Wagner nennt seinen »Ring des Nibelungen« das »Kunstwerk der Zukunft«. Vorausschauend hat er es entworfen. Nicht nur für ein einiges Deutschland, sondern sogar für ein einheitliches Europa. In ihrer Inszenierung gehen das Wagner-Interpreten-Duo Stefan Herheim und Alexander Meier-Dörzenbach genau auf diese kühnen Kerngedanken zu. Was stellen sie heraus? Erstens, das neue Heldentum. In Dresden beginnt Wagner in der 1848er Revolution mit »Siegfried«. In diese mittelalterliche Heldengestalt pflanzt er eigene Maßstäbe für individuelle Freiheit ein. Danach erscheint Siegfried als ganzer Mensch »aus Knochen, Blut und Fleisch«, voller Empfindungen, Liebe und Schmerz. Wie alle anderen Protagonisten des Rings ist er immer auf der Flucht. Durchdrungen von unlösbaren Widersprüchen verkörpert er nicht ein politisches, sondern ein ewiges Heldentum.
In dieser Darstellung variiert Wagner die romantische Idee König Ludwigs I., der Geisteshelden aus der Nationalgeschichte in seiner Walhalla erstmals zu höchster Ehre führte. Nach seiner Flucht in die Schweiz erweitert Wagner dieses Konzept zum vierteiligen Musikdrama. Aus dem revolutionären »Völkerfrühling« wollte er die große Oper radikal erneuern und mit übermenschlichen Anstrengungen »Musteraufführungen« in Bayreuth schaffen, in denen Literatur, Pantomime, Kostüme, Technik und Bühne illusionistisch höchste Sinnlichkeit ausreizen. Die ganze Wirklichkeit mit sinnvollster Täuschung in Kunst zu verwandeln, das war Wagners Credo. So hat er es bei der Eröffnung seines Festspielhauses mit dem »Ring des Nibelungen« 1876 in Bayreuth vorgetragen. Doch dieser neuen Kunstform entgegen stand ein entscheidendes Hindernis: das alte bourgeoise Publikum. Es musste erst eine neue Generation heranwachsen. Wohl auch deswegen zog sich die Arbeit an dem Gesamtkunstwerk über zwanzig Jahre bis zur Premiere in Bayreuth 1876 hin.
Zweitens wird von innerer Flucht erzählt, von »transzendentaler Obdachlosigkeit« (Georg Lukacs), in der wir uns, heute nicht minder, wiederfinden. Fragen danach, wohin wir gehen, sind gestellt. Antwort ist zuerst visualisiert im Bühnenbild gegeben, bevor sie der Mythos mehrschichtig ausdifferenziert. Da sind unüberschaubar viele Koffer. Wagner selbst ist gemeint. Die Tetralogie wurde nach der Premiere in Europa 135-mal gespielt. Fast 200 verschiedene Städte bereiste der Komponist, der am liebsten sein eigener Librettist war, sich immer auf der Flucht befand, entweder existenziell bedroht oder virtuell von einer Idee zur anderen eilend. Unzählige Reisende, Fremde, Flüchtende, die diese Koffer mit sich auf der Bühne herumschleppen, rücken die Aktualität dieser Art Fluchten erschreckend nahe an uns heran. Aus den Koffern schichten sich alle Kulissen auf. Hinzu kommt der Flügel. Ist es derjenige von John Cage, aus dem zeitweise gar nichts erklingt? Aus dem Flügel steigen die mythologischen Gestalten und Zauberkunststücke heraus. Auch die Stoffe erlauben ein Wahrträumen von nie Erlebtem. So erscheint Walhalla als Fehlstelle zwischen Hochgebirgsgipfeln aus aufgehängten Stoffzipfeln, kristallin beleuchtet, alles viel schöner als Neuschwanstein von Ludwig II. Auch als Lebendes Bild erhebt sich der Olymp über Koffern in den Wolken mit den versammelten Göttern Wotan, Freia, Fricka, Hammer, Froh und den Walküren.
Der Glanz, die Macht, das Gold, die Härte der Mächtigen und schließlich der Abstieg der Götterherrschaft werden in aufzehrender Intensität vorgeführt. Wagner kleidet sie in den Mythos. Das Libretto verrät es. Er redet nur über sich und seine Zeit. Dafür nutzt er den Historismus als Methode. Er durchzieht seit Beginn des 19. Jahrhunderts alle Gattungen der Künste. So begreifen wir nach der totalen Verdammung des Schnelllaufs durch die Geschichte mit Neugotik, Neurenaissance, Neubarock und Neuromanik heute diese Wiederaufnahmen von Stilen, Strömungen, Erscheinungen verschiedenster Art aus vergangenen Epochen als ein wunderbares Kunstmittel, mit dem so beweglich wie nie zuvor alles dem epischen Spiel anverwandelt werden konnte, was den Künstler Richard Wagner bewegt hat. Geschichten, Sagen, Mythen werden von ihm wie ein Mosaik neu zusammengesetzt. Der schöne Held Siegfried verliert seine Ehre durch Ehebruch und moralisches Versagen. Und Hagen, aus dem Nibelungenlied herausgestiegen, durchwandert die europäische Geistesgeschichte als charakterloser Mörder Siegfrieds und wird von Wagner umgedeutet zum fast gerechten Rächer des gefallen Göttersohnes.
Der gesamte Zyklus des »Ring des Nibelungen« ist noch bis Januar 2022 an der Deutschen Oper Berlin zu sehen.