Kurz nach dem öffentlichen Eingeständnis der Niederlage in Afghanistan saß in der Talk-Runde von Markus Lanz der junge Emran Feroz, der mit Verve die Sinnlosigkeit dieses Krieges und die Hintergründe für das westliche Scheitern benannte. Hier das entsprechende Zitat aus seinem kürzlich beim Westend Verlag erschienenen Buchs Der längste Krieg: »Der Großteil der Bevölkerung profitierte in keiner Weise von westlichen Hilfsgeldern, sondern verarmte, während die korrupte Polit-Elite ein teures Jetset-Leben führte und die meiste Zeit im sicheren Ausland verweilte«.
Feroz wurde 1991 in Österreich als Sohn afghanischer Emigranten geboren. Er spricht die zwei wichtigsten Sprachen des Herkunftslands seiner Eltern und hat dort oft recherchiert. Er schildert die skandalöse Bereicherung der mit dem Westen verbundenen Clans, die einen Großteil der Hilfsgelder umgehend in die Golfstaaten brachten und sich selbst, ihren Kindern und Verwandten dort oder in westlichen Ländern, besonders in den USA, profitable Geschäftsgründungen ermöglichten. Das betrifft auch die Clans der beiden Regierungschefs Karzai und Ghani.
Die vom Westen ausgehende und kaum je wie bei Feroz im Detail thematisierte Korruption war nicht nur sozialstrategisch desaströs, sondern auch hinsichtlich des eigentlichen War on terror: »Wäre es tatsächlich das Ziel gewesen, Frieden und Demokratie in Afghanistan zu schaffen, hätte der starke Einfluss der Warlords nach 2001 ein Ende finden müssen. Im Gegenteil stärkten die USA deren Position jedoch.« International abgesegnet wurde das übrigens am 27. November auf der »ersten Afghanistankonferenz am Bonner Petersberg, wo über die künftige Interimsregierung verhandelt wurde«.
Feroz erinnert auch daran, dass die UNO mit ihrer Resolution 1368 vom 12. September 2001 den Afghanistanfeldzug legalisierte »und ihre friedenssichernde Funktion in den Folgejahren vollkommen vermissen ließ«.
Erschütternd sind die Informationen über ebenfalls nicht allgemein bekannte Details westlicher Menschenrechtsverbrechen im Afghanistankrieg. In »das kollektive Gedächtnis weiter Teile der afghanischen Gesellschaft« haben sie sich aber »eingebrannt« und bewirkt, dass sich immer mehr Menschen den Taliban anschlossen. Da waren eben nicht nur Guantanamo und der Drohnenkrieg, der viele unbeteiligte Zivilisten liquidierte. Es gab auch das nahe Kabul gelegene Folterzentrum Bagram, das nicht ohne dolmetschende »lokale Hilfskräfte« auskam. Und immer wieder kam es zu willkürlichen, massenhaften Tötungen in Dörfern durch amerikanische, aber auch australische Soldaten, bei denen unklar blieb, ob dafür Befehle vorlagen. Es kam vielfach zu Gewaltexzessen, die an das Massaker im vietnamesischen Mỹ Lai denken lassen. Und schließlich kam es auch zu Massentötungen durch Bombardierungen, durch neuartige Laserwaffen und den Testeinsatz der »Mutter aller Bomben«, genannt MOAB (Massive Ordnance Air Blast) – die größte nichtnukleare Bombe des US-Militärs. Nachdem sie im April 2017 gegen eine angebliche Basis des IS eingesetzt worden war, wurde das betroffene Gelände tagelang abgesperrt, um die Wirkungskraft der MOAB wissenschaftlich zu untersuchen und Spuren zu vernichten. Nach Informationen aus der Umgebung hat die Superbombe auch viele Zivilisten getötet.
Und wer weiß schon darüber Bescheid, dass die Bundeswehr an Opferfamilien, die durch den von Oberst Georg Klein 2009 befohlenen Luftangriff bei Kunduz Angehörige verloren, nur 5000 Dollar zahlte, unabhängig davon, wie viele Familienmitglieder getötet wurden. Für den kriegsbedingten Verlust eines Autos konnten Afghanen jedoch 10 000 Dollar einklagen. Während die Angehörigen gefallener Bundeswehrsoldaten rund 100 000 Euro erhalten, wurde den afghanischen Familien die ihnen zugedachten mageren Summen nicht einmal direkt zugeleitet, sondern über korrupte Lokalpolitiker »wie dem Gouverneur von Kunduz und allerlei anderem Personal, das mit der NATO vor Ort zusammenarbeitet, abgewickelt. Sie versickerten meist im Nirgendwo.«
Der Anwalt der Opfer beklagt, dass der § 839 des BGH über Haftung für Amtspflichtverletzung für deutsche Soldaten faktisch außer Kraft gesetzt sei. Mit der Rechtsprechung der deutschen Justiz im Fall Klein habe sie sich eindeutig zu einem Instrument der Regierung und der Bundeswehr gemacht. Feroz zitiert hier den Spiegel: »Die Bundeswehr verstieß gegen Nato-Regeln, der Verteidigungsminister täuschte die Öffentlichkeit, und die Kanzlerin entzog sich ihrer politischen Verantwortung.« Der Beförderung Kleins zum General stand nichts mehr im Wege. Der Vorgang sei als Präzedenzfall für künftige Einsätze der Bundeswehr zu werten.
Auch das westliche Narrativ von der Frauenbefreiung führt Feroz ad absurdum. Die Kabuler Regierung und ihre westlichen Verbündeten hätten sie sich zwar auf die Fahne geschrieben, aber nicht wirklich gefördert: »Allein in der Hauptstadt sind gegenwärtig Tausende von Frauen als Bettlerinnen oder Prostituierte tätig, während vermeintliche Frauenrechtlerinnen im westlichen Rampenlicht stehen und sich privat bereichern.« Ein Beispiel sei die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Fawzia Koofi. Sie gehörte zu den Regierungsmitgliedern, die mit den Taliban verhandelten. Obwohl Verstrickungen von Koofis Familie in Schmuggel- und Drogengeschäfte bekannt sind, wurde sie von zahlreichen westlichen Medien »zur standhaften, heroischen Frau, die den Taliban die Stirn bietet, stilisiert und 2020 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert«.
Von Feroz aufgeführte private Initiativen für Mädchenschulen in ländlichen Zonen – die von religiösen Fanatikern missbilligt werden – erhielten meist keine Unterstützung seitens der Regierung.
Während die Teile des Buchs über Korruption und Menschenrechtsverbrechen im zwanzigjährigen Afghanistankrieg sehr verdienstvoll sind und Feroz’ Fazit, dass die Afghanen allein über ihre Zukunft entscheiden müssen, richtig ist, sind Vorbehalte anzumelden gegenüber seinen Ausführungen über frühere Etappen der afghanischen Geschichte. So idealisiert er die Bemühungen von König Mohamed Zahir Schah um erste Demokratisierungen in den dreißiger Jahren. Dabei blendet er aus, dass das Feudalsystem der vierzig Familien, die sich damals ganz Afghanistan teilten, unangetastet blieb. Die formale Hülle von Scheindemokratisierungen wird nicht als solche erkannt. Den sich in den sechziger Jahren verschärfenden Kampf linker Kräfte gegen die sich mit reaktionärer Religiosität verbindende Feudalität reduziert Feroz auf totalitär-stalinistisches Machtstreben. Und dass während der zehnjährigen sowjetischen Invasion zwei Millionen Afghanen umgekommen sein sollen, erscheint der Rezensentin, die als Zeitgenossin den Einsatz auf ganzer Linie missbilligte und die damaligen Meldungen und Analysen aufmerksam verfolgte, antikommunistischen Fantasien entsprungen. An anderer Stelle schreibt Feroz, dass die UNO überhaupt erst seit 2009 versucht, die zivilen Opfer zu zählen.
Ein in diesem Buch unerfülltes, aber dringend einzulösendes Desiderat wäre eine fundierte Strukturanalyse der afghanischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert bis heute. Sie klang an in der sehr sehenswerten ARTE-Serie »Afghanistan. Das verwundete Land«. Hier wurde immerhin deutlich, dass es seit vielen Jahrzehnten um den bis heute nicht entschiedenen Kampf gegen feudale Machtverhältnisse geht. Während die Sowjetunion antifeudale Kräfte stützte, machte der Westen sie zu seinen Verbündeten. Er unterschätzte aber die innerfeudalen Rivalitäten, die meist nur als ethnische Konflikte definiert wurden. Warlords oder Drogenbarone sind aber nichts anderes als Sprösslinge der alten feudalen Elite, die die Macht bis heute nicht aus der Hand geben.
Die zu bezweifelnden historischen Sichtweisen von Feroz erklären sich wohl aus dem journalistischen Umfeld, in dem er seine Reporter- und Analystenkarriere begann. Er berichtete über Afghanistan für das US-Magazin Foreign Policy, CNN, die New York Times, den Deutschlandfunk und die Schweizer WOZ. Kritik an aktuellen Kriegsverbrechen des eigenen Landes kann in großen Medien der USA rückhaltloser geäußert werden als hierzulande. Für Feroz’ deutsch geschriebenes Buch kam wohl nur ein linker Verlag infrage. Westend hat bereits 2017 sein Buch »Tod per Knopfdruck« über den amerikanischen Drogenkrieg herausgebracht.
Feroz meint, die Taliban hätten ein Konzept, das die »ethnischen« Konflikte entschärfen könne. Falls es sich dabei nur um den alle Afghanen einenden Islam handeln sollte, dürfte das nicht genügen.
Emran Feroz: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2021, 223 S., 18 €.