Idar-Oberstein ist eine Stadt in Rheinland-Pfalz mit rund 30 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, am Oberlauf der Nahe und am Rande des Nationalparks Hunsrück-Hochwald gelegen. Überregional, ja, sogar international ist der Ort bekannt als Schmuck- und Edelsteinstadt, wenn auch die Hoch-Zeit der Schleifer und Goldschmiede längst vorbei ist. (Langjährige Ossietzky-Leserinnen und -Leser erinnern sich vielleicht an eine Reportage von Eckart Spoo über eine touristische Rundreise durch deutsche Lande, in der er sich darüber wunderte, dass der Idarbach, ein linker Zufluss der Nahe, von dem Stadtteil Tiefenstein nach Oberstein fließt.)
Seit dem 18. September dieses Jahres, einem Samstag, ist Idar-Oberstein überregional, ja, sogar international bekannt wegen einer Tat mit Signalwirkung: dem ersten Corona-Mord in Deutschland. Er geschah in einer Tankstelle. Das Opfer: ein 20-jähriger Student, der dort jobbte. Der Täter: ein 49-jähriger Mann aus der Stadt. Eineinhalb Stunden vor der Tat war dieser von dem Tankstellenmitarbeiter aufgefordert worden, in der Tankstelle einen Mund-Nasenschutz zu tragen. Er hatte daraufhin die Tankstelle verlassen, war dann aber nach 100 Minuten, um 21.25 Uhr, zurückgekommen und hatte, sobald die anderen Kunden gegangen waren, einen großkalibrigen Colt aus seiner Hosentasche gezogen und den Studenten erschossen. Nachdem die Polizei die Überwachungskameras ausgewertet hatte, konnte sie noch in der Nacht mit einem Foto nach dem Täter fahnden. Dieser stellte sich am nächsten Morgen. Im Verhör sagte er nach übereinstimmenden Presseberichten aus, dass er die Corona-Schutzmaßnahmen ablehne und den Kassierer aus Ärger darüber erschossen habe, weil dieser ihn zurechtgewiesen habe.
Der Mord schreckte die Zivilgesellschaft so sehr auf, dass Tina Hassel, die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin, fünf Tage später als Co-Moderatorin alles andere hintanstellte und die Schlussrunde der Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl mit der Frage eröffnete: »Experten haben ja schon lange gewarnt, dass es nur noch ‘ne Frage der Zeit ist, wann aus hasserfüllten Botschaften sozusagen eine Tat folgt: Haben Sie, haben wir alle diese Szene zu lange unterschätzt?«
Ja, hätte Andreas Speit, freier Mitarbeiter der taz sowie von Deutschlandfunk Kultur und WDR, geantwortet, wäre er Teilnehmer der Runde gewesen. Seit Jahren veröffentlicht er Bücher zum Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, 2020 z.B. »Rechte Egoshooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat«. Erst im Juni hatte Speit, Stammautor des Ch. Links Verlags, der seit dem Sommer zu den Aufbau Verlagen gehört, sein neuestes Buch »Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder alternativer Milieus« vorgelegt.
In ihm setzt er sich mit den Allianzen zwischen den sogenannten Querdenkern, Rechtsextremismus und alternativen Milieus auseinander und beschreibt, »wie tief die historischen Kontinuitäten autoritärer Denkweisen gehen und warum das Problem nicht auf den Marktplätzen der Querdenker-Demos endet, sondern weit in bürgerliche Kreise hineinragt«.
Sein Ziel: aufzuzeigen, »dass in alternativen Milieus Werte und Vorstellungen kursieren, die alles andere als progressiv oder emanzipatorisch sind«. Seine Beobachtung: Bei den Demonstrationen der sogenannten Querdenker und bei den Corona-Protesten »laufen Impfgegnerinnen und Impfgegner neben QAnon-Anhängerinnen und -Anhängern, Esoterikerinnen und Esoterikern, die Peace-Fahne flattert neben der Reichsflagge«.
Dieses Miteinander komme jedoch nicht zufällig zustande. »Wer sich für den Schutz von Natur und Tieren einsetzt, vegane Ernährung und Alternativmedizin bevorzugt, seine Kinder auf Waldorfschulen schickt oder nach spiritueller Erfüllung sucht, muss nicht frei von rechtem Gedankengut und Verschwörungsfantasien sein.« Immer häufiger vermenge sich eine latente Sehnsucht nach Spiritualität mit Verschwörungsnarrativen, »die dadurch Glaubenscharakter bekommen«. Verschwörung und Wahn, Irrationalismus und Panik hätten verschiedene Spektren der alternativen Mitte erfasst. Seit rund einem Jahr befänden sich Querdenker/innen und Coronaleugner/innen »in einem Prozess der Selbstradikalisierung«. Wovon u. a. falsche Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht und gefälschte Impfpässe, jeweils ausgestellt von Ärzten aus mehreren Bundesländern, sowie Brand- und Schmiererei-Anschläge zeugten. Und jetzt der Mord, darf aktuell ergänzt werden.
Informativ und lesenswert.
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Von einer anderen Seite nähern sich Harald Lesch, der seit vielen Jahren der Öffentlichkeit populärwissenschaftliches Wissen vermittelt, z. B. in der ZDF-Reihe »Leschs Kosmos«, sowie der Publizist und Dokumentarfilmer Klaus Kamphausen der Thematik. »Denkt mit! Wie uns Wissenschaft in Krisenzeiten helfen kann« lautet der Titel ihres Buches – eine Aufforderung zur rechten Zeit, da der Abschied vom rationalen Denken Zulauf gefunden hat.
Als Motto haben sie für ihre Schrift ein Zitat aus dem Werk eines der bekanntesten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit gewählt: von Isaac Asimov (1920-1992), ein Aufklärer wie sie. Zwar hat Asimov Weltliteratur geschrieben, dennoch ist sein Name in keinem gängigen Literaturlexikon zu finden, weder, zum Beispiel, im dickleibigen Literatur-Brockhaus noch im dreibändigen Metzler-Lexikon: purer Hochmut der Hochkultur. Berühmt haben ihn schon vor rund 80 Jahren die von ihm in einer Erzählung aufgestellten »Grundregeln des Roboterdienstes« gemacht. Diese drei Roboter-Gesetze – nachzulesen immerhin bei Wikipedia – sind bis heute Gemeingut der SF und haben die Auffassung geprägt, was und wie ein Roboter sein soll. Wie einflussreich Asimovs Wirken ist, zeigt sich aktuell in diesem Herbst: Das Streaming-Portal Apple TV+ hat gerade seine »Foundation-Trilogie« als TV-Serie adaptiert.
Von Haus aus Biochemiker, hat Asimov auch diverse Sachbücher veröffentlicht, zum Beispiel über die Welt der Elementarteilchen, und dabei komplexe Sachverhalte ebenso verständlich wie spannend dargestellt. In einem dieser Bücher fanden Lesch und Kamphausen ihr Motto: »Eine Öffentlichkeit, die nicht versteht, wie Wissenschaft funktioniert, kann allzu schnell den Unwissenden und Blendern verfallen, die sich über das lustig machen, was sie nicht verstehen, oder den Demagogen, die Wissenschaftler als die Söldner unserer Tage bezeichnen. Der Unterschied zwischen Verstehen und Unverständnis gleicht dem Unterschied zwischen Respekt und Bewunderung auf der einen Seite und Hass und Angst auf der anderen.«
Coronapandemie, Klimakrise. Die Gegenwart ist unübersichtlich, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind enorm. Die Verunsicherung wächst. Vielschichtige Probleme allüberall, für deren Lösung, so die beiden Autoren, die Naturwissenschaften gefragt sind. »Doch gerade sie stehen neuerdings in der Kritik. Von Anmaßung und Ideologie ist die Rede.« Lesch und Kamphausen legen mit ihrer Schrift dar, wie Wissenschaften arbeiten, worin ihre Kompetenzen liegen und wo ihre Grenzen: »Nur so können wir Missverständnisse und Vorurteile vermeiden.«
Warnung: Dieses Buch impft Sie. Mit Wissen.
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Wer noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, sollte die Homepage der Universität Münster aufrufen und dort das Dossier »Religion und Verschwörungstheorien in Zeiten der Corona-Epidemie« lesen. Wie in den beiden hier vorgestellten Büchern werden auch hier Verschwörungstheorien in Konkurrenz zu Religion und Wissenschaft behandelt. Die aufrufbaren fünf Vorlesungen beschäftigen sich u. a. mit Verschwörungstheorien als Erzählungen, denen eine geheime Agenda zugrunde liegt, scheinbar Ereignisse oder Zustände erklärend, sowie mit Verschwörungstheorien als Elitenkritik – dies vor dem Hintergrund, das Verschwörungstheoretiker behaupten, politische und gesellschaftliche Eliten würden die Pandemie dazu nutzen, um geheime, schon von langer Hand geplante Ziele in die Tat umzusetzen.
Kurzes Postskriptum: In der Universitätsstadt Münster hat die AfD, wie auch in Köln, mit gerade einmal 2,9 Prozent bei der Bundestagswahl ihr schlechtestes Ergebnis eingefahren.
Andreas Speit, Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus, Ch. Links Verlag, 239 S., 18 €.
Harald Lesch, Klaus Kamphausen, Denkt mit! Wie uns Wissenschaft in Krisenzeiten helfen kann, Penguin Verlag, 128 S., 14 €.
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Exzellenzcluster »Religion & Politik«, www.uni-muenster.de.