Die Konsequenzen der Flutkatastrophe in Westdeutschland mit vielen Toten, Vermissten und Traumatisierten, mit Zerstörungen, die an Kriegsfolgen erinnern, lassen sich nicht mit einem vom Deutschen Städtetag geforderten, großzügig finanzierten Wiederaufbau aus der Welt schaffen. Das Wort »Jahrhunderthochwasser« klingt so, als handele es sich um ein außergewöhnliches Ereignis, dessen Zwangsläufigkeit jedoch schon lange bekannt ist: Durch die Zunahme der Temperatur erhöht sich die Meerwasserverdunstung, und der vermehrte Wasserdampf in der Luft intensiviert das Unwettergeschehen. Denn was nach oben verdunstet, kommt auch wieder runter. Dieser Mechanismus folgt einem einfachen physikalischen Gesetz – der »Clausius-Clapeyron-Gleichung« –, wonach der Sättigungsdampfdruck von Wasserdampf mit steigender Temperatur exponentiell ansteigt. An entsprechenden Warnungen, dass es deshalb vermehrt zu extremen Regenfällen kommen wird, herrscht seit Jahren kein Mangel.
Der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, konstatierte laut Süddeutscher Zeitung, die »Wassermassen haben bisher undenkbare Schäden verursacht. Unser Land erlebt eine Flutkatastrophe von historischem Ausmaß.« Bisher undenkbar waren derartige Katastrophen vielleicht für Führungskräfte und uninformierte Menschen: Bis Mitte Juli warnten Vertreter der Industrie noch vor Standortnachteilen, wenn die Forderungen der Ökologen, die Gesellschaft zur Nachhaltigkeit umzubauen, umgesetzt werden. Inzwischen ist klar: Klimaschutz ist teuer, nur eins ist noch teurer: kein Klimaschutz.
Das Wort »Wiederaufbau« kennt die deutsche Sprache aus Nachkriegszeiten, als es darum ging, das, was Bomben und Artillerie zerstört hatten, wieder aufzubauen. Aber heute geht es eben nicht mehr darum, einfach den vorherigen Zustand wiederherzustellen, heute muss viel mehr geschehen.
Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Anpassung des Lebens an die Folgen der globalen Erderwärmung eine neue Priorität wird. Aber das kann auch Augenwischerei sein, solange der Kampf gegen die immer offensichtlicheren Ursachen der Katastrophen auf der Strecke bleibt.
Der anthropogene Treibhaus-Effekt, vom AfD-Chef Meuthen noch unmittelbar nach der Katastrophe in einem ZDF-Interview geleugnet, ist die Ursache für ungewöhnliche Wetterereignisse. Waldbrände, Wassermangel und lange Trockenzeiten in vielen Teilen der Erde und andernorts massive und häufige Flutkatastrophen sind keine regionalen Ereignisse mehr. Selbst wer in Zweifel zieht, dass es eine menschengemachte Zukunftsgefährdung gibt, wäre doch gehalten, im eigenen Überlebensinteresse so lange Vorsicht walten zu lassen, bis es einhellig feststeht, ob die existenzielle Gefahr existiert oder nicht.
Große Teile der Industrie, die im globalen Konkurrenzkampf ums ökonomische Überleben stehen, bieten vermehrt smarte, technische Auswege in Richtung Nachhaltigkeit an, etwa E-Autos, Atomkraft und viele weitere als »grün« verkaufte Produkte, die letztlich ein »Weiter-so« verheißen. Dabei werden etwa die großen Risiken der Atomkraft und deren unüberschaubare Folgekosten für die Entsorgung ebenso ausgeblendet wie bei den E-Autos der Ressourcenverbrauch für Karosserie und Akku und der hohe CO2-Anteil im Prozess ihrer Herstellung. Der Anteil des Militärsektors wird gleich komplett aus der Klima-Bilanz herausgehalten. Flugreisen werden als »klimaneutral« gelabelt, etwa weil die Fluggesellschaft eine »Klimaabgabe« leistet oder in Aufforstungsprojekte investiert. Solche Verkaufsstrategie kann man nur Greenwashing nennen. Die Emissionen der globalen Luftfahrt haben sich laut EU-Parlament in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt.
Der Club of Rome-Bericht »Die Grenzen des Wachstums« von 1972 formulierte: »Wir sind (…) überzeugt, dass jeder vernünftige Versuch, einen dauerhaften Gleichgewichtszustand durch geplante Maßnahmen herbeizuführen, letztlich nur bei grundsätzlicher Änderung der Wert- und Zielvorstellungen des einzelnen, der Völker und auf Weltebene gekrönt sein wird. (…) Nur ein echtes Verständnis der Bedingungen, unter denen die Menschheit an diesem Wendepunkt der Geschichte steht, kann die notwendigen Triebkräfte freisetzen, (…) um einen Gleichgewichtszustand zu erreichen.« Mit dem Gleichgewichtszustand meinte der Club of Rome eine Balance zwischen Verbrauch von Ressourcen und deren Nachwachsen.
Der Kapitalismus hat sich als unfähig erwiesen, einen solchen Zustand herbeizuführen. Der sogenannte »Erderschöpfungstag«, das heißt der Zeitpunkt im Jahr, an dem die Menschheit so viel Ressourcen verbraucht hat, wie die Erde nachwachsen lässt, hat sich seit Veröffentlichung des Club of Rome-Berichts von Anfang Dezember auf Ende August nach vorne geschoben. Wir leben also immer stärker auf Kosten der Nachgeborenen.
Forderungen und Versprechungen, die Katastrophenfolgen zu beseitigen, bewegen sich auf der Ebene der Symptome; sie können beschwichtigen und so die eigentlich erforderlichen Umwälzungen der Lebensverhältnisse, wie sie der Club of Rome an der zitierten Stelle seines »Berichts zur Lege der Menschheit« einforderte, verhindern.
Bei der Suche nach den Ursachen ist immer auch die Frage nach dem System zu stellen, das die Menschheit in die aktuelle Lage gebracht hat. Der Psychologe Ronald Laing sprach 1967 auf dem internationalen Kongress der Studentenbewegung »Dialektik der Befreiung« in London von einer doppelten »Unwissenheit«, die das System produziere. Er meinte damit ein Unwissen über das System als Ausgangspunkt und letztlich als Ursache vieler der Probleme, denen die Menschen im Alltag ausgesetzt sind, und zugleich auch ein Unwissen über diese Unwissenheit. Diese mehrfache Blindheit entsteht, wenn die Verarbeitung von Erfahrungen auf der Oberfläche der sinnlichen Wahrnehmung steckenbleibt. Wer keinen Blick für die Zusammenhänge und Entwicklungsstadien von Prozessen des Lebens hat, der hat auch keinen Blick für diese Wahrnehmungsbeschränkung an sich selbst.
Das kapitalistische Konkurrenz- und Profitsystem mit seinem Wachstumsdogma gefährdet im begrenzten System Erde unser aller Zukunft. Deshalb müssen Reformen wie die Energiewende, der Ausbau des öffentlichen Personen- und Nah-Verkehrs, eine Bedürfnis-orientierte Konsum-Politik, ohne private Bereicherung von immer weniger Konzernen auf Kosten der Gesundheit von Mensch, Tier und Natur, auf eine Überwindung des Kapitalismus ausgerichtet werden, um wirklich nachhaltig sein zu können.
Die Perspektive auf eine Systemüberwindung wird oft mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der Realpolitik abgelehnt. Sogenannte Realpolitik nimmt den Kapitalismus hin. Das kann dazu führen, dass die Katastrophe unvermeidlich wird. Es geht deshalb darum, das als unmöglich Erscheinende anzustreben und Reformen mit dieser Perspektive zu verbinden. Andernfalls droht dem Lebensraum Erde der Kollaps.
Besonders schnell und einfach zu begründen, ist eine konsequente Friedens- und Abrüstungspolitik als Bedingung für Nachhaltigkeit. Die über 2000 Milliarden Weltrüstungsausgaben bedeuten, dass die Menschheit pro Minute circa vier Millionen US-Dollar in dem Militärsektor verbrennt. Das ist eine unverantwortliche Ressourcenvernichtung und führt darüber hinaus zu einem Ausstoß an Verbrennungsabgasen, der seinesgleichen sucht. In dieser Hinsicht werden übrigens alle Programme der Parteien, die sich um die Kanzlerschaft bewerben, den Überlebensinteressen der Menschheit nicht gerecht. Die Zukunft der Menschheit setzt voraus, dass sie eine friedliche wird.
Entsprechend wäre der Bundesetat umzuschichten: Neben deutlich mehr Steuern für jene, die mehr abzugeben haben, tritt das Erfordernis, bisher vorgesehene Militärmilliarden für Soforthilfe und den sozial gerechten, nachhaltigen Umbau der Gesellschaft zu nutzen. Es ist fatal, dass schweres Gerät der Bundeswehr als Retter beim Räumen und Sichern eingesetzt und propagandistisch verkauft wird. Dafür braucht es keine Institution, deren Kernzweck in der Zu-Verfügung-Stellung und Anwendung von Zerstörungskräften liegt. Gerät und Ressourcen für die Katastrophenhilfe gehören in die Hände von Katastrophenhelfern wie dem Technischen Hilfswerk.
Neben die vielerorts ermutigend erlebbare Solidarität und Einsatzbereitschaft muss eine weitsichtige friedensökologische Politik die Zukunft gestalten, damit die Zivilisation im vielleicht noch gegebenen Zeitfenster das rettende Ufer erreichen kann.