Vor 150 Jahren endete, was Friedrich Engels als erste verwirklichte Diktatur des Proletariats bezeichnete: Die Pariser Kommune. Am 28. Mai wurden auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise die letzten 147 Kommunarden erschossen, das Ende der »semaine sanglante«, einer blutigen, durch Massenexekutionen geprägten Woche. An die 8000 Verteidiger der Kommune starben im Kampf oder durch Standgerichte, mehr als 43.000 wurden verhaftet. Vier Jahre tagten 24 Kriegsgerichte, um über 35.000 Männer, 800 Frauen und 538 Kinder zu urteilen. Neben 2500 Freisprüchen und 23.000 Verfahrenseinstellungen gab es 93 Todesurteile sowie 250 Verurteilungen zu Zwangsarbeit. Dazu kommen 4500 Zuchthausstrafen und 3000 in Abwesenheit Verurteilte, denen die Flucht gelungen war. 4400 werden nach Neu-Kaledonien verbannt, 1000 werden dort zusätzlich zu verschärfter Festungshaft verurteilt. Noch sechs Jahre später wird nach den flüchtigen Anführern der »fédérés« gefahndet.
Mit der Gefangennahme von Napoleon III. bei Sedan im September 1870 war das zweite Kaiserreich beendet, es musste schnell eine Republik her. Aber – da waren sich die bürgerlichen Politiker einig – es sollte eine Republik sein, die das Prinzip »enrichissez-vous«, wie schon unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe, weiter ermöglichen sollte: die hemmungslose Bereicherung durch Spekulation und brutale Ausbeutung der Arbeiter in den Fabriken und Minen. Die am 4. September ausgerufene Dritte Republik wollte zwar den Krieg fortführen, im Grunde aber nur die im Kaiserreich erworbenen Pfründe retten. Im Februar 1871 begannen die Friedensverhandlungen mit Preußen.
Schon am 28. Januar war ein Waffenstillstand vereinbart worden, der unter anderem vorsah, dass die in Paris stationierten französischen Truppen entwaffnet und deaktiviert werden. Die Pariser Nationalgarde blieb jedoch weiter aktiv, da ein beträchtlicher Teil gegen den Waffenstillstand war und zunehmend revolutionäre Forderungen erhob. Die Situation verschärfte sich, als 60 bürgerliche Bataillone der Garde die Stadt verließen und nun revolutionäre Gruppen das Sagen hatten. Wohlhabende Bürger und Beamte flüchteten nach Versailles, wo sich am 10. März die bürgerliche Regierung unter Adolphe Thiers niedergelassen hatte. In Paris hatten sich sieben Tage zuvor 215 »bataillons fédérés« zum republikanischen Bund der Nationalgarde zusammengeschlossen, um ein Gegengewicht zur Regierung in Versailles zu bilden. Am 26. März wurde in Paris der Gemeinderat neu gewählt. Die Kommune verkündete die allgemeine Volksbewaffnung sowie den Kampf gegen die deutschen Truppen und die Versailler Regierungstruppen. Gleichzeitig wurden neue Gesetze erlassen, die der breiten Bevölkerung zugutekommen sollten. So wurden fällige Mieten rückwirkend erlassen, verpfändete Objekte sollten an die Besitzer zurückgegeben werden. Untersagt wurde die Nachtarbeit für Bäckergesellen. Allgemein wurde die Trennung von Kirche und Staat beschlossen, Fabriken, deren Besitzer nach Versailles geflohen waren, wurden in Gemeineigentum überführt. Kindern von gefallenen Nationalgardisten wurde eine Pension zugesprochen. Auch Frauen engagierten sich und traten für ihre Rechte ein. Die berühmteste Kommunardin war wohl die Lehrerin Louise Michel, die sich auch für den Tierschutz engagierte, damals eine Seltenheit.
Der geistige Anführer der Kommune, Louis-Auguste Blanqui, war zwar während der Ereignisse selbst nicht in Paris, hatte aber zahlreiche Anhänger. Der Journalist und Schriftsteller Jules Vallés, der sogar ein Bataillon der Kommune anführte, konnte kurz vor dem Ende der Kämpfe ins Londoner Exil flüchten.
Für das etablierte Bürgertum war die Pariser Kommune ein existenzbedrohender Albtraum, der lange nachwirkte. Das zeigte sich nicht nur an der lange währenden gnadenlosen Repression und Verfolgung, sondern auch an dem steingewordenen Sühnezeichen, welches in Gestalt eines monumentalen Sakralbaus im Arbeiterviertel Montmartre errichtet wurde: Sacre Coeur. Die heutige Touristenattraktion war die reaktionäre Antwort auf den Versuch der Kommune, Kirche und Staat zu trennen, und der erneute Treueschwur Frankreichs an die katholische Kirche, als deren älteste Tochter, »la fille ainée«, man sich als gläubiger Franzose auch heute noch definiert. In der Folgezeit gab es nur noch selten den Versuch, eine sozialistische, auf basisdemokratischen Prinzipien bestehende Gesellschaft zu errichten. Dafür bedarf es einer überschaubaren Gemeinschaft von Bürgern, die sich kennen und deren Lebensumstände sich ähneln. Auch die äußere Bedrohung fördert kollektives Agieren. Im Paris des Jahres 1871 war das gegeben.
In der Sowjetunion benannte man zwar einen fernen Gletscher am Südpol nach der Pariser Kommune und schickte auch ein Relikt der Pariser Barrikadenkämpfe ins Weltall, aber schon in der Geburtsstunde der bolschewistischen Herrschaft wurden die revolutionären Matrosen von Kronstadt ebenso brutal wie die Kommunarden von Paris liquidiert. 1936 gab es einen ähnlichen Versuch während des spanischen Bürgerkrieges in Barcelona. Auch diese Herrschaft der Werktätigen nahm ein blutiges Ende, nicht nur durch die Erschießungspelotons der Franquisten, auch durch stalinistische Liquidatoren. Empfehlenswert zu diesem Thema ist Hans Magnus Enzensbergers »Der kurze Sommer der Anarchie« (1972).
Heute gibt es zwar das allgemeine Wahlrecht, aber Anonymität und Individualismus erschweren solidarisches Handeln. Massenkonsum degradiert den Bürger zum Konsumenten und Verbraucher, in manchen Ländern gibt es nur noch zwei politische Parteien, welche sich zudem kaum unterscheiden. In Frankreich entstand 2018 eine neue spontane Bürgerbewegung, die sich als solidarisch und dezentral verstand und keiner politischen Partei zuzuordnen war: Les gilets jaunes – die Gelbwesten. Zunächst war es der Protest gegen die Benzinpreiserhöhung, der vor allem jene traf, die für die Fahrt zum Arbeitsplatz auf das Auto angewiesen waren. Später wurden auch andere Forderungen aufgegriffen, die Wut richtete sich gegen den »Präsident der Reichen«, Macron, der die Anliegen der kleinen Leute zu ignorieren schien. Der Staatsapparat reagierte zunehmend repressiv. Es gab brutale Polizeieinsätze, bei denen etliche Gelbwesten schwer verletzt wurden oder durch Gummigeschosse das Augenlicht verloren. Ein neues Gesetz stellt es nun sogar unter Strafe, solche polizeilichen Übergriffe zu filmen. Während die bürgerliche Presse der dritten Republik die Kommunarden als »Kriminelle, Fanatiker und Spitzbuben« bezeichnet hatten, die Paris zum »Sammelpunkt der Perversitäten der ganzen Welt« machen würden, diffamierte man die Gelbwesten als Rechtsradikale und Antisemiten. Es ist daher wenig verwunderlich, dass das bürgerliche Parteiensystem mit seinen Funktionären und reichen Sponsoren immer häufiger zur Stimmenthaltung oder zu Protestwahlen führt. Wenn man die heutigen mediengesteuerten Wahlkampagnen der bürgerlichen Demokratien betrachtet, erscheint der Aufruf des Zentralkomitees der Pariser Kommune vom 25. März 1871 zur Wahl wie ein ferner Traum:
Vergesst nicht, dass diejenigen Menschen euch am besten dienen werden, die ihr aus eurer eigenen Mitte wählt, die das gleiche Leben wie ihr führen, und die die gleichen Leiden ertragen wie ihr.
Hütet euch vor Leuten, die zu viel reden, und vermeidet vom Schicksal Begünstigte, denn selten nur will derjenige, der ein Vermögen besitzt, im Arbeitenden seinen Bruder sehen.
Wählt eher diejenigen, die sich um eure Stimme nicht bewerben. Der wahre Verdienst ist bescheiden, und es ist die Sache der Wähler, ihre Kandidaten zu kennen und nicht der Kandidaten, sich erst vorzustellen.