Die Feierlichkeiten und Rückblicke aus Anlass des 30. Jahrestages der deutschen sogenannten Vereinigung sind verebbt. Wie nunmehr schon seit drei Jahrzehnten hat das Ereignis die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wohl nicht erreicht. Zumal der offizielle Feiertag auf einen ohnehin arbeitsfreien Samstag fiel. In Presse, Funk und Fernsehen wurde dem Anlass des begrenzten Jubelns hingegen wie in jedem Jahr große Aufmerksamkeit gewidmet.
Und doch war es dieses Mal etwas anders. Der Fokus lag in bislang unbekanntem Ausmaß auf den Befindlichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung. Ach ja, diese aus der »Schockstarre« – wie es Steffen Mau, Soziologie-Professor an der Humboldt-Universität, nennt – erwachenden Beigetretenen gibt es ja auch noch! Selbst damals am Übergabe- beziehungsweise Übernahmeprozess beteiligte Politiker geben zu, dass ihr Handeln Probleme im Osten hervorgebracht hat, deren Ausmaß sie angeblich bislang nicht erahnt, schon gar nicht etwas davon gewusst haben. Eine erneute Wende scheint eingesetzt zu haben. Nur dieses Mal im Denken einiger Westpolitiker und so mancher Journalisten. Sogar der heutige Bundestagspräsident, der seinerzeit den Einigungsvertrag quasi mit sich selbst aushandelte und der noch vor kurzer Zeit meinte, dass die Ossis zufrieden sein müssten mit der Vereinigung, so wie sie gelaufen ist, denn er habe vor dem Fall der Mauer im Osten nur blasse Menschen gesehen, gab jetzt in einem Interview mit dem Tagesspiegel zu: »Das nächste Mal machen wir es besser.« Ob er damit gemeint hat, dass eine Herauslösung der ostdeutschen Bundesländer aus dem Republiksverband besser organisiert sein wird? Oder hat er weitere benachbarte Staaten oder Staatenteile, die vereinigt werden möchten, im Blick? Auch im Sarkasmus befindet sich immer ein Körnchen von Wahrheit.
Medialer historischer Rückblick
Wie jedes Jahr waren die Fernsehprogramme zur Zeit des verordneten Jubilariums voll von Dokumentationen und Spielfilmen zu Themen aus der DDR-Geschichte. Über die Qualität muss man nicht unbedingt streiten. Vielleicht werden die diesjährigen nachdenklicheren Töne in Bezug auf die Realität der staatlichen Vereinigung auch auf diesem Sektor jenseits der medial offerierten Ostalgie und die ohnehin von einigen Zeithistorikern und Soziologen inzwischen geforderte Revision der Bewertung der DDR-Geschichte entsprechende Reaktionen hervorrufen.
Ein abendfüllender Fernsehfilm am 3. Oktober fiel aus den vielen DDR-Geschichts-Rückschauen heraus: »Der Baader Meinhof Komplex« unter der Regie von Uli Edel aus dem Jahre 2008. Wie schon aus dem Titel hervorgeht, geht es hierin um ein Kapitel westdeutscher Geschichte, nämlich um die terroristischen Aktivitäten der Roten Armee Fraktion (RAF), aber auch um die politischen Hintergründe, die dazu führen konnten. Auf einen Aspekt, auf den im Film nicht eingegangen wurde, der jedoch mich als Afrikahistoriker interessiert, sei hier verwiesen.
Ein unbekanntes Kapitel deutsch-deutscher Zusammenarbeit
Bekannt ist, dass in kaum noch zu überblickendem Umfang Literatur produziert wurde, in der der DDR Unterstützung des internationalen Terrorismus vorgeworfen wird, oft exemplifiziert an der Unterstützung der RAF-Aussteiger in der DDR. Inzwischen darf vorausgesetzt werden, dass die Kenntnis über den Aufenthalt der ehemaligen bundesdeutschen Terroristen, die der Gewalt abgeschworen hatten und in der DDR unter Beobachtung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) standen, dem Bundeskanzler sowie den BRD-Geheimdiensten übermittelt worden war. Immerhin hatte nachweislich der DDR-Staats- und Parteichef seinen hochrangigen Besucher, den Bundeskanzler Helmut Schmidt, 1981 darüber informiert, und vonseiten US-amerikanischer Geheimdienste gab es ebensolche Informationen an die westdeutschen Partnerdienste.
Das folgende Beispiel kann belegen, dass die Politik der DDR in Bezug auf Terrorismus das Gegenteil beinhaltete von dem, was man ihr nach ihrem Ende in dieser Frage vorgeworfen hat.
Als im Oktober 1977 ein Terrorkommando die Lufthansa-Maschine »Landshut« auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt am Main kaperte und von der deutschen Bundesregierung die Freilassung von verurteilten RAF-Mitgliedern aus der Haft verlangte, fand eine lange geheim gehaltene deutsch-deutsche Zusammenarbeit zur Befreiung der Geiseln statt. Denn die Maschine hatte mehrere Flughäfen angeflogen, darunter auch die jemenitische Hauptstadt Aden. Die Regierung Jemens verweigerte die Landeerlaubnis und ließ die Landebahnen blockieren. Die Maschine ging neben der Piste nieder, weil sie sonst wegen Treibstoffmangels abgestürzt wäre. Nach dem Auftanken flog sie weiter.
Die Bundesregierung war mit Bekanntwerden der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« besorgt und nervös, da Überlegungen, eine gewaltsame Befreiung der Geiseln in Italien, Zypern oder der Volksdemokratische Republik Jemen (VRJ), die von einer sich zum Marxismus bekennenden Einheitspartei regiert wurde, durchzuführen, von den dortigen Regierungen abgelehnt worden waren. Darüber informierte das MfS die Partei- und Staatsführung der DDR.
In der Hauptstadt Somalias, in Mogadischu, wurde das Flugzeug letztlich von der bundesdeutschen Spezialeinheit GSG 9 gestürmt, die Geiseln wurden befreit und die Terroristen erschossen. Das sind die bekannten Fakten. Weit weniger bekannt ist die Tatsache, die der letzte SED-Chef Egon Krenz vor einigen Jahren der Öffentlichkeit zur Kenntnis gab, nämlich, dass die DDR einen wesentlichen Anteil an der Befreiung der Geiseln hatte. Als die »Landshut« aus Treibstoffmangel zwangsweise in Aden niederging, schickte Erich Honecker den DDR-Verteidigungsminister, Armeegeneral Heinz Hoffmann, nach Jemen. Er wurde bei der Regierung vorstellig, da die DDR gute Beziehungen zur VRJ und zur regierenden Jemenitische Sozialistische Partei unterhielt. Krenz berichtete, dass es »besonderen Eindruck« machte, wenn »ein Armeegeneral in Aden erschien«. Aden wiederum hatte gute Beziehungen zur Regierung in Somalia. »Hoffmann sorgte dafür, dass der von Bundeskanzler Helmut Schmidt entsandte Staatssekretär Hans-Jürgen Wischnewski und die GSG 9 in Somalia eingelassen und von Mogadischu Prokura zum selbständigen Handeln erhielten. Ohne den Einsatz der DDR und ihres Verteidigungsministers hätte weder Wischnewski noch die Einsatzgruppe operieren können.«
Nach der erfolgreichen Operation bedankte sich Schmidt bei Honecker und der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei seinem DDR-Kollegen Oskar Fischer. Egon Krenz fügte hinzu: »Die Ost-West-Auseinandersetzung ist doch angeblich seit 1990 zu Ende. Da könnte man so etwas, wenn auch nicht an die große Glocke hängen, aber doch der Vollständigkeit halber in die Geschichtsbücher schreiben: Die DDR zeigte sich bei der Terrorabwehr mit der Bundesrepublik solidarisch. Sie unterstützte nicht, wie immer unterstellt, internationale Terroristen, sondern sie wehrte diese gemeinsam mit der Bundesrepublik ab.« (Diether Dehm (Hg.): »›Ich will hier nicht das letzte Wort‹: Heinz Rudolf Kunze und Egon Krenz im Gespräch«, Berlin 2016, S. 84 – 85)
In den zur Flugzeugentführung überlieferten Akten im Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen findet sich über diese Hilfe keine Information. Hingegen, so ist aus einer Publikation des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung zu entnehmen, hatte der Bundeskanzler am Montag, dem 17. Oktober 1977, um 8.10 Uhr, ein Gespräch mit dem DDR-Botschafter in Bonn. Warum wohl?
Der Spiegel erwähnte in einer ausführlichen Darstellung über die Geiselbefreiung in Somalia später kurz, dass der DDR-Außenminister der BRD-Regierung diplomatische Vermittlung angeboten hatte (Heft 44/1977). Und auch das Neue Deutschland reichte seinen Lesern etwas über eine offizielle Verlautbarung weiter, die in Bonn Journalisten zu dem Vorgang mitgeteilt worden war: »BRD-Regierungssprecher Bölling äußerte sich … mehrfach vor der Presse zur Situation und zu den Umständen, die zur Befreiung der 86 Flugzeuginsassen geführt hatten. Bölling erwähnte dabei die konstruktive Haltung der DDR und ihre Bereitschaft, an der Rettung von Menschenleben mitzuwirken.« (19.10.1977)
Etwas später war in dem SED-Zentralorgan unter Berufung auf eine Meldung der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP zu lesen: »Wie [Bundeskanzler – UvdH] Schmidt erklärte, gilt sein besonderer Dank neben Somalia Großbritannien, Frankreich, den USA, Griechenland, Saudi-Arabien, der UdSSR und der DDR.« Erläuternd heißt es in dem Artikel: »Die Regierung der DDR hatte ihrem Botschafter in Aden entsprechende Aufträge erteilt.«
Vielleicht könnten neben den Konfrontationen, die die Beziehungen beider Staaten zweifelsfrei prägten, auch einmal Themen (seien sie auch noch so episodenhaft verlaufen) der Zusammenarbeit und Hilfen in der Not vor dem Fall der Mauer besonders in den überseeischen Regionen der Welt im Mittelpunkt der Forschungen, der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Es gibt sie, wenn man nachgräbt. Seien es deutsch-deutsche Skatspiele unter Entwicklungshelfern in Tansania oder die Hilfe bundesdeutscher Diplomaten bei der Aufklärung des Todes des DDR-Botschafters 1979 in Uganda.