Im politischen Sprachgebrauch der derzeitigen deutschen Ampel-Regierung haben besonders die Begriffe »Abhängigkeit« und »Zeitenwende« Hochkonjunktur. Deutschland muss sich, so dröhnt es aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in Politikerreden im Deutschen Bundestag, aus Russlands Abhängigkeit befreien. Die Verträge mit Lieferungen von Öl, Gas, Kohle und Getreide aus Russland hätten die Bundesrepublik in ihrer außenpolitischen Beweglichkeit eingeschränkt. Bequeme Belieferungen über Pipelines aus Russland wurden gekündigt. Ministeriale Amateure unserer Ampelregierung jetten durch die Welt, um anderswo um Gas, Öl und Kohle, selbst bei »Diktatoren« und in »Autokratien«, zu betteln und teurer einzukaufen. Gleichzeitig überschlagen sie sich in Ankündigungen, dass – mutmaßlich – unser Volk und die Völker in Europa bzw. die Armen dieser Welt im kommenden Winter und auch darüber hinaus »durch Putins Krieg gegen die Ukraine« mit Preissteigerungen und Einsparungen aller Art zu rechnen hätten. In der Ära Merkel wären mit Russland falsche Verträge abgeschlossen worden – die jetzt den Kanzler stellende SPD hatte unter Merkel meist Außen- und Finanzministerium in ihrer Hand. Wahrlich eine »Zeitenwende«!
Dieses monotone Geschwafel und die zum Teil emotional übersteigerten, penetranten Hasstiraden gegen Russland und seinen Präsidenten, z. B. durch Herrn Merz (CDU) und die von historischem Wissen weitgehend ungetrübte Außenministerin Baerbock (B‘90/Grüne) – die »Russland ruinieren« will –, müssten eigentlich das Volk aufrütteln. Es muss die Regierung zwingen, in der Außenpolitik endlich deutsche Interessen zu vertreten und nicht die der USA. Die Beendigung der seit 1949 bestehenden Vormundschaft der USA wäre eine echte »Zeitenwende« in der deutschen Außenpolitik.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine – dessen Vorgeschichte und Hintergründe bundesdeutsche Medien kaum interessieren – ist unstrittig völkerrechtswidrig, aber nicht der wirkliche Grund für den mit »Strafpaketen« gespickten, anmaßenden wirtschaftspolitischen Kreuzzug von USA und Nato gegen Russland. Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind bereits Krieg, Wirtschaftskrieg, noch dazu, wenn zeitgleich eine gigantische deutsche militärische Aufrüstung betrieben wird. Gegen wen ist sie gerichtet, und wer sind die Nutznießer? Zeitenwende hin zum Krieg?
Wenn Russlands Präsident Putin wegen des Einmarsches in die Ukraine als Kriegsverbrecher denunziert wird, dann hätten vor ihm einige USA-Präsidenten und Chefs europäischer Nato-Staaten wegen von ihnen zu verantwortender Kriegsverbrechen in Vietnam, gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien – um nur einige Beispiele zu nennen – schon längst vor Gericht gestellt und verurteilt werden müssen. USA und Nato feierten sich auf dem G-7-Gipfel Ende Juni 2022 in Bayern als Schöpfer einer neuen Friedensordnung für Europa, ohne Russland und unter Führung Deutschlands. Alle waren sichtlich erhaben über ihre offen demonstrierte politische Doppelmoral.
Russland ist der größte Staat in Europa und in der Welt. Verträge Deutschlands mit Russland beruhten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vorteils, wie es bei gleichberechtigten Staaten die Regel ist und in der Schlussakte der KSZE von 1975 zwischen den Teilnehmerstaaten festgeschrieben war. Beide Seiten haben sich bewusst in »Abhängigkeit« voneinander begeben, weil die globalen Probleme Klima, Energie, Weltarmut u. a. nur multilateral zu lösen sind, weil man sich vertrauen konnte und diese Abkommen über Jahrzehnte zuverlässig eingehalten worden sind. Im Unterschied dazu fordert die gegenwärtige USA-Regierung mit ihren Weltmachtallüren von ihren Bündnispartnern in der Nato, bestehende günstige Verträge mit Russland zu kündigen, d. h. vertragsbrüchig zu werden, und gegen ungünstigere und teurere Abkommen einzutauschen, betr. Gas und Öl mit den USA. Und die Bundesregierung unter Olaf Scholz springt. Wer solche Freunde hat, der braucht keine Feinde.
Das alles gewinnt noch dadurch an Pikanterie, dass der welterfahrene Politprofi Henry Kissinger auf dem Wintergipfeltreffen 2022 in Davos den gleichen Politikern aus Nato und EU beschwörend erklärt hat, dass ihre Politik gegen Russland absolut falsch sei. Kissinger ist wahrlich kein Putin-Versteher, sondern ein Antikommunist der übelsten Sorte. Sein notorischer Antikommunismus vernebelt aber nicht seine analytischen Fähigkeiten, die er als USA-Außenminister stets im Interesse der USA einsetzte. Kissinger verstand und versteht sich als ein Patriot seines Landes, der auch vor Verbrechen nicht zurückgeschreckt ist, wenn es für die USA nützlich war (z. B. die Ermordung Allendes in Chile).
In Davos 2022 erklärte Kissinger nun, der Ukraine-Krieg muss schnellstens durch Verhandlungen beendet werden, »bevor es zu Verwerfungen und Spannungen kommt, die nicht leicht zu überwinden sind. (…) Den Krieg (…) fortzusetzen, würde nicht die Freiheit der Ukraine betreffen, sondern einen neuen Krieg gegen Russland selbst bedeuten.« Weder Schweden, Napoleon, vierzehn kapitalistische Staaten, die von 1918 bis 1922 Sowjetrussland überfallen hatten, und schon gar nicht Hitlerdeutschland haben ihre Kriege gegen Russland gewonnen. Für Kissinger gehört zum Handwerkszeug jeder Diplomatie, vor Vertragsabschluss die Interessen des Gegenübers zu beachten und zu den eigenen Interessen ins Verhältnis zu setzen. Russlands Interesse auf Sicherheit hält Kissinger für vollauf berechtigt. Die jetzige falsche Russlandpolitik der USA und Nato treibt Russland, so Kissinger, »in die Arme Chinas« – China ist für die USA Konkurrent Nummer eins – was China stärken und die USA schwächen würde. Der Nato-Gipfel vom 28./29. Juni 2022 bezeichnete »Russland als größte Bedrohung der Nato« und damit de facto des Friedens und »China als die größte Herausforderung« in der Gegenwart und Zukunft. Kissingers Warnung wurden von der Nato und Präsident Selenskyj selbstherrlich ignoriert, Selenskyj forderte sogar den Ausschluss Russlands aus der UNO. (Angemerkt sei, ich habe weder in deutschen TV-Nachrichtensendungen noch anderen offiziellen Medien Informationen über Kissingers Rede gefunden.)
Friedrich Merz, dieser Zögling des USA-Finanzwesens und gegenwärtig CDU-Vorsitzender, forderte am 1. Juni 2022 im Deutschen Bundestag, die deutsche Politik gegenüber Indien, China u. a. Staaten zu überprüfen, weil sie der Verurteilung Russlands nicht zugestimmt haben. In diesem Atemzug monierte er, dass Klaus von Dohnanyi, ein angesehener, eigenständig denkender Demokrat mit antifaschistischen Traditionen im familiären Hintergrund, in öffentlichen Diskussionen »Putin verteidigt« hätte. Mainstream kommt vor Meinungsfreiheit!
Wie borniert müssen Politiker und Medienbosse sein, die Putin als vertragsbrüchig beschimpfen, weil er Gas- bzw. Öllieferungen kürzt? Offensichtlich wird vergessen, dass die Embargopolitik des Westens vorausgegangen ist, an deren Beteiligung andere Staaten de facto genötigt worden sind, ebenfalls vertragsbrüchig zu werden. Die russische Regierung hält dagegen. Durch diese Vertragsbrüche wird Russland in Zukunft auf keine Abhängigkeit zu Nato- und EU-Staaten eingehen. Die Embargopolitik des Westens strangulierte auch den Handel zwischen den KSZE-Staaten.
Die von Herrn Merz hochgepriesene »Charta von Paris« 1991 war keine Weiterentwicklung der KSZE, sondern ihre Demontage. Die westlichen Nato-Staaten bestimmten nun in Fragen über Frieden und Sicherheit in Europa, nicht mehr die KSZE. Die Wirtschaftspolitik wurde von der EU dominiert. Der Teil Kulturelle Beziehungen der Schlussakte von Helsinki 1975 wurde zum Kern der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit). Die OSZE beschäftigt sich mit der Verbreitung westlicher Demokratievorstellungen und Wahlbeobachtungen. Ende 1992 wurde in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Bundeswehr« erstmalig seit 1949 festgehalten, dass zu ihren Aufgaben auch Freihaltung und Schutz der Handelswege zu Rohstoffen gehören. Noch im 20. Jahrhundert führte die Nato Krieg gegen Jugoslawien, ein Mitglied von KSZE und OSZE.
Wer im Krieg Russlands gegen die Ukraine den Beginn einer »Zeitenwende« sieht, der übersieht, dass seit 1990 die mühsam erarbeitete erste europäische Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die KSZE, zu Fall gebracht worden ist, primär von den USA und der Regierung Helmut Kohl. Da Bundespräsident Steinmeier am 3. Juli 2022 vom »Epochenbruch« gesprochen hat, wäre daran zu erinnern, dass deutsche »Epochebestimmungen« meist Wunschdenken mit Selbstüberschätzungen waren. Ein »Bruch« im Nachkriegsverlauf ist 1990/1991 eingetreten. Seine Merkmale waren Eingliederung der DDR in die BRD, die Selbstauflösung der Sowjetunion und des Militärbündnisses Warschauer Vertrag und die Unterwerfung der KSZE durch Nato und EU. Das im Kalten Krieg entstandene Kräfteverhältnis zwischen Ost und West gab es nicht mehr. Die Nato – 1948 als westlicher Militärblock gegen Russland gegründet – weitete ihren Einfluss nach Osten bis an die Grenzen Russlands aus und missachtete die Sicherheitsinteressen Russlands. Es entstand ein gewaltbereites System von Unsicherheiten und Abhängigkeiten. Das Säbelgerassel amerikanischer, deutscher, ukrainischer und anderer heldensüchtiger militanter Großmäuler spitzt die internationale Lage weiter zu. Bundeskanzler Olaf Scholz fürchtet wegen der mit Kriegsunterstützung von Nato und EU in der Ukraine verbundenen Inflation in Deutschland und Europa soziale Erhebungen. Diese Sorge ist berechtigt.