Überall, wo zwei Menschen zusammenstehen, ist er schon da. Man sieht ihn nicht sofort. Aber sobald ein Dritter hinzukommt, rührt er sich. Der beschränkte Blick ist sein Erkennungszeichen. Er ist der Herr der Vorurteile. Er sitzt in jedem U-Bahn-Waggon. Er ist auf allen Bahnsteigen, an jedem Flughafen, auf jeder Autobahnraststätte. Er rast durch jede Firma und jedes Amt. In allen Familien hockt er mit auf der Couch. Jederzeit ist er da. An jedem Ort. Unermüdlich ist er aktiv und ruft: »Du bist nicht so, wie ich dich haben will. Ich mach dich klein. Ich mach dich platt.« Jedem zeigt er sofort, wo der Hammer hängt. »Ich bin richtig. Und du bist falsch.« Das ist sein zentraler Glaubenssatz.
Sein permanentes Rechthaben, sein Anspruch auf Deutungshoheit, das ist sein zweites Erkennungszeichen. Er ist der Rechthaber mit dem erhobenen Zeigefinger. Er ist der Diktator des Alltags. Wer das ist? Es ist der Gott des Zeitgeistes. Der rasende Prokrustes ist unser aller Zeitgeistgott. Und er ist nicht allein. Es ist die riesige Armee der Rechthaber, die diesem Gott der Vorurteile und des Mittelmaßes jeden Tag ihren Tribut zollt, ihm jede Unterstützung gibt. Deshalb ist der rasende Prokrustes auch so mächtig. Was ich weiß: Je eingesperrter jemand in sich selbst ist, desto dringender versucht er, andere in seine Hundehütte hineinzuzerren. Je eingesperrter der Mensch, umso anstrengender ist er. Was ich auch weiß: Abhängigkeit ist eine Form der Einschränkung. Alle brauchen das. Keiner kann ohne Beschränkung leben. Auch ich nicht. Was ich sehe: Die Dominanz des beschränkten Blicks fördert in jeder Gesellschaft, in jedem Staat, etwas eigenwillig Normales. Es ist die Herrschaft der Mittelnasen. Überall repräsentiert ihn der gleiche Typus. Seine Maxime lautet: »Ich tue doch mein Bestes. Wenn der Chef mich nicht ruft, dann gehe ich auch nicht.« Der Mensch mit dem beschränkten Blick bleibt in der Deckung. Er bewegt sich nicht. Er bleibt hinter dem großen Stein versteckt. Dann sieht ihn auch keiner. Seine Grundhaltung: »Ich kann mich nicht entscheiden. Sag du mir doch, was ich tun soll.« Er hat die tiefe Sehnsucht nach Anleitung und Führung, er sucht nach jemandem, der ihm sagt, was zu tun ist. Erst dann fühlt er sich wohl. Er handelt nur dann, wenn andere ihm vorausgehen. Das ist der autoritäre Charakter. Was folgt daraus für das Zusammenspiel der Gesellschaft? Das Leben bleibt an der Oberfläche. Das Leben wird zu einer Autobahn der Wahrnehmung. Es gibt eine Neigung zur Wiederholung, zum Altbekannten, zum Kitsch. Der rasende Prokrustes läuft so immer schneller an der Oberfläche voran. Er hat keinen Widerstand mehr. Es ergibt sich kein Tiefgang. Die Wiederholung in der Endlosschleife bleibt.
In jeder Gesellschaft gibt es notwendig noch andere Charaktertypen. Ich komme auf Fünf. Das ist willkürlich. Ich weiß. Aber in jeder Willkür steckt auch eine Erkenntnis. Ein bestimmender Charaktertypus ist der Psychopath. Das ist für mich Typ 5. Er ist der Typ, der immer obenauf schwimmt. Seine Maxime lautet: »Du kannst mir gar nichts. Aber ich kann dir alles.« Ein Großteil der Kunst ist ähnlich entstanden. Kein Künstler, kein erfolgreicher Macher, kein erfolgreicher Politiker kann ohne diese Haltung auskommen. Der beschränkte Blick gehört zu allen Charaktertypen. Einer von ihnen ist der Konfliktjunkie, der sich immer im Recht sieht und nur im Konflikt mit anderen sich wohl fühlt.
Der rasende Prokrustes beginnt seine grundlegende Arbeit in jedem Kindergarten. Ich behaupte: Fünf Mal am Tag gegen Mekka beten oder von Spiderman träumen – das macht andere Menschen. Es sind die Vorurteile derer, die das Kind großziehen. Welche Gedanken haben Oma und Opa über die Welt? Was kommt davon herüber zu den Enkeln? Welche Sätze sagen die Eltern? Welche die Erzieher und Lehrer? Welche Bilder haben sich für Kinder und Enkel tief in das Gedächtnis eingegraben? In jeder Gesellschaft ist der rasende Prokrustes so über Generationen aktiv. Der Mensch mit dem beschränkten Blick hat keinen Geschmack. Geschmack zu haben, ist ein Akt der Freiheit. Der Mensch mit dem beschränkten Blick fördert überall auf der Welt »die Herrschaft der Mittelnasen«. Und was geschieht? »Mittelnasen« schleppen immer mehr Bretter und Abgrenzungen heran. Aber wir alle sind immer wieder mal Mittelnasen. Wir halten das, was wir sehen, für die Realität. Es ist aber nur der beschränkte Blick, der so bequem ist.
Die Rechthaber bevölkern die Fernsehstudios, die Amtsstuben, Großraumbüros und Handelskammern. Das Rechthabenwollen ist, wie ich finde, der schlimmste gesellschaftliche Kampfsport. Der erhobene Zeigefinger, als Kennzeichen des Rechthabers, bis hin zur Willkür seiner tatsächlichen Aktion; dieser erhobene Zeigefinger wird so schnell nicht verschwinden. Die Rechthaber, die überall auf der Welt ihre starre Unbeweglichkeit wie eine Monstranz vor sich hertragen, sie werden auch in Zukunft durch große und kleine Städte gehen. Die Selbstgerechten werden immer Nachkommen finden. Das Rechthaben wird in Deutschland bleiben und auch weltweit nicht aus der Mode kommen. Das Rechthaben ist der Untergrund, es ist die tiefe Unterströmung, die das bestimmt, was zum Problem wird. Jede Debatte in Deutschland, aber auch anderswo in der Welt, beginnt mit der immergleichen Kampffrage: »Wer hat Recht?« Jede Debatte endet auch so.
In allen Gruppen gibt es den Ein-Punkt-Menschen, der andere Klamotten trägt, langsamer denkt, langsamer handelt als die Mehrheit der Zwei-Punkt-Menschen. Und es gibt den Drei-Punkt-Menschen, der in allem zu schnell für die anderen ist oder mit allem, was oder wie er etwas tut, allen zu viel ist. In jeder Gruppe wird so der Ein-Punkt-Mensch, aber auch der Drei-Punkt-Mensch vom rasenden Prokrustes auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – auf das enge Maß der Gruppe gestutzt. Deshalb gibt es immer wieder einen, der für die anderen zum Blitzableiter wird. Und es ist immer der Eine (oder die Eine), der (oder die) sich nicht anpasst oder nicht anpassen kann.
Der Rasende Prokrustes ist unsichtbar. Er dirigiert die Macht und die Ohnmacht. Er dirigiert die Vorurteile. Er dirigiert die Stärken und die Schwächen. Solange er nicht sichtbar wird, stutzt er alles auf sein Maß zurecht. Deshalb ist er so wirkmächtig. Der Rasende Prokrustes treibt nicht nur in Deutschland sein Unwesen. Ihn gibt es überall auf der Welt. Der Rasende Prokrustes beherrscht die Internationale der Beschränkung. Auf Englisch ruft man ihn: Procrustean bed. In Frankreich ist er: Lit de Procaste. In Italien: Letto di Procaste. Spanisch wird er: Lecho de Procusto gerufen. In Schweden ist er: Prokrustesbädd. Und in Litauen: Prokrusta gulta. Überall ist es das Vorurteil, die Beschränkung, das Schema oder die Theorie, in die er jede Realität gewaltsam hineindrängt.