Sowohl in Gedichten von Kurt Tucholsky als auch von Frank Wedekind wurden während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg – fast hellseherisch – ein weiterer Krieg und der deutsche Faschismus in den kommenden Jahrzehnten vorausgesagt. Im Gedicht »Diplomaten«, das Wedekind im August 1916 schrieb, wird gefragt: »Wie lang umdröhnt uns noch der Lärm der Kriegsfanfare? Dreißig Jahre! Menschen gibt’s dann nirgends mehr, überall nur Militär!« Und in Tucholskys Gedicht »Krieg dem Kriege« aus dem Jahre 1919 heißt es: »Die Imperialisten, die da drüben bei jenen nisten, schenken uns wieder Nationalisten. Und nach abermals zwanzig Jahren kommen neue Kanonen gefahren.«
Den Nährboden des aufkommenden Faschismus fühlend, sah Tucholsky in seinem Gedicht »Deutsche Richtergeneration 1940« den »furchtbaren Juristen« der Hitlerzeit voraus. Ihr Woher und ihr Wofür, ihre sozialen Wurzeln, ihre Herrschaftsideologie und ihren Klassenauftrag ließen sie – trotz humanistischer Bildung und des Studiums der Rechte – nahezu ohne Ausnahmen bruchlos die Staatsanwälte und Richter des Volksgerichtshofs, der Sonder-, Militär- und Kriegsgerichte und der anderen gleichgeschalteten Gerichte werden. Tucholsky, selbst Jurist, kannte seine Pappenheimer und wusste, wozu sie fähig und unfähig waren: »Ihr wählt euch eure Zeugen! Ihr sichert den Bestand! Wo sich euch Rechte beugen, ist euer Vaterland.«
Nun stellt sich die Frage, wie konnten Wedekind und Tucholsky 1916/1921 so realistisch, zugleich aber auch pessimistisch, in die Zukunft blicken? Was befähigte sie dazu? Gab es auch andere, die diese seherische Gabe hatten, oder war es gar keine seherische Gabe, sondern (nur) das Wissen um Klasseninteressen und um internationale Macht- und Verteilungskämpfe imperialistischer Staaten untereinander?
Ob Wedekind und Tucholsky für ihre prognostischen Zeitbestimmungen irgendwo konkrete Anleihen aufgenommen haben, oder ob es ihre eigenen Zeitberechnungen waren, wäre gegebenenfalls noch weiter aufzuhellen, kann wohl aber vernachlässigt werden. Denn sicher ist, wo der bearbeitete, verdichtete Stoff zu finden war, der beiden die Voraussagen ermöglichte:
Es waren die Schriften und Werke der revolutionären Sozialdemokraten, die dem Marxismus die Treue hielten, die sich bemühten, den Marxismus als Theorie und Methode auf die imperialistische Wirklichkeit anzuwenden. Dass Tucholsky mit dieser Materie sehr vertraut war, ist bekannt. Wer will, kann das in seinen Gedichten, deren wiederholte Lektüre wärmstens empfohlen wird, nachlesen. Dass er sich für die Sozialdemokratie, die lange nicht mehr seine Sozialdemokratie war, schämte, verärgert viele bis heute.
Weniger bekannt ist, dass Frank Wedekind bereits am 4. August 1914, als die gesamte SPD-Fraktion die Kriegskredite bewilligte, begann, sich durch umfangreiche Quellenlektüre auf ein Bismarck-Drama vorzubereiten. Sein erster Griff galt dem Werk Wilhelm Liebknechts »Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden« (vgl. Hartmut Vinçon, »Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg«). Die Lektüre dieser Schrift hat Wedekind die Augen geöffnet. Sie würde sie auch manch heutigem Linken öffnen, der glaubt, den Frieden durch Zugeständnisse an imperialistische Räuberstaaten, ihre Militärbündnisse und ihre Machtparteien, zu der auch unwiderruflich SPD und Grüne gehören, irgendwie sicherer zu machen.
Für Wedekind und Tucholsky war klar, dass die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in den imperialistischen Hauptländern Deutschland, Frankreich, England und USA wieder Kriege provozieren würden, wenn nicht grundlegend neue Machtverhältnisse geschaffen werden, die neue Kriege nicht »naturgesetzmäßig« entstehen lassen.
Wendekind hatte zwar zuallererst die Herren Diplomaten als Kriegstreiber im Auge, die die Völker in die Bajonette stürzten, aber auch die Krupps mit ihrer »dicken Berta« und die von den Herrschenden betriebene Kriegspropaganda gegen andere Nationen, insbesondere gegen die Slawen. Der Mordruf: »Alle Serben müssen sterben! So hat’s zu ihrem Sündensold der liebe Gott gewollt«, hätte auch 1999 aus dem Munde des deutschen Chefdiplomaten Joschka Fischer kommen können, als er seine einst pazifistische Partei auf den Jugoslawienkrieg einschwor. Dieser bellizistische Fischer ist nicht zu verwechseln mit Außenminister Oskar Fischer, dem Chefdiplomaten des deutschen Friedensstaates DDR, aus dessen Munde man Kriegsgeschrei nie vernommen hat. Auch das zur Mahnung an die linken Außenpolitiker, die meinen, eine positive Bezugnahme auf die DDR könnte Heutige verschrecken und Wählerstimmen kosten.
Den Arbeitern, den Vätern, Müttern, Söhnen sagte Tucholsky, wer sie in die Kriege presst: »In die Gräben schickten euch die Junker, Staatswahn und der Fabrikantenneid« (Der Graben 1926). Bis 1914 war diese Erkenntnis in der Sozialdemokratie fast noch mehrheitsfähig, und zwar nicht nur an der Basis.
Dass das die Herrschenden und die damaligen wie auch die heutigen »Regierungssozialisten« in der Weltbühne, im heutigen Ossietzky, nicht hören wollten und wollen, ist sonnenklar. Deshalb gingen auch nach zwei Weltkriegen mit Millionen Toten Historiker und Politologen der alten Bundesrepublik »sehr ungnädig« mit dem Objekt Weltbühne um, wie Heribert Prantl beschönigend im Vorwort seines Buches »Aus Teutschland Deutschland machen – Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne« schrieb.
Weil die Wahrheiten der Tucholskys, der Wedekinds, der Mühsams, der Liebknechts und Luxemburgs nicht mehrheitsfähig werden dürfen, geht man mit ihnen nicht nur »ungnädig« um, sondern hasst sie aus tiefstem (kaltem) Herzen. Wir sollten deshalb nicht nachlassen, darüber aufzuklären, wessen Voraussagen zu Kriegen die zutreffendsten waren, also mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit übereinstimmten. Vielleicht regt sich bei dem einen oder anderen Genossen »Regierungssozialisten« etwas, wenn Tucholskys Worte »Genosse, schämst du dich nicht?« an sein Ohr dringen.