Die Stiftung hat einen hoffnungsfrohen Namen: »Spes et Salus – Hoffnung und Heil«. Unter diesem Titel hat der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx vor einigen Wochen eine gemeinnützige Stiftung für »Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche« gegründet. Marx selbst zahlt eine halbe Million Euro in die Stiftung ein – den »allergrößten Teil seines Privatvermögens«, wie ein Sprecher wissen lässt. Der Gottesmann erklärt die stattliche Summe laut Süddeutscher Zeitung damit, dass er stets verantwortlich mit seinen Bezügen umgegangen sei. Als Erzbischof ist der Kardinal der staatlichen Besoldungsgruppe B 10 zugeordnet. Die aktuelle Tabelle weist dafür ein Monatsbrutto von 13.654 Euro aus.
Kardinal Marx selbst hat einen Lernprozess im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt hinter sich. In seiner Zeit als Bischof von Trier war er 2006 Hinweisen auf sexuellen Missbrauch durch einen Diözesanpriester nicht nachgegangen. »Es plagt ihn noch immer sehr«, sagte sein Sprecher 2019 dem Spiegel. Nun will er die Stiftung als Ergänzung zu den Aufarbeitungsbemühungen der Kirche verstanden wissen, nicht als Ersatz. Die Zahlungen der Kirche in Anerkennung des erlittenen Leids sind davon unberührt. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte sich im Herbst auf ein einheitliches Vorgehen geeinigt. Seit dem 1. Januar ist die neue Verfahrensordnung in Kraft. Die Stiftung will zusätzliche, selbständige Hilfsangebote machen.
Die Existenz der neuen Stiftung dürfe nicht als Ablenkung von der dringend notwendigen Aufarbeitung oder gar als Ersatz verstanden werden, warnen Kritiker. Sie verweisen dabei auf den aktuellen Skandal um den Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, der im Verdacht steht, einen mutmaßlichen Fall von sexuellem Missbrauch vertuscht zu haben. Obwohl er um die kriminellen Neigungen eines Pfarrers wusste, hatte er wegen des Missbrauchsvorwurfs nicht weiter ermittelt. Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester im Erzbistum Köln sorgen seit geraumer Zeit für Schlagzeilen. Woelki hatte dazu ein Gutachten bei einer Münchner Kanzlei in Auftrag gegeben, nach der Fertigstellung aber beschlossen, es doch nicht zu veröffentlichen und die Namen der Täter nicht zu nennen. Er führte dafür rechtliche Bedenken an. Stattdessen beauftragte er einen Kölner Strafrechtler mit einem neuen Gutachten, das im März fertig werden soll. Fürchtet sich der Gottesmann vor der Aufarbeitung der Fälle? Er hätte allen Grund dazu.
Gibt es hierzulande zwei parallele Rechtssysteme? Können sich Geistliche mithilfe des Kirchenrechts dem Staatsrecht entziehen? Genießt die Kirche eine stillschweigende Unantastbarkeit? Nein, es gibt keine Ausnahmen von der Strafverfolgung, wenn es um Missbrauch und sexuelle Gewalt geht. Warum dann die Zurückhaltung der Strafverfolgungsbehörden? Warum ordnen sie nicht an, dass die Gutachten herausgeben und die Namen der Täter genannt werden müssen? Auch wenn die Kirchenjuristen gern darauf verweisen, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungsbefugnisse nur bedingt in den Binnenbereich der Kirche hineinwirken dürfen, muss klar sein: Der Staat hat einen Strafverfolgungsanspruch. Man nennt das: Rechtsstaat.
Seit im Jahr 2010 der Missbrauchsskandal bekannt wurde, hatten Kardinäle, Bischöfe und Pfarrer vieles getan, um zu vertuschen. Personalakten wurden manipuliert und vernichtet, Verdachtsfälle nicht an Polizei und Staatsanwaltschaften übergeben, wie es in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Im Gegenteil: Die Kirche hat ihre Täter so lange geschützt, bis man sie nicht mehr belangen konnte. Im Mittelpunkt stand der Schutz der Kirche, nicht das Leid der Opfer. Dara hat sich bis heute nichts geändert.
Das verquere Verständnis von der unbefleckten und unbefleckbaren Kirche ist zwar schon lange zerbröckelt, die Glaubwürdigkeit der Kirchenoberhäupter lädiert, doch in vielen Bistümern dröhnt noch immer das laute Schweigen, wenn es um die Missbrauchsfälle im eigenen Sprengel geht. Immerhin: Es gibt auch Bischöfe, die die Dramatik der Lage erkannt haben und den Blick auf jene richten, die beständig im verlogenen Weihrauchnebel unsichtbar geblieben sind: die Opfer. Der Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, formulierte es am deutlichsten: »Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche. Wir müssen radikal umdenken.«
Die »Radikalität« dieses Umdenkens wurde beispielsweise am 25. September 2018 der Öffentlichkeit präsentiert. An diesem Tag stellte der damalige Ober-Katholik und heutige Stiftungsgründer Reinhard Kardinal Marx nach einer morgendlichen Predigt im Dom zu Fulda die Ergebnisse einer neuen Studie vor. Ihr Titel: »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz«. Untersucht worden waren Missbrauchsfälle aus dem Zeitraum 1946 bis 2014. Eine Forschergruppe hatte Personal- und Handakten von Klerikern der 27 Diözesen ausgewertet – und 1.670 Beschuldigte gefunden. Die Zahl der Opfer: 3677.
Forscher durften die Akten freilich nicht einfach aus den Archiven holen und lesen. Anwälte der Diözesen wählten sie vorab aus, anschließend wurden sie den Wissenschaftlern anonymisiert übergeben. Weder die Tatzeiten noch die Tatorte, schon gar nicht die Täter waren identifizierbar. Viele Namen und Angaben waren geschwärzt. Ohnehin konnten nur die Fälle ausgewertet werden, die überhaupt aktenkundig sind. Unzählige Unterlagen aber waren vernichtet oder manipuliert worden. Die Untersuchung eine Farce, die Studie ohne Aussagewert.
Geht es paradoxer? Bischöfe – oft genug Vertuscher und Manipulierer – kontrollieren selbst, der Zugang zu den Archiven unterliegt dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Bei einem Verdacht übernimmt die Untersuchung nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Kirche selbst. Eine kirchliche Paralleljustiz, die Täter schützt. Verleugnen und Vertuschen in friedlicher Ko-Existenz. Sexueller Missbrauch, ein sogenanntes Offizialdelikt, eine Straftat, die von Amts wegen von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden muss, aber weder von den Klerikern noch von den Ermittlungsbehörden mit Nachdruck verfolgt wird. Selbst nach der Veröffentlichung der »Missbrauchsstudie« bleiben die deutschen Staatsanwaltschaften weitgehend untätig. Der Rechtsstaat macht einen Kniefall.
Man stelle sich einmal vor, in einem anderem »Unternehmen« werden über Jahrzehnte Tausende schwere und schwerste Straftaten begangen. Der Vorstand weiß davon, aber er vertuscht es, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Und wo kein Kläger, da kein Ermittler. Hier aber ging und geht es nicht um ein normales Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als Alleinstellungsmerkmal Barmherzigkeit und Glaubwürdigkeit beansprucht.
Es brauchte eine Gruppe engagierter Staatrechts-Professoren, die im Oktober 2018 »Anzeige gegen Unbekannt« erstatteten und diese bei Staatsanwaltschaften im Bezirk jeder Diözese einreichten. Die Professoren erinnerten die Ermittler an ihre »unbedingte Pflicht«, dem offensichtlichen »Anfangsverdacht« nachzugehen. Sie zeigten sich überrascht darüber, »wie zurückhaltend Staat und Öffentlichkeit (bislang) mit dem alarmierenden Anfangsverdacht schwerer Verbrechen umgehen«.
Die Juristen zogen einen markanten Vergleich: »Man stelle sich nur einmal vor, ein Ableger der kalabrischen Mafia ›Ndrangheta‹ hätte einem Wissenschaftler Zugang zu seinen in Deutschland befindlichen Archiven gewährt, der daraufhin auftragsgemäß eine Studie veröffentlicht hätte, worin er zahlreiche (…) in Deutschland begangene Verbrechen schildert, woraufhin der ›Pate‹ sich wortreich bei den Opfern entschuldigt, sich allerdings zugleich weigert, die Akten der Polizei zu übergeben (…). Es würde kein Tag vergehen, bis die Polizei sämtliche Akten in allen auf deutschem Boden befindlichen Mafiaarchiven beschlagnahmt hätte, um die Täter zu ermitteln und anzuklagen. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, warum dies im Fall der Katholischen Kirche anders sein sollte.«
Gerade einmal vier Strafverfolgungsbehörden hatten daraufhin Ende Oktober 2018 Ermittlungen »gegen Unbekannt« aufgenommen. Durchsuchungen und Beschlagnahmungen möglicher Beweismittel fanden nirgendwo statt. Es scheint, als gelten für die Kirche die Grundsätze des Rechtsstaats nur bedingt. Ein andauender Skandal, irritierend ignoriert von der Politik.
Was tun? Noch einen Offenen Brief an den Herrn Kardinal, an den lieben Bischof? Beten für den Wandel? Die Kirche mag gern neue Maßstäbe für den internen Umgang ihrer Sexualtäter entwickeln, im Rechtsstaat gelten sie längst – und zwar für alle Täter.
Helmut Ortner (www.helmutortner.de) ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen«, erschienen im Nomen Verlag, 360 Seiten, 24 €.