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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Rechtsstaat kriecht zu Kreuze

Die Stif­tung hat einen hoff­nungs­fro­hen Namen: »Spes et Salus – Hoff­nung und Heil«. Unter die­sem Titel hat der Münch­ner Erz­bi­schof Kar­di­nal Rein­hard Marx vor eini­gen Wochen eine gemein­nüt­zi­ge Stif­tung für »Opfer sexua­li­sier­ter Gewalt in der katho­li­schen Kir­che« gegrün­det. Marx selbst zahlt eine hal­be Mil­li­on Euro in die Stif­tung ein – den »aller­größ­ten Teil sei­nes Pri­vat­ver­mö­gens«, wie ein Spre­cher wis­sen lässt. Der Got­tes­mann erklärt die statt­li­che Sum­me laut Süd­deut­scher Zei­tung damit, dass er stets ver­ant­wort­lich mit sei­nen Bezü­gen umge­gan­gen sei. Als Erz­bi­schof ist der Kar­di­nal der staat­li­chen Besol­dungs­grup­pe B 10 zuge­ord­net. Die aktu­el­le Tabel­le weist dafür ein Monats­brut­to von 13.654 Euro aus.

Kar­di­nal Marx selbst hat einen Lern­pro­zess im Umgang mit Opfern sexua­li­sier­ter Gewalt hin­ter sich. In sei­ner Zeit als Bischof von Trier war er 2006 Hin­wei­sen auf sexu­el­len Miss­brauch durch einen Diö­ze­san­prie­ster nicht nach­ge­gan­gen. »Es plagt ihn noch immer sehr«, sag­te sein Spre­cher 2019 dem Spie­gel. Nun will er die Stif­tung als Ergän­zung zu den Auf­ar­bei­tungs­be­mü­hun­gen der Kir­che ver­stan­den wis­sen, nicht als Ersatz. Die Zah­lun­gen der Kir­che in Aner­ken­nung des erlit­te­nen Leids sind davon unbe­rührt. Die Deut­sche Bischofs­kon­fe­renz hat­te sich im Herbst auf ein ein­heit­li­ches Vor­ge­hen geei­nigt. Seit dem 1. Janu­ar ist die neue Ver­fah­rens­ord­nung in Kraft. Die Stif­tung will zusätz­li­che, selb­stän­di­ge Hilfs­an­ge­bo­te machen.

Die Exi­stenz der neu­en Stif­tung dür­fe nicht als Ablen­kung von der drin­gend not­wen­di­gen Auf­ar­bei­tung oder gar als Ersatz ver­stan­den wer­den, war­nen Kri­ti­ker. Sie ver­wei­sen dabei auf den aktu­el­len Skan­dal um den Köl­ner Erz­bi­schof, Kar­di­nal Rai­ner Maria Woel­ki, der im Ver­dacht steht, einen mut­maß­li­chen Fall von sexu­el­lem Miss­brauch ver­tuscht zu haben. Obwohl er um die kri­mi­nel­len Nei­gun­gen eines Pfar­rers wuss­te, hat­te er wegen des Miss­brauchs­vor­wurfs nicht wei­ter ermit­telt. Vor­wür­fe des sexu­el­len Miss­brauchs von Kin­dern und Jugend­li­chen durch Prie­ster im Erz­bis­tum Köln sor­gen seit gerau­mer Zeit für Schlag­zei­len. Woel­ki hat­te dazu ein Gut­ach­ten bei einer Münch­ner Kanz­lei in Auf­trag gege­ben, nach der Fer­tig­stel­lung aber beschlos­sen, es doch nicht zu ver­öf­fent­li­chen und die Namen der Täter nicht zu nen­nen. Er führ­te dafür recht­li­che Beden­ken an. Statt­des­sen beauf­trag­te er einen Köl­ner Straf­recht­ler mit einem neu­en Gut­ach­ten, das im März fer­tig wer­den soll. Fürch­tet sich der Got­tes­mann vor der Auf­ar­bei­tung der Fäl­le? Er hät­te allen Grund dazu.

Gibt es hier­zu­lan­de zwei par­al­le­le Rechts­sy­ste­me? Kön­nen sich Geist­li­che mit­hil­fe des Kir­chen­rechts dem Staats­recht ent­zie­hen? Genießt die Kir­che eine still­schwei­gen­de Unan­tast­bar­keit? Nein, es gibt kei­ne Aus­nah­men von der Straf­ver­fol­gung, wenn es um Miss­brauch und sexu­el­le Gewalt geht. War­um dann die Zurück­hal­tung der Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den? War­um ord­nen sie nicht an, dass die Gut­ach­ten her­aus­ge­ben und die Namen der Täter genannt wer­den müs­sen? Auch wenn die Kir­chen­ju­ri­sten gern dar­auf ver­wei­sen, dass staats­an­walt­schaft­li­che Ermitt­lungs­be­fug­nis­se nur bedingt in den Bin­nen­be­reich der Kir­che hin­ein­wir­ken dür­fen, muss klar sein: Der Staat hat einen Straf­ver­fol­gungs­an­spruch. Man nennt das: Rechtsstaat.

Seit im Jahr 2010 der Miss­brauchs­skan­dal bekannt wur­de, hat­ten Kar­di­nä­le, Bischö­fe und Pfar­rer vie­les getan, um zu ver­tu­schen. Per­so­nal­ak­ten wur­den mani­pu­liert und ver­nich­tet, Ver­dachts­fäl­le nicht an Poli­zei und Staats­an­walt­schaf­ten über­ge­ben, wie es in einem Rechts­staat selbst­ver­ständ­lich sein soll­te. Im Gegen­teil: Die Kir­che hat ihre Täter so lan­ge geschützt, bis man sie nicht mehr belan­gen konn­te. Im Mit­tel­punkt stand der Schutz der Kir­che, nicht das Leid der Opfer. Dara hat sich bis heu­te nichts geändert.

Das ver­que­re Ver­ständ­nis von der unbe­fleck­ten und unbe­fleck­ba­ren Kir­che ist zwar schon lan­ge zer­bröckelt, die Glaub­wür­dig­keit der Kir­chen­ober­häup­ter lädiert, doch in vie­len Bis­tü­mern dröhnt noch immer das lau­te Schwei­gen, wenn es um die Miss­brauchs­fäl­le im eige­nen Spren­gel geht. Immer­hin: Es gibt auch Bischö­fe, die die Dra­ma­tik der Lage erkannt haben und den Blick auf jene rich­ten, die bestän­dig im ver­lo­ge­nen Weih­rauch­ne­bel unsicht­bar geblie­ben sind: die Opfer. Der Bischof von Hil­des­heim, Hei­ner Wil­mer, for­mu­lier­te es am deut­lich­sten: »Der Miss­brauch von Macht steckt in der DNA der Kir­che. Wir müs­sen radi­kal umdenken.«

Die »Radi­ka­li­tät« die­ses Umden­kens wur­de bei­spiels­wei­se am 25. Sep­tem­ber 2018 der Öffent­lich­keit prä­sen­tiert. An die­sem Tag stell­te der dama­li­ge Ober-Katho­lik und heu­ti­ge Stif­tungs­grün­der Rein­hard Kar­di­nal Marx nach einer mor­gend­li­chen Pre­digt im Dom zu Ful­da die Ergeb­nis­se einer neu­en Stu­die vor. Ihr Titel: »Sexu­el­ler Miss­brauch an Min­der­jäh­ri­gen durch katho­li­sche Prie­ster, Dia­ko­ne und männ­li­che Ordens­an­ge­hö­ri­ge im Bereich der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz«. Unter­sucht wor­den waren Miss­brauchs­fäl­le aus dem Zeit­raum 1946 bis 2014. Eine For­scher­grup­pe hat­te Per­so­nal- und Hand­ak­ten von Kle­ri­kern der 27 Diö­ze­sen aus­ge­wer­tet – und 1.670 Beschul­dig­te gefun­den. Die Zahl der Opfer: 3677.

For­scher durf­ten die Akten frei­lich nicht ein­fach aus den Archi­ven holen und lesen. Anwäl­te der Diö­ze­sen wähl­ten sie vor­ab aus, anschlie­ßend wur­den sie den Wis­sen­schaft­lern anony­mi­siert über­ge­ben. Weder die Tat­zei­ten noch die Tat­or­te, schon gar nicht die Täter waren iden­ti­fi­zier­bar. Vie­le Namen und Anga­ben waren geschwärzt. Ohne­hin konn­ten nur die Fäl­le aus­ge­wer­tet wer­den, die über­haupt akten­kun­dig sind. Unzäh­li­ge Unter­la­gen aber waren ver­nich­tet oder mani­pu­liert wor­den. Die Unter­su­chung eine Far­ce, die Stu­die ohne Aussagewert.

Geht es para­do­xer? Bischö­fe – oft genug Ver­tu­scher und Mani­pu­lie­rer – kon­trol­lie­ren selbst, der Zugang zu den Archi­ven unter­liegt dem Selbst­be­stim­mungs­recht der Kir­chen. Bei einem Ver­dacht über­nimmt die Unter­su­chung nicht die Staats­an­walt­schaft, son­dern die Kir­che selbst. Eine kirch­li­che Par­al­lel­ju­stiz, die Täter schützt. Ver­leug­nen und Ver­tu­schen in fried­li­cher Ko-Exi­stenz. Sexu­el­ler Miss­brauch, ein soge­nann­tes Offi­zi­al­de­likt, eine Straf­tat, die von Amts wegen von der Staats­an­walt­schaft ver­folgt wer­den muss, aber weder von den Kle­ri­kern noch von den Ermitt­lungs­be­hör­den mit Nach­druck ver­folgt wird. Selbst nach der Ver­öf­fent­li­chung der »Miss­brauchs­stu­die« blei­ben die deut­schen Staats­an­walt­schaf­ten weit­ge­hend untä­tig. Der Rechts­staat macht einen Kniefall.

Man stel­le sich ein­mal vor, in einem ande­rem »Unter­neh­men« wer­den über Jahr­zehn­te Tau­sen­de schwe­re und schwer­ste Straf­ta­ten began­gen. Der Vor­stand weiß davon, aber er ver­tuscht es, deckt die Täter und ver­hängt kei­ne sicht­ba­ren Sank­tio­nen. Nor­ma­ler­wei­se müss­te man die Staats­an­walt­schaft ein­schal­ten, aber das Unter­neh­men unter­nimmt nichts. Und wo kein Klä­ger, da kein Ermitt­ler. Hier aber ging und geht es nicht um ein nor­ma­les Unter­neh­men, son­dern um eine Welt­fir­ma, die als Allein­stel­lungs­merk­mal Barm­her­zig­keit und Glaub­wür­dig­keit beansprucht.

Es brauch­te eine Grup­pe enga­gier­ter Staat­rechts-Pro­fes­so­ren, die im Okto­ber 2018 »Anzei­ge gegen Unbe­kannt« erstat­te­ten und die­se bei Staats­an­walt­schaf­ten im Bezirk jeder Diö­ze­se ein­reich­ten. Die Pro­fes­so­ren erin­ner­ten die Ermitt­ler an ihre »unbe­ding­te Pflicht«, dem offen­sicht­li­chen »Anfangs­ver­dacht« nach­zu­ge­hen. Sie zeig­ten sich über­rascht dar­über, »wie zurück­hal­tend Staat und Öffent­lich­keit (bis­lang) mit dem alar­mie­ren­den Anfangs­ver­dacht schwe­rer Ver­bre­chen umgehen«.

Die Juri­sten zogen einen mar­kan­ten Ver­gleich: »Man stel­le sich nur ein­mal vor, ein Able­ger der kala­bri­schen Mafia ›Ndran­ghe­ta‹ hät­te einem Wis­sen­schaft­ler Zugang zu sei­nen in Deutsch­land befind­li­chen Archi­ven gewährt, der dar­auf­hin auf­trags­ge­mäß eine Stu­die ver­öf­fent­licht hät­te, wor­in er zahl­rei­che (…) in Deutsch­land began­ge­ne Ver­bre­chen schil­dert, wor­auf­hin der ›Pate‹ sich wort­reich bei den Opfern ent­schul­digt, sich aller­dings zugleich wei­gert, die Akten der Poli­zei zu über­ge­ben (…). Es wür­de kein Tag ver­ge­hen, bis die Poli­zei sämt­li­che Akten in allen auf deut­schem Boden befind­li­chen Mafia­ar­chi­ven beschlag­nahmt hät­te, um die Täter zu ermit­teln und anzu­kla­gen. Es gibt kei­nen ein­leuch­ten­den Grund, war­um dies im Fall der Katho­li­schen Kir­che anders sein sollte.«

Gera­de ein­mal vier Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den hat­ten dar­auf­hin Ende Okto­ber 2018 Ermitt­lun­gen »gegen Unbe­kannt« auf­ge­nom­men. Durch­su­chun­gen und Beschlag­nah­mun­gen mög­li­cher Beweis­mit­tel fan­den nir­gend­wo statt. Es scheint, als gel­ten für die Kir­che die Grund­sät­ze des Rechts­staats nur bedingt. Ein andau­en­der Skan­dal, irri­tie­rend igno­riert von der Politik.

Was tun? Noch einen Offe­nen Brief an den Herrn Kar­di­nal, an den lie­ben Bischof? Beten für den Wan­del? Die Kir­che mag gern neue Maß­stä­be für den inter­nen Umgang ihrer Sexu­al­tä­ter ent­wickeln, im Rechts­staat gel­ten sie längst – und zwar für alle Täter.

 

Hel­mut Ort­ner (www.helmutortner.de) ist Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt »EXIT – War­um wir weni­ger Reli­gi­on brau­chen«, erschie­nen im Nomen Ver­lag, 360 Sei­ten, 24 €.