Juli und August 1914. Kaum jemand nahm damals die Kriegsgefahr wirklich ernst. Wie die Schlafwandler, so der bekannte Vergleich des Historikers Christopher Clark, schlitterte man in die Katastrophe hinein. Könnte aktuell ähnlich schlafwandlerisch ein Atomkrieg entstehen, dessen Folgen die Zerstörungen der beiden Weltkriege um ein Vielfaches übersteigen?
Forscher um den Klimawissenschaftler Owen Brian Toon an der Universität von Colorado/USA veröffentlichten 2019 eine Studie über die möglichen Folgen eines eher »kleinen«, regional begrenzten nuklearen Schlagabtauschs zwischen Indien und Pakistan. Ihre Ergebnisse sind für alle jene desillusionierend, die hoffen, dass ein solches Ereignis zwar schlimm, aber letztlich zu verschmerzen wäre (siehe z. B. https://www.colorado.edu/today/nuclear-war).
Zunächst würden die meisten Menschen »nicht an den Explosionen selbst sterben, sondern an den unkontrollierten Bränden, die folgen würden«, so die Forscher. Anschließend käme es aufgrund der riesigen Massen aufgewirbelten Staubs zu einer gravierenden Störung des Weltklimas und in dessen Gefolge zu einer beispiellosen globalen Hungerkatastrophe Es bedarf nur geringer Fantasie, um sich vorzustellen, dass eine Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Verteilungskämpfe wären unvermeidlich, Epidemien und die medizinischen Folgen des Desasters würden die Menschheit ruinieren.
Doch wissen das nicht alle Verantwortlichen? Wer wäre so verrückt, es tatsächlich zum Einsatz von Nuklearwaffen kommen zu lassen? Wissenschaftler, die sich mit diesem Thema befassen, sind sich nicht so sicher, dass stets die Vernunft siegen würde. Denn aus welcher Situation heraus sich ein nuklearer Konflikt entwickeln könnte, scheint weniger aufgrund vernünftigen Nachdenkens entschieden zu werden, sondern als Folge von Handlungszwängen, ja, von Automatismen. Zunehmend übernimmt dabei die Technik eine autonome Steuerungsfunktion. Unterdessen wird diskutiert, den Schritt in den Nuklearkrieg vollkommen an Systeme der Künstlichen Intelligenz abzugeben, die menschliche Interventionen nicht mehr benötigt.
Dabei ist die gesamte atomare Abschreckungsstrategie durch die Einschränkung des menschlichen Blickfelds und damit von Handlungsoptionen charakterisiert. Gehe stets davon aus, dass der Gegner die schlechtesten Absichten hat! Auf dieser ersten Einengung der Realität beruht das ganze System. Die zweite Festlegung liegt im logisch darauf fußenden Zwang, aufzurüsten. Denn ist der Gegner grundsätzlich »böse«, so kommt es darauf an, dass meine eigene Aufrüstung die seine übertrifft. Im atomaren Zeitalter bedeutet das vor allem, dass ich selbst über eine Zweitschlagskapazität verfüge. Werde ich atomar angegriffen, so muss ich dennoch in der Lage sein, den Gegner zu vernichten. Auch diese Option ist ein Zwang, den damit befasste Akteure kaum aushebeln können. Das atomare Spiel hat seine Regeln, und wer am Spiel teilnimmt, muss sie einhalten. Wie der Publizist Leon Wieseltier einmal feststellte, handelt es sich freilich um ein seltsames Spiel. Als politisches Konzept versagt es bereits total, »wenn es zu 99, 9 Prozent erfolgreich ist«. Auch nur ein einziges Mal zu verlieren, sei es jetzt oder in hundert Jahren, führt zu einer Situation, bei der die Lebenden die Toten beneiden werden.
Wer Atomwaffen besitzt, liegt auf der Lauer. Wird eine Auseinandersetzung, an der Atommächte teilnehmen, wahrscheinlicher oder hat sie militärisch konventionell bereits begonnen, so stellt sich eine doppelte Frage: Wird der Gegner als erster Nuklearwaffen einsetzen oder sollte ich es selber tun? Denn auch sofern der Gegner zurzeit atomar friedlich bleibt, könnte es vielleicht sinnvoll sein, ihm mit einem atomaren Präventivschlag zuvorzukommen. Auch hier wieder ist der Handlungsspielraum der Akteure dramatisch eingeengt. Verhängnisvoll ist dabei der Trend der technischen Entwicklung. Fast alle ihre Innovationen im Bereich der Waffentechnik zwingen die atomaren Spieler zu raschem, geradezu plötzlichem Handeln. Mit vielfacher Schallgeschwindigkeit heranrasende Nuklearsprengköpfe verkürzen die Vorwarnzeiten so drastisch, dass Menschen letztendlich überfordert sind.
Auf diesen Tatbestand macht eine wissenschaftliche Expertengruppe aus Informatikern und Friedensforschern mit der Bezeichnung »Atomkrieg aus Versehen« (https://atomkrieg-aus-versehen.de/) aufmerksam. Die vernetzten Frühwarnsysteme sollen gegnerische Angriffe melden – aber sie können versagen und haben das schon mehrfach getan. Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen kann daher an das Verfahren launch on warning delegiert werden. Melden die Systeme einen Angriff, ist es die Technik, die innerhalb von Sekunden vorschlägt, dass ein augenblicklicher Gegenschlag erfolgen sollte, noch bevor der Angriff seine Ziele erreicht hat. »Solche Alarmmeldungen sind dann besonders gefährlich« – so der Informatiker und Spezialist für Künstliche Intelligenz Prof. Karl Hans Bläsius von der Arbeitsgruppe Atomkrieg aus Versehen –, »wenn politische Krisensituationen vorliegen, eventuell mit gegenseitigen Drohungen, oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem Fehlalarm weitere Ereignisse eintreten, die zur Alarmmeldung in Zusammenhang gesetzt werden können.« Ebenso gefährlich sei eine Situation, in der ein atomar bewaffneter Kontrahent vor einer konventionellen Niederlage steht. Auf diese Möglichkeit sei Russlands Nukleardoktrin sogar ausdrücklich ausgelegt.
Haben die Kontrahenten also den Finger am Abzug, wird der nukleare Schlagabtausch möglicherweise dann beginnen, wenn eine bestimmte Reizschwelle überschritten worden ist. Mehr oder weniger automatisch und auch im Falle eines Fehlalarms oder wenn sich einer der Akteure zu sehr in die Enge getrieben fühlt. Beides sind Situationen der Verunsicherung, die keine oder kaum noch Handlungsoptionen offenlassen. Daher hängt vieles von den Umständen ab, die aus den vorausgehenden Handlungen der Akteure entstanden sind. Wann ist die Reizschwelle erreicht, durch die sich einer von ihnen zum Ersteinsatz von Atomwaffen genötigt sieht? Das bleibt ungewiss, kann aber aus fast jeder beliebigen Aktion in diesem Spiel folgen. Dieses Austesten, wann die Reizschwelle erreicht ist, findet nach Auffassung von Bläsius zurzeit statt. Jeder kleine Einsatz von Mitteln – Waffenlieferungen, Unterstützung mit Überwachungsdaten, Sanktionen – könne eine Schwelle erreichen, die zum Einsatz von Atomwaffen führt. Auch die Wirkungen von kleinen Maßnahmen sei nicht kalkulierbar. »Für jede einzelne, noch so kleine Aktion kann gelten, dass sie Auslöser eines Einsatzes von Atomwaffen sein kann. Jeder weitere Schritt könnte einer zu viel sein.«
Hat Bläsius recht, so ist gerade die Endphase einer Auseinandersetzung, wenn der Druck speziell auf die potentiell benachteiligte Partei am höchsten ist, besonders explosiv. In derartig gefährlichen Situationen hat der Mensch psychologisch gesehen ein bewährtes Verfahren entwickelt: Er steckt den Kopf in den Sand. Seit Jahrzehnten beruhigen sich die Strategen damit, ein Nuklearkrieg könne durchaus auf eine niedrige Ebene der Eskalation begrenzt bleiben. Dazu gebe es taktische Atomwaffen und insbesondere sogenannte Mini-Nukes. Doch steht eine Atommacht kurz vor der Niederlage, oder entschließt sie sich zur weitgehenden Automatisierung ihrer Gegenreaktion durch launch on warning, ist das eher ein Grund, hart zuzuschlagen, so Bläsius. Denn in beiden Fällen ist es naheliegend, mit dem gesamten Potential zu antworten und nicht bloß zu kleckern. Nun muss der Gegner wirklich ausgeschaltet werden. Niemand kann voraussagen, was wirklich passieren wird. Unberechenbarer wird alles auch dadurch, wenn einer der Kontrahenten zu irrationalen, vielleicht pathologischen Reaktionen neigt.
Das sind, angesichts der aktuellen Nachrichtenlage, keine guten Aussichten.