Der Schulterschluss aller Parteien sei jetzt keine »Option«, sondern »nationale Pflicht«, verkündete bei seiner Antrittsrede der daraufhin im Parlament haushoch bestätigte Mario Draghi. Er war vorher lediglich als möglicher Nachfolger von Staatspräsident Mattarella im Gespräch, der im Februar 2022 aus dem Amt scheiden wird. Aber nun ist Draghi, von Mattarella als einzig möglicher Retter in der Not schon früher einberufen worden, gewissermaßen als eine Art Noah, auf dessen rettende Arche nun fast alle politischen Gruppierungen strebten. Alle wollen sie dabei sein, von links bis rechts – bis auf die clevere Meloni, Anführerin der Post-Faschisten Fratelli d’Italia, die gegenüber dem hemmungslosen Opportunisten Salvini (Lega) schon jetzt punktet und – nach Umfragen – auf über 16 Prozent der Wählerstimmen kommt. Als einzige, stark identitäre Oppositionspartei sichert sie sich damit bereits künftigen Zulauf aus dem Wahlvolk, das mit unpopulären Maßnahmen der neuen Regierung voraussichtlich nicht einverstanden sein wird.
Regierungen der »nationalen Einheit«, wie diese Anfang Februar von Staatspräsident Mattarella einberufene, gab es einige Male in der Nachkriegsgeschichte Italiens – jeweils in Extremsituationen, wie nach Krieg und Resistenza (1945/47), nach der Ermordung Aldo Moros (1978) und nach dem Zusammenbruch der repräsentativen Parteiendemokratie des sogenannten Verfassungsbogens (1993). Sie führten jedesmal zu einer Stärkung des konservativen Establishments und zur Schwächung der linken Opposition, und sie hielten nie lange, denn sie blendeten den sozialen Konflikt aus, der an der Basis weiter schwelte und sich verschärfte.
Seit den 1990ern halten nun überwiegend Populisten verschiedener Couleur das Ruder in der Hand. Die politische Szene wurde seit Berlusconi überwiegend von Interessengruppen beherrscht. Deren sporadische demokratische Legitimierung erfolgte durch ein immer enger begrenztes Wahlsystem mit von oben festgelegten Vertretern und einem partiellen Mehrheits-Wahlmodus, dessen Regeln dem nur relativ Stärkeren zu fast absoluter Macht verhalfen und Minderheiten ausschlossen. So konnte sich Silvio Berlusconis Partei-Unternehmen Forza Italia, mit wenig mehr als einem Drittel der Wählerstimmen, über Jahre satte Mehrheiten im Parlament sichern und so ziemlich alle durchsetzen, was er, Berlusconi, wollte.
Die neue Draghi-Regierung kann nun ähnlich autoritär vorgehen und einen de facto-Präsidentialismus vorwegnehmen, der jedoch de jure noch über keine in Präsidialsystemen garantierten Gegengewichte und Regeln verfügt. Draghi hat bei seiner Regierungsbildung eine Art »inner circle« von ihm nahestehenden Experten installiert, die die acht wichtigsten Ministerien (von 23) anführen. Die weiteren 15 wurden nach dem Gießkannenprinzip unter die Parteien von links bis rechts verteilt, die ihn im Parlament unterstützen werden. Dabei ist der bisherige Mitte-links-Schwerpunkt der letzten Conte-Regierung erheblich nach rechts verschoben worden: Berlusconi zog mit drei Minister/-innen in die Regierung ein, die sich schon vor 10 Jahren als unfähig erwiesen hatten, zum Beispiel die öffentliche Verwaltung zu reformieren, wozu sie nun wieder antreten, und sie erhalten sogar noch das Ministerium für den Süden. Warum auch immer.
Salvinis Lega übernimmt mit drei Ministern wichtige Ämter wie die für Wirtschaftliche Entwicklung und für Tourismus. Die Rechte beklagte auch bereits, dass Draghi immerhin neun Minister der Conte-Koalition beibehalten und deren Arbeit sogar offiziell gelobt hat. Diese wollen sich ihrerseits nun zu einem Arbeits-Bündnis zusammentun, um den Rechtsruck der Regierung im Zaume halten und in eine andere Zukunft blicken zu können. Denn das Ende der neuen Regierung ist ja abzusehen, entweder nach einem Jahr oder zum Ende der Legislaturperiode 2023. In der Zwischenzeit stehen noch wichtige lokale Wahltermine an. Man wird sich den Wählern bald wieder stellen müssen.
Draghi führt also keineswegs ein »governo tecnico« an (denn alle Regierungen sind immer politisch), sondern als Ausdruck der EU-governance wird er zum Beschleuniger der EU-weiten Tendenz zur fortschreitenden Marginalisierung nationaler Parlamente. Da verbleibt die Entscheidungsmacht überwiegend bei der Exekutive. Die wird im Fall Italiens zu einer Art kommissarischer Führung, die gegenüber einer komplexen Mehrfach-Krise die zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen soll, um die »nötigen Reformen« zur Restrukturierung des italienischen Kapitalismus durchzusetzen. Denn nach der Pandemie werden ja die EU-Mechanismen wieder in Kraft treten, die bisher nur auf Zeit ruhen. Dieses immense Problem ist Mario Draghi voll bewusst, aber ob er sich in der EU selbst für ein weiteres Umdenken einsetzen wird, worauf viele hoffen, steht völlig aus.
Am Ende der Politik als einer »Kunst des Möglichen« , die sich nur noch in »der Wahrung ökonomischer Kräfteverhältnisse« erschöpft, was schon Pier Paolo Pasolini vor 50 Jahren ausgemacht hat, sehen nicht wenige eine massive und nachhaltige Schwächung der Demokratie. Die sogenannte Erste Republik endete 1993 mit der Einsetzung von Notenbankchef Carlo Azeglio Ciampi als Regierungschef – was Fiat-Chef Gianni Agnelli damals mit den Worten kommentierte: »Auf einen solchen Gouverneur folgt nur noch ein General oder ein Kardinal.« Aber auf Ciampi folgte ein Berlusconi. Der mischt noch immer mit. Und ein neuer Deus ex macchina soll es nun wieder richten.