Länder und deren politische Intentionen, die sich natürlich auch immer an Personen festmachten.
Akagawa verschweigt auch nicht, wie intrigant die Bundesrepublik jegliche Annäherung zwischen der DDR und Japan hintertrieb. Begründete Bonn in den 50er und 60er Jahren das noch mit der Hallstein-Doktrin, so gab es Ende der 70er Jahre – nach Grundlagenvertrag und KSZE-Schlussakte – diese Rechtfertigung nicht mehr. Und doch: Im Juni 1979 intervenierte BRD-Botschafter Günter Diehl im japanischen Außenministerium, dass es »Bedenken« gegen den geplanten Besuch Honeckers in Japan gebe – bevor dieser nicht westeuropäische Staaten besucht habe. Die aber luden ihn ja nicht ein. Der Verweis auf eine »europäische Lösung« befindet sich, wie wir wissen, unverändert im Arsenal der Ausreden.
In den Hochzeiten des Kalten Krieges ging man rabiat zur Sache. So hatte Bundeskanzler Adenauer im März 1960 Tokio besucht und dort im Parlament für ein deutsch-japanisches Bündnis »gegen den Kommunismus« geworben, also eine Art Antikomintern-Pakt 2.0. Bis zu den Olympischen Spielen in Tokio 1964, so Akagawa, achtete man darum »in Japan streng darauf, die Einreise von SED-Kadern zu unterbinden, und es gab nur einige wenige Fälle von DDR-Besuchen konservativer Abgeordneter und Beamter. (…) Auslandsreisen mit offiziellem Charakter in die DDR waren unerwünscht.« Oder: »Ebenso intervenierte die Bundesrepublik bei dem Versuch, Hiroshima und Dresden zu Partnerstädten zu erklären.«
Die DDR war nicht nur an intensiven Wirtschafts- und Handelsbeziehungen interessiert, sondern schätzte auch Japans Antimilitarismus und seine – bei aller Nähe zu den USA – vergleichsweise souveräne Haltung. Eine bedingungslose Nibelungentreue, wie sie in Westeuropa, insbesondere aber in der Bundesrepublik, existierte, kannte Tokio nicht.
In diesem Punkt, so meine ich, findet sich das einzige – durchaus zu vernachlässigende – Manko der beispielhaften Untersuchung. Die Außenpolitik der DDR war primär darauf gerichtet, die besten internationalen Rahmenbedingungen zur Entwicklung des Sozialismus herzustellen. Dazu gehörte, durchaus mit unterschiedlichen Rollen im östlichen Bündnis, vordringlich die Schaffung von Systemen kollektiver Sicherheit, also ganz allgemein: die Friedenssicherung. Wenn Akagawa das Handeln der DDR auf Handel und Wandel, auf ökonomischen Vorteil und das Ausnutzen der Konkurrenz kapitalistischer Staaten reduziert, greift dies zu kurz.
Es überraschte nicht, dass mit der Machtübernahme durch national-konservative Kräfte in Tokio 1982 das politische Verhältnis zwischen beiden Staaten abkühlte. »Der Antikommunismus unter dem Reagan-Nakasone-Bündnis«, überschrieb Akagawa dieses Kapitel. Shintaro Abe, damals Außenminister Japans, besuchte im Juni 1985 die DDR und warb allen Ernstes für Reagans SDI-Programm. Honecker habe »fast die Hälfte der Gesprächsdauer« dieses Ansinnen zurückgewiesen und darauf bestanden, »dass der Weltraum von Waffen frei bleiben solle«. Dennoch blieb das positive Grundverständnis bestehen, das der Parlamentsabgeordnete Yamahara am 29. Mai 1981 in die überzeugende Feststellung gekleidet hatte: »Japan ist zwar reicher als die DDR, aber bei den Sozialleistungen oder der Bildung sieht das anders aus. Vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss muss in der DDR niemand Gebühren zahlen.«
Im Januar 1987 kam Premier Nakasone für drei Tage nach Berlin. Über vier Stunden konferierte er mit Honecker »über die weltpolitische Lage«: »Während Honecker das amerikanische SDI-Programm erneut kritisierte, betonte Nakasone, wie wichtig es sei, dass die Sowjetunion sich gegenüber den USA realistisch verhalte.«
Am Ende seines fast vierhundert Seiten umfassenden, sehr erhellenden Buches artikuliert Shogo Akagawa seinen – vermutlich illusionären – Wunsch, den man nur unterschreiben kann: »Sollte es zukünftig zu einer Öffnung der BND- oder der CIA-Archive kommen, wird dies noch tiefere Einblicke in sämtliche Aspekte der Beziehungen zwischen der DDR und Japan ermöglichen. Auch wäre es wünschenswert, wenn sich jene japanischen und ostdeutschen Unternehmen, die mit der Aufarbeitung ihrer Unternehmensgeschichte nach wie vor warten, aktiv einbringen würden, um so zu einem besseren Geschichtsverständnis beizutragen.«
Doch welche ostdeutschen Unternehmen sollten das sein?
* Shogo Akagawa: Die Japanpolitik der DDR 1949 bis 1989. Peter Lang Verlag 2020, 410 S., 59,95 Euro.