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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutsche Zustände

Idar-Ober­stein ist eine Stadt in Rhein­land-Pfalz mit rund 30 000 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern, am Ober­lauf der Nahe und am Ran­de des Natio­nal­parks Huns­rück-Hoch­wald gele­gen. Über­re­gio­nal, ja, sogar inter­na­tio­nal ist der Ort bekannt als Schmuck- und Edel­stein­stadt, wenn auch die Hoch-Zeit der Schlei­fer und Gold­schmie­de längst vor­bei ist. (Lang­jäh­ri­ge Ossietzky-Lese­rin­nen und -Leser erin­nern sich viel­leicht an eine Repor­ta­ge von Eck­art Spoo über eine tou­ri­sti­sche Rund­rei­se durch deut­sche Lan­de, in der er sich dar­über wun­der­te, dass der Idar­bach, ein lin­ker Zufluss der Nahe, von dem Stadt­teil Tie­fenstein nach Oberstein fließt.)

Seit dem 18. Sep­tem­ber die­ses Jah­res, einem Sams­tag, ist Idar-Ober­stein über­re­gio­nal, ja, sogar inter­na­tio­nal bekannt wegen einer Tat mit Signal­wir­kung: dem ersten Coro­na-Mord in Deutsch­land. Er geschah in einer Tank­stel­le. Das Opfer: ein 20-jäh­ri­ger Stu­dent, der dort jobb­te. Der Täter: ein 49-jäh­ri­ger Mann aus der Stadt. Ein­ein­halb Stun­den vor der Tat war die­ser von dem Tank­stel­len­mit­ar­bei­ter auf­ge­for­dert wor­den, in der Tank­stel­le einen Mund-Nasen­schutz zu tra­gen. Er hat­te dar­auf­hin die Tank­stel­le ver­las­sen, war dann aber nach 100 Minu­ten, um 21.25 Uhr, zurück­ge­kom­men und hat­te, sobald die ande­ren Kun­den gegan­gen waren, einen groß­ka­li­bri­gen Colt aus sei­ner Hosen­ta­sche gezo­gen und den Stu­den­ten erschos­sen. Nach­dem die Poli­zei die Über­wa­chungs­ka­me­ras aus­ge­wer­tet hat­te, konn­te sie noch in der Nacht mit einem Foto nach dem Täter fahn­den. Die­ser stell­te sich am näch­sten Mor­gen. Im Ver­hör sag­te er nach über­ein­stim­men­den Pres­se­be­rich­ten aus, dass er die Coro­na-Schutz­maß­nah­men ableh­ne und den Kas­sie­rer aus Ärger dar­über erschos­sen habe, weil die­ser ihn zurecht­ge­wie­sen habe.

Der Mord schreck­te die Zivil­ge­sell­schaft so sehr auf, dass Tina Has­sel, die Lei­te­rin des ARD-Haupt­stadt­stu­di­os in Ber­lin, fünf Tage spä­ter als Co-Mode­ra­to­rin alles ande­re hint­an­stell­te und die Schluss­run­de der Spit­zen­kan­di­da­ten zur Bun­des­tags­wahl mit der Fra­ge eröff­ne­te: »Exper­ten haben ja schon lan­ge gewarnt, dass es nur noch ‘ne Fra­ge der Zeit ist, wann aus hass­erfüll­ten Bot­schaf­ten sozu­sa­gen eine Tat folgt: Haben Sie, haben wir alle die­se Sze­ne zu lan­ge unterschätzt?«

Ja, hät­te Andre­as Speit, frei­er Mit­ar­bei­ter der taz sowie von Deutsch­land­funk Kul­tur und WDR, geant­wor­tet, wäre er Teil­neh­mer der Run­de gewe­sen. Seit Jah­ren ver­öf­fent­licht er Bücher zum The­ma Rechts­extre­mis­mus und Rechts­po­pu­lis­mus, 2020 z.B. »Rech­te Ego­shoo­ter. Von der vir­tu­el­len Het­ze zum Live­stream-Atten­tat«. Erst im Juni hat­te Speit, Stamm­au­tor des Ch. Links Ver­lags, der seit dem Som­mer zu den Auf­bau Ver­la­gen gehört, sein neue­stes Buch »Ver­que­res Den­ken – Gefähr­li­che Welt­bil­der alter­na­ti­ver Milieus« vorgelegt.

In ihm setzt er sich mit den Alli­an­zen zwi­schen den soge­nann­ten Quer­den­kern, Rechts­extre­mis­mus und alter­na­ti­ven Milieus aus­ein­an­der und beschreibt, »wie tief die histo­ri­schen Kon­ti­nui­tä­ten auto­ri­tä­rer Denk­wei­sen gehen und war­um das Pro­blem nicht auf den Markt­plät­zen der Quer­den­ker-Demos endet, son­dern weit in bür­ger­li­che Krei­se hineinragt«.

Sein Ziel: auf­zu­zei­gen, »dass in alter­na­ti­ven Milieus Wer­te und Vor­stel­lun­gen kur­sie­ren, die alles ande­re als pro­gres­siv oder eman­zi­pa­to­risch sind«. Sei­ne Beob­ach­tung: Bei den Demon­stra­tio­nen der soge­nann­ten Quer­den­ker und bei den Coro­na-Pro­te­sten »lau­fen Impf­geg­ne­rin­nen und Impf­geg­ner neben QAnon-Anhän­ge­rin­nen und -Anhän­gern, Eso­te­ri­ke­rin­nen und Eso­te­ri­kern, die Peace-Fah­ne flat­tert neben der Reichsflagge«.

Die­ses Mit­ein­an­der kom­me jedoch nicht zufäl­lig zustan­de. »Wer sich für den Schutz von Natur und Tie­ren ein­setzt, vega­ne Ernäh­rung und Alter­na­tiv­me­di­zin bevor­zugt, sei­ne Kin­der auf Wal­dorf­schu­len schickt oder nach spi­ri­tu­el­ler Erfül­lung sucht, muss nicht frei von rech­tem Gedan­ken­gut und Ver­schwö­rungs­fan­ta­sien sein.« Immer häu­fi­ger ver­men­ge sich eine laten­te Sehn­sucht nach Spi­ri­tua­li­tät mit Ver­schwö­rungs­nar­ra­ti­ven, »die dadurch Glau­bens­cha­rak­ter bekom­men«. Ver­schwö­rung und Wahn, Irra­tio­na­lis­mus und Panik hät­ten ver­schie­de­ne Spek­tren der alter­na­ti­ven Mit­te erfasst. Seit rund einem Jahr befän­den sich Querdenker/​innen und Coronaleugner/​innen »in einem Pro­zess der Selbstra­di­ka­li­sie­rung«. Wovon u. a. fal­sche Atte­ste zur Befrei­ung von der Mas­ken­pflicht und gefälsch­te Impf­päs­se, jeweils aus­ge­stellt von Ärz­ten aus meh­re­ren Bun­des­län­dern, sowie Brand- und Schmie­re­rei-Anschlä­ge zeug­ten. Und jetzt der Mord, darf aktu­ell ergänzt werden.

Infor­ma­tiv und lesenswert.

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Von einer ande­ren Sei­te nähern sich Harald Lesch, der seit vie­len Jah­ren der Öffent­lich­keit popu­lär­wis­sen­schaft­li­ches Wis­sen ver­mit­telt, z. B. in der ZDF-Rei­he »Leschs Kos­mos«, sowie der Publi­zist und Doku­men­tar­fil­mer Klaus Kamphausen der The­ma­tik. »Denkt mit! Wie uns Wis­sen­schaft in Kri­sen­zei­ten hel­fen kann« lau­tet der Titel ihres Buches – eine Auf­for­de­rung zur rech­ten Zeit, da der Abschied vom ratio­na­len Den­ken Zulauf gefun­den hat.

Als Mot­to haben sie für ihre Schrift ein Zitat aus dem Werk eines der bekann­te­sten Sci­ence-Fic­tion-Schrift­stel­ler sei­ner Zeit gewählt: von Isaac Asi­mov (1920-1992), ein Auf­klä­rer wie sie. Zwar hat Asi­mov Welt­li­te­ra­tur geschrie­ben, den­noch ist sein Name in kei­nem gän­gi­gen Lite­ra­tur­le­xi­kon zu fin­den, weder, zum Bei­spiel, im dick­lei­bi­gen Lite­ra­tur-Brock­haus noch im drei­bän­di­gen Metz­ler-Lexi­kon: purer Hoch­mut der Hoch­kul­tur. Berühmt haben ihn schon vor rund 80 Jah­ren die von ihm in einer Erzäh­lung auf­ge­stell­ten »Grund­re­geln des Robo­ter­dien­stes« gemacht. Die­se drei Robo­ter-Geset­ze – nach­zu­le­sen immer­hin bei Wiki­pe­dia – sind bis heu­te Gemein­gut der SF und haben die Auf­fas­sung geprägt, was und wie ein Robo­ter sein soll. Wie ein­fluss­reich Asi­movs Wir­ken ist, zeigt sich aktu­ell in die­sem Herbst: Das Strea­ming-Por­tal Apple TV+ hat gera­de sei­ne »Foun­da­ti­on-Tri­lo­gie« als TV-Serie adaptiert.

Von Haus aus Bio­che­mi­ker, hat Asi­mov auch diver­se Sach­bü­cher ver­öf­fent­licht, zum Bei­spiel über die Welt der Ele­men­tar­teil­chen, und dabei kom­ple­xe Sach­ver­hal­te eben­so ver­ständ­lich wie span­nend dar­ge­stellt. In einem die­ser Bücher fan­den Lesch und Kamphausen ihr Mot­to: »Eine Öffent­lich­keit, die nicht ver­steht, wie Wis­sen­schaft funk­tio­niert, kann all­zu schnell den Unwis­sen­den und Blen­dern ver­fal­len, die sich über das lustig machen, was sie nicht ver­ste­hen, oder den Dem­ago­gen, die Wis­sen­schaft­ler als die Söld­ner unse­rer Tage bezeich­nen. Der Unter­schied zwi­schen Ver­ste­hen und Unver­ständ­nis gleicht dem Unter­schied zwi­schen Respekt und Bewun­de­rung auf der einen Sei­te und Hass und Angst auf der anderen.«

Coro­na­pan­de­mie, Kli­ma­kri­se. Die Gegen­wart ist unüber­sicht­lich, die Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts sind enorm. Die Ver­un­si­che­rung wächst. Viel­schich­ti­ge Pro­ble­me all­über­all, für deren Lösung, so die bei­den Autoren, die Natur­wis­sen­schaf­ten gefragt sind. »Doch gera­de sie ste­hen neu­er­dings in der Kri­tik. Von Anma­ßung und Ideo­lo­gie ist die Rede.« Lesch und Kamphausen legen mit ihrer Schrift dar, wie Wis­sen­schaf­ten arbei­ten, wor­in ihre Kom­pe­ten­zen lie­gen und wo ihre Gren­zen: »Nur so kön­nen wir Miss­ver­ständ­nis­se und Vor­ur­tei­le vermeiden.«

War­nung: Die­ses Buch impft Sie. Mit Wissen.

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Wer noch tie­fer in die Mate­rie ein­stei­gen möch­te, soll­te die Home­page der Uni­ver­si­tät Mün­ster auf­ru­fen und dort das Dos­sier »Reli­gi­on und Ver­schwö­rungs­theo­rien in Zei­ten der Coro­na-Epi­de­mie« lesen. Wie in den bei­den hier vor­ge­stell­ten Büchern wer­den auch hier Ver­schwö­rungs­theo­rien in Kon­kur­renz zu Reli­gi­on und Wis­sen­schaft behan­delt. Die auf­ruf­ba­ren fünf Vor­le­sun­gen beschäf­ti­gen sich u. a. mit Ver­schwö­rungs­theo­rien als Erzäh­lun­gen, denen eine gehei­me Agen­da zugrun­de liegt, schein­bar Ereig­nis­se oder Zustän­de erklä­rend, sowie mit Ver­schwö­rungs­theo­rien als Eli­ten­kri­tik – dies vor dem Hin­ter­grund, das Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker behaup­ten, poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Eli­ten wür­den die Pan­de­mie dazu nut­zen, um gehei­me, schon von lan­ger Hand geplan­te Zie­le in die Tat umzusetzen.

Kur­zes Post­skrip­tum: In der Uni­ver­si­täts­stadt Mün­ster hat die AfD, wie auch in Köln, mit gera­de ein­mal 2,9 Pro­zent bei der Bun­des­tags­wahl ihr schlech­te­stes Ergeb­nis eingefahren.

Andre­as Speit, Ver­que­res Den­ken – Gefähr­li­che Welt­bil­der in alter­na­ti­ven Milieus, Ch. Links Ver­lag, 239 S., 18 .

Harald Lesch, Klaus Kamphausen, Denkt mit! Wie uns Wis­sen­schaft in Kri­sen­zei­ten hel­fen kann, Pen­gu­in Ver­lag, 128 S., 14 .

West­fä­li­sche Wil­helms-Uni­ver­si­tät Mün­ster, Exzel­lenz­clu­ster »Reli­gi­on & Poli­tik«, www.uni-muenster.de.