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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Terror der »Befreier«

Kurz nach dem öffent­li­chen Ein­ge­ständ­nis der Nie­der­la­ge in Afgha­ni­stan saß in der Talk-Run­de von Mar­kus Lanz der jun­ge Emran Feroz, der mit Ver­ve die Sinn­lo­sig­keit die­ses Krie­ges und die Hin­ter­grün­de für das west­li­che Schei­tern benann­te. Hier das ent­spre­chen­de Zitat aus sei­nem kürz­lich beim West­end Ver­lag erschie­ne­nen Buchs Der läng­ste Krieg: »Der Groß­teil der Bevöl­ke­rung pro­fi­tier­te in kei­ner Wei­se von west­li­chen Hilfs­gel­dern, son­dern ver­arm­te, wäh­rend die kor­rup­te Polit-Eli­te ein teu­res Jet­set-Leben führ­te und die mei­ste Zeit im siche­ren Aus­land verweilte«.

Feroz wur­de 1991 in Öster­reich als Sohn afgha­ni­scher Emi­gran­ten gebo­ren. Er spricht die zwei wich­tig­sten Spra­chen des Her­kunfts­lands sei­ner Eltern und hat dort oft recher­chiert. Er schil­dert die skan­da­lö­se Berei­che­rung der mit dem Westen ver­bun­de­nen Clans, die einen Groß­teil der Hilfs­gel­der umge­hend in die Golf­staa­ten brach­ten und sich selbst, ihren Kin­dern und Ver­wand­ten dort oder in west­li­chen Län­dern, beson­ders in den USA, pro­fi­ta­ble Geschäfts­grün­dun­gen ermög­lich­ten. Das betrifft auch die Clans der bei­den Regie­rungs­chefs Kar­zai und Ghani.

Die vom Westen aus­ge­hen­de und kaum je wie bei Feroz im Detail the­ma­ti­sier­te Kor­rup­ti­on war nicht nur sozi­al­stra­te­gisch desa­strös, son­dern auch hin­sicht­lich des eigent­li­chen War on ter­ror: »Wäre es tat­säch­lich das Ziel gewe­sen, Frie­den und Demo­kra­tie in Afgha­ni­stan zu schaf­fen, hät­te der star­ke Ein­fluss der War­lords nach 2001 ein Ende fin­den müs­sen. Im Gegen­teil stärk­ten die USA deren Posi­ti­on jedoch.« Inter­na­tio­nal abge­seg­net wur­de das übri­gens am 27. Novem­ber auf der »ersten Afgha­ni­stan­kon­fe­renz am Bon­ner Peters­berg, wo über die künf­ti­ge Inte­rims­re­gie­rung ver­han­delt wurde«.

Feroz erin­nert auch dar­an, dass die UNO mit ihrer Reso­lu­ti­on 1368 vom 12. Sep­tem­ber 2001 den Afgha­nist­an­feld­zug lega­li­sier­te »und ihre frie­dens­si­chern­de Funk­ti­on in den Fol­ge­jah­ren voll­kom­men ver­mis­sen ließ«.

Erschüt­ternd sind die Infor­ma­tio­nen über eben­falls nicht all­ge­mein bekann­te Details west­li­cher Men­schen­rechts­ver­bre­chen im Afgha­ni­stan­krieg. In »das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis wei­ter Tei­le der afgha­ni­schen Gesell­schaft« haben sie sich aber »ein­ge­brannt« und bewirkt, dass sich immer mehr Men­schen den Tali­ban anschlos­sen. Da waren eben nicht nur Guan­ta­na­mo und der Droh­nen­krieg, der vie­le unbe­tei­lig­te Zivi­li­sten liqui­dier­te. Es gab auch das nahe Kabul gele­ge­ne Fol­ter­zen­trum Bagram, das nicht ohne dol­met­schen­de »loka­le Hilfs­kräf­te« aus­kam. Und immer wie­der kam es zu will­kür­li­chen, mas­sen­haf­ten Tötun­gen in Dör­fern durch ame­ri­ka­ni­sche, aber auch austra­li­sche Sol­da­ten, bei denen unklar blieb, ob dafür Befeh­le vor­la­gen. Es kam viel­fach zu Gewalt­ex­zes­sen, die an das Mas­sa­ker im viet­na­me­si­schen Mỹ Lai den­ken las­sen. Und schließ­lich kam es auch zu Mas­sen­tö­tun­gen durch Bom­bar­die­run­gen, durch neu­ar­ti­ge Las­er­waf­fen und den Test­ein­satz der »Mut­ter aller Bom­ben«, genannt MOAB (Mas­si­ve Ord­nan­ce Air Blast) – die größ­te nicht­nu­klea­re Bom­be des US-Mili­tärs. Nach­dem sie im April 2017 gegen eine angeb­li­che Basis des IS ein­ge­setzt wor­den war, wur­de das betrof­fe­ne Gelän­de tage­lang abge­sperrt, um die Wir­kungs­kraft der MOAB wis­sen­schaft­lich zu unter­su­chen und Spu­ren zu ver­nich­ten. Nach Infor­ma­tio­nen aus der Umge­bung hat die Super­bom­be auch vie­le Zivi­li­sten getötet.

Und wer weiß schon dar­über Bescheid, dass die Bun­des­wehr an Opfer­fa­mi­li­en, die durch den von Oberst Georg Klein 2009 befoh­le­nen Luft­an­griff bei Kun­duz Ange­hö­ri­ge ver­lo­ren, nur 5000 Dol­lar zahl­te, unab­hän­gig davon, wie vie­le Fami­li­en­mit­glie­der getö­tet wur­den. Für den kriegs­be­ding­ten Ver­lust eines Autos konn­ten Afgha­nen jedoch 10 000 Dol­lar ein­kla­gen. Wäh­rend die Ange­hö­ri­gen gefal­le­ner Bun­des­wehr­sol­da­ten rund 100 000 Euro erhal­ten, wur­de den afgha­ni­schen Fami­li­en die ihnen zuge­dach­ten mage­ren Sum­men nicht ein­mal direkt zuge­lei­tet, son­dern über kor­rup­te Lokal­po­li­ti­ker »wie dem Gou­ver­neur von Kun­duz und aller­lei ande­rem Per­so­nal, das mit der NATO vor Ort zusam­men­ar­bei­tet, abge­wickelt. Sie ver­sicker­ten meist im Nirgendwo.«

Der Anwalt der Opfer beklagt, dass der § 839 des BGH über Haf­tung für Amts­pflicht­ver­let­zung für deut­sche Sol­da­ten fak­tisch außer Kraft gesetzt sei. Mit der Recht­spre­chung der deut­schen Justiz im Fall Klein habe sie sich ein­deu­tig zu einem Instru­ment der Regie­rung und der Bun­des­wehr gemacht. Feroz zitiert hier den Spie­gel: »Die Bun­des­wehr ver­stieß gegen Nato-Regeln, der Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster täusch­te die Öffent­lich­keit, und die Kanz­le­rin ent­zog sich ihrer poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung.« Der Beför­de­rung Kleins zum Gene­ral stand nichts mehr im Wege. Der Vor­gang sei als Prä­ze­denz­fall für künf­ti­ge Ein­sät­ze der Bun­des­wehr zu werten.

Auch das west­li­che Nar­ra­tiv von der Frau­en­be­frei­ung führt Feroz ad absur­dum. Die Kabu­ler Regie­rung und ihre west­li­chen Ver­bün­de­ten hät­ten sie sich zwar auf die Fah­ne geschrie­ben, aber nicht wirk­lich geför­dert: »Allein in der Haupt­stadt sind gegen­wär­tig Tau­sen­de von Frau­en als Bett­le­rin­nen oder Pro­sti­tu­ier­te tätig, wäh­rend ver­meint­li­che Frau­en­recht­le­rin­nen im west­li­chen Ram­pen­licht ste­hen und sich pri­vat berei­chern.« Ein Bei­spiel sei die ehe­ma­li­ge Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tin Faw­zia Koo­fi. Sie gehör­te zu den Regie­rungs­mit­glie­dern, die mit den Tali­ban ver­han­del­ten. Obwohl Ver­strickun­gen von Koofis Fami­lie in Schmug­gel- und Dro­gen­ge­schäf­te bekannt sind, wur­de sie von zahl­rei­chen west­li­chen Medi­en »zur stand­haf­ten, heroi­schen Frau, die den Tali­ban die Stirn bie­tet, sti­li­siert und 2020 sogar für den Frie­dens­no­bel­preis nominiert«.

Von Feroz auf­ge­führ­te pri­va­te Initia­ti­ven für Mäd­chen­schu­len in länd­li­chen Zonen – die von reli­giö­sen Fana­ti­kern miss­bil­ligt wer­den – erhiel­ten meist kei­ne Unter­stüt­zung sei­tens der Regierung.

Wäh­rend die Tei­le des Buchs über Kor­rup­ti­on und Men­schen­rechts­ver­bre­chen im zwan­zig­jäh­ri­gen Afgha­ni­stan­krieg sehr ver­dienst­voll sind und Feroz’ Fazit, dass die Afgha­nen allein über ihre Zukunft ent­schei­den müs­sen, rich­tig ist, sind Vor­be­hal­te anzu­mel­den gegen­über sei­nen Aus­füh­run­gen über frü­he­re Etap­pen der afgha­ni­schen Geschich­te. So idea­li­siert er die Bemü­hun­gen von König Moha­med Zahir Schah um erste Demo­kra­ti­sie­run­gen in den drei­ßi­ger Jah­ren. Dabei blen­det er aus, dass das Feu­dal­sy­stem der vier­zig Fami­li­en, die sich damals ganz Afgha­ni­stan teil­ten, unan­ge­ta­stet blieb. Die for­ma­le Hül­le von Schein­de­mo­kra­ti­sie­run­gen wird nicht als sol­che erkannt. Den sich in den sech­zi­ger Jah­ren ver­schär­fen­den Kampf lin­ker Kräf­te gegen die sich mit reak­tio­nä­rer Reli­gio­si­tät ver­bin­den­de Feu­da­li­tät redu­ziert Feroz auf tota­li­tär-sta­li­ni­sti­sches Macht­stre­ben. Und dass wäh­rend der zehn­jäh­ri­gen sowje­ti­schen Inva­si­on zwei Mil­lio­nen Afgha­nen umge­kom­men sein sol­len, erscheint der Rezen­sen­tin, die als Zeit­ge­nos­sin den Ein­satz auf gan­zer Linie miss­bil­lig­te und die dama­li­gen Mel­dun­gen und Ana­ly­sen auf­merk­sam ver­folg­te, anti­kom­mu­ni­sti­schen Fan­ta­sien ent­sprun­gen. An ande­rer Stel­le schreibt Feroz, dass die UNO über­haupt erst seit 2009 ver­sucht, die zivi­len Opfer zu zählen.

Ein in die­sem Buch uner­füll­tes, aber drin­gend ein­zu­lö­sen­des Desi­de­rat wäre eine fun­dier­te Struk­tur­ana­ly­se der afgha­ni­schen Gesell­schaft im 20. Jahr­hun­dert bis heu­te. Sie klang an in der sehr sehens­wer­ten ARTE-Serie »Afgha­ni­stan. Das ver­wun­de­te Land«. Hier wur­de immer­hin deut­lich, dass es seit vie­len Jahr­zehn­ten um den bis heu­te nicht ent­schie­de­nen Kampf gegen feu­da­le Macht­ver­hält­nis­se geht. Wäh­rend die Sowjet­uni­on anti­feu­da­le Kräf­te stütz­te, mach­te der Westen sie zu sei­nen Ver­bün­de­ten. Er unter­schätz­te aber die inner­feu­da­len Riva­li­tä­ten, die meist nur als eth­ni­sche Kon­flik­te defi­niert wur­den. War­lords oder Dro­gen­ba­ro­ne sind aber nichts ande­res als Spröss­lin­ge der alten feu­da­len Eli­te, die die Macht bis heu­te nicht aus der Hand geben.

Die zu bezwei­feln­den histo­ri­schen Sicht­wei­sen von Feroz erklä­ren sich wohl aus dem jour­na­li­sti­schen Umfeld, in dem er sei­ne Repor­ter- und Ana­ly­sten­kar­rie­re begann. Er berich­te­te über Afgha­ni­stan für das US-Maga­zin For­eign Poli­cy, CNN, die New York Times, den Deutsch­land­funk und die Schwei­zer WOZ. Kri­tik an aktu­el­len Kriegs­ver­bre­chen des eige­nen Lan­des kann in gro­ßen Medi­en der USA rück­halt­lo­ser geäu­ßert wer­den als hier­zu­lan­de. Für Feroz’ deutsch geschrie­be­nes Buch kam wohl nur ein lin­ker Ver­lag infra­ge. West­end hat bereits 2017 sein Buch »Tod per Knopf­druck« über den ame­ri­ka­ni­schen Dro­gen­krieg herausgebracht.

Feroz meint, die Tali­ban hät­ten ein Kon­zept, das die »eth­ni­schen« Kon­flik­te ent­schär­fen kön­ne. Falls es sich dabei nur um den alle Afgha­nen einen­den Islam han­deln soll­te, dürf­te das nicht genügen.

Emran Feroz: Der läng­ste Krieg. 20 Jah­re War on Ter­ror, West­end Ver­lag, Frank­furt am Main 2021, 223 S., 18 €.