Das Durcheinander eines Lebens ist nicht geradlinig zu erzählen – bei einem Lebenslauf in einer Familie wie dieser schon gar nicht. Zudem bekundet die Autorin, dass sie autobiografisches Schreiben »abwegig fand«. Wenn nun aber jemand schon in Kinderjahren und als Jugendliche Heft um Heft mit Tagebuchaufzeichnungen füllt und als reife, erfolgreiche Schriftstellerin mit solch einem Buch an die Öffentlichkeit tritt – muss da nicht der Ruf »Koketterie« erschallen? Keineswegs. Schreiben muss hier als Überlebenstraining begriffen werden, die Publikation vielleicht, auch wenn es hehr klingt, als Versuch der Befreiung von Gespenstern und Dämonen. Und die wird man, wie man vom uralt gewordenen Faust bei Goethe lernen kann, »schwerlich los«.
Nun, es muss offenbleiben, ob Befreiung oder Teilbefreiung hier gelang. Auf jeden Fall erlebt der Leser den mutigen Auftritt einer Schriftstellerin mit der Präsentation ihres Lebens. Und das ist nicht wenig in Zeiten, wo Korrektheit gar zu gern zelebriert wird. Die Behauptung des Umschlagtextes, es sei ein »schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung« ist wohl ein Versuch, in diesem Sinne tätig zu werden. Schmerzhaft ist es. Aber auch schön? Es braucht Mut, ein Buch wie dieses zu schreiben, es braucht auch Mut, es zu lesen, wenn man sich auf alle Schilderungen einlässt. Denn beide, Produzent und Rezipient, sehen sich konfrontiert mit der Verworrenheit der Biografie, wie sie letzten Endes typisch für unser aller Lebensläufe ist. Wir alle mühen uns auf diesem steinigen Felde, und wir werden nicht fertig damit, auch nicht mit dem Schamgefühl beim »Erzählen«.
Die Geschichte, Julia Francks Geschichte: Geboren in Ostberlin, mit acht Jahren nimmt ihre Mutter sie und ihre Schwestern mit in den Westen. In einem überaus chaotischen Haushalt in einem schleswig-holsteinischen Bauernhaus wächst das Mädchen heran, in Verhältnissen, die man heute gern als »prekär« bezeichnet. Mit 13 zieht sie aus und zurück nach Berlin, aber diesmal nach Westberlin. Sie lebt von Sozialhilfe, muss sich Geld mit Putzarbeit verdienen, ist auf im Grunde fremde Menschen angewiesen. Als sie endlich ihren Vater kennenlernt, ist es zu spät für ein Vater-Tochter-Verhältnis. Sie verliert ihn wie auch ihre große Liebe Stephan an den Tod.
Den Osten freilich wird das Mädchen, die junge Frau nicht los. Er hängt ihr an in der Gestalt ihrer Familie, und es sind sämtlich ebenso steinige Biografien, geprägt von den Schrecklichkeiten des 20. Jahrhunderts und des Beginns des ihm folgenden. Ablesbar etwa am Leben der Großmutter Inge, einer Bildhauerin. Dessen Schilderung gibt zugleich Gelegenheit zur Erwähnung all der großen »DDR-Namen«, die dort aus- und eingingen.
Dass der Wirrwarr dieses Lebens sich im Text widerspiegelt, ist klar. Dennoch: Manche Wiederholung wäre wohl zu umgehen gewesen, mitunter häufen sich die Erwähnungen von Büchern, Filmen und Musiktiteln – und manche, auch sprachliche, Ungenauigkeiten wären ebenso vermeidbar gewesen. Am meisten nehmen einen die kargen Sätze gefangen, manchmal aber, besonders bei der Darstellung der Liebe zu und mit Stephan, gerät der Text haarscharf an den Rand des Zuckerzusatzes.
Die schönsten Sätze des Buches jedoch stehen an seinem Beginn und sind auch Programm: »Auch in meinem wirklichen Leben habe ich eine Mutter, vier Schwestern und Freunde, die ich liebe. Auch in diesem wirklichen Leben habe ich nächste Menschen viel zu früh an den Tod verloren und lebe dennoch bis ans Ende mit ihnen. Ich kannte sie, kenne sie und werde sie in Zukunft etwas anders kennen. Weder sie noch ich selbst bleiben dieselben.«
So lässt sich Biografie erzählen und begreifen.
Julia Franck: Welten auseinander, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 368 S., 23 €.