Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Deus ex macchina

Der Schul­ter­schluss aller Par­tei­en sei jetzt kei­ne »Opti­on«, son­dern »natio­na­le Pflicht«, verkündete bei sei­ner Antritts­re­de der dar­auf­hin im Par­la­ment haus­hoch bestä­tig­te Mario Draghi. Er war vor­her ledig­lich als mög­li­cher Nach­fol­ger von Staats­prä­si­dent Mat­tar­el­la im Gespräch, der im Febru­ar 2022 aus dem Amt schei­den wird. Aber nun ist Draghi, von Mat­tar­el­la als ein­zig mög­li­cher Ret­ter in der Not schon frü­her ein­be­ru­fen wor­den, gewis­ser­ma­ßen als eine Art Noah, auf des­sen ret­ten­de Arche nun fast alle poli­ti­schen Grup­pie­run­gen streb­ten. Alle wol­len sie dabei sein, von links bis rechts – bis auf die cle­ve­re Melo­ni, Anfüh­re­rin der Post-Faschi­sten Fra­tel­li d’Italia, die gegenüber dem hem­mungs­lo­sen Oppor­tu­ni­sten Sal­vi­ni (Lega) schon jetzt punk­tet und – nach Umfra­gen – auf über 16 Pro­zent der Wäh­ler­stim­men kommt. Als ein­zi­ge, stark iden­ti­tä­re Oppo­si­ti­ons­par­tei sichert sie sich damit bereits künftigen Zulauf aus dem Wahl­volk, das mit unpo­pu­lä­ren Maß­nah­men der neu­en Regie­rung vor­aus­sicht­lich nicht ein­ver­stan­den sein wird.

Regie­run­gen der »natio­na­len Ein­heit«, wie die­se Anfang Febru­ar von Staats­prä­si­dent Mat­tar­el­la ein­be­ru­fe­ne, gab es eini­ge Male in der Nach­kriegs­ge­schich­te Ita­li­ens – jeweils in Extrem­si­tua­tio­nen, wie nach Krieg und Resi­sten­za (1945/​47), nach der Ermor­dung Aldo Moros (1978) und nach dem Zusam­men­bruch der reprä­sen­ta­ti­ven Par­tei­en­de­mo­kra­tie des soge­nann­ten Ver­fas­sungs­bo­gens (1993). Sie führten jedes­mal zu einer Stär­kung des kon­ser­va­ti­ven Estab­lish­ments und zur Schwä­chung der lin­ken Oppo­si­ti­on, und sie hiel­ten nie lan­ge, denn sie blen­de­ten den sozia­len Kon­flikt aus, der an der Basis wei­ter schwel­te und sich verschärfte.

Seit den 1990ern hal­ten nun überwiegend Popu­li­sten ver­schie­de­ner Cou­leur das Ruder in der Hand. Die poli­ti­sche Sze­ne wur­de seit Ber­lus­co­ni überwiegend von Inter­es­sen­grup­pen beherrscht. Deren spo­ra­di­sche demo­kra­ti­sche Legi­ti­mie­rung erfolg­te durch ein immer enger begrenz­tes Wahl­sy­stem mit von oben fest­ge­leg­ten Ver­tre­tern und einem par­ti­el­len Mehr­heits-Wahl­mo­dus, des­sen Regeln dem nur rela­tiv Stär­ke­ren zu fast abso­lu­ter Macht ver­hal­fen und Min­der­hei­ten aus­schlos­sen. So konn­te sich Sil­vio Ber­lus­co­nis Par­tei-Unter­neh­men For­za Ita­lia, mit wenig mehr als einem Drit­tel der Wäh­ler­stim­men, über Jah­re sat­te Mehr­hei­ten im Par­la­ment sichern und so ziem­lich alle durch­set­zen, was er, Ber­lus­co­ni, wollte.

Die neue Draghi-Regie­rung kann nun ähn­lich auto­ri­tär vor­ge­hen und einen de fac­to-Prä­si­den­tia­lis­mus vor­weg­neh­men, der jedoch de jure noch über kei­ne in Prä­si­di­al­sy­ste­men garan­tier­ten Gegen­ge­wich­te und Regeln verfügt. Draghi hat bei sei­ner Regie­rungs­bil­dung eine Art »inner cir­cle« von ihm nahe­ste­hen­den Exper­ten instal­liert, die die acht wich­tig­sten Mini­ste­ri­en (von 23) anführen. Die wei­te­ren 15 wur­den nach dem Gieß­kan­nen­prin­zip unter die Par­tei­en von links bis rechts ver­teilt, die ihn im Par­la­ment unterstützen wer­den. Dabei ist der bis­he­ri­ge Mit­te-links-Schwer­punkt der letz­ten Con­te-Regie­rung erheb­lich nach rechts ver­scho­ben wor­den: Ber­lus­co­ni zog mit drei Mini­ster/-innen in die Regie­rung ein, die sich schon vor 10 Jah­ren als unfä­hig erwie­sen hat­ten, zum Bei­spiel die öffent­li­che Ver­wal­tung zu refor­mie­ren, wozu sie nun wie­der antre­ten, und sie erhal­ten sogar noch das Mini­ste­ri­um für den Süden. War­um auch immer.

Sal­vi­nis Lega übernimmt mit drei Mini­stern wich­ti­ge Ämter wie die für Wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung und für Tou­ris­mus. Die Rech­te beklag­te auch bereits, dass Draghi immer­hin neun Mini­ster der Con­te-Koali­ti­on bei­be­hal­ten und deren Arbeit sogar offi­zi­ell gelobt hat. Die­se wol­len sich ihrer­seits nun zu einem Arbeits-Bündnis zusam­men­tun, um den Rechts­ruck der Regie­rung im Zau­me hal­ten und in eine ande­re Zukunft blicken zu kön­nen. Denn das Ende der neu­en Regie­rung ist ja abzu­se­hen, ent­we­der nach einem Jahr oder zum Ende der Legis­la­tur­pe­ri­ode 2023. In der Zwi­schen­zeit ste­hen noch wich­ti­ge loka­le Wahl­ter­mi­ne an. Man wird sich den Wäh­lern bald wie­der stel­len müssen.

Draghi führt also kei­nes­wegs ein »gover­no tec­ni­co« an (denn alle Regie­run­gen sind immer poli­tisch), son­dern als Aus­druck der EU-gover­nan­ce wird er zum Beschleu­ni­ger der EU-wei­ten Ten­denz zur fort­schrei­ten­den Mar­gi­na­li­sie­rung natio­na­ler Par­la­men­te. Da ver­bleibt die Ent­schei­dungs­macht überwiegend bei der Exe­ku­ti­ve. Die wird im Fall Ita­li­ens zu einer Art kom­mis­sa­ri­scher Führung, die gegenüber einer kom­ple­xen Mehr­fach-Kri­se die zur Verfügung ste­hen­den Mit­tel ein­set­zen soll, um die »nöti­gen Refor­men« zur Restruk­tu­rie­rung des ita­lie­ni­schen Kapi­ta­lis­mus durch­zu­set­zen. Denn nach der Pan­de­mie wer­den ja die EU-Mecha­nis­men wie­der in Kraft tre­ten, die bis­her nur auf Zeit ruhen. Die­ses immense Pro­blem ist Mario Draghi voll bewusst, aber ob er sich in der EU selbst für ein wei­te­res Umden­ken ein­set­zen wird, wor­auf vie­le hof­fen, steht völ­lig aus.

Am Ende der Poli­tik als einer »Kunst des Mög­li­chen« , die sich nur noch in »der Wah­rung öko­no­mi­scher Kräf­te­ver­hält­nis­se« erschöpft, was schon Pier Pao­lo Paso­li­ni vor 50 Jah­ren aus­ge­macht hat, sehen nicht weni­ge eine mas­si­ve und nach­hal­ti­ge Schwä­chung der Demo­kra­tie. Die soge­nann­te Erste Repu­blik ende­te 1993 mit der Ein­set­zung von Noten­bank­chef Car­lo Aze­glio Ciam­pi als Regie­rungs­chef – was Fiat-Chef Gian­ni Agnel­li damals mit den Wor­ten kom­men­tier­te: »Auf einen sol­chen Gou­ver­neur folgt nur noch ein Gene­ral oder ein Kar­di­nal.« Aber auf Ciam­pi folg­te ein Ber­lus­co­ni. Der mischt noch immer mit. Und ein neu­er Deus ex mac­chi­na soll es nun wie­der richten.