Die größte Stadt in Sachsen-Anhalt hat seit einem dreiviertel Jahr keinen Oberbürgermeister mehr. Was die Bürger erstaunt: Die Stadtverwaltung funktioniert trotzdem irgendwie. Noch immer wird jeden Mittwoch alle 14 Tage der Restmüll abgeholt, und nach wie vor sind die Leitungen im Ordnungsamt besetzt. Fast könnte man glauben, selbst eine Großstadt wie Halle braucht eigentlich gar kein Stadtoberhaupt. Und mal ehrlich: Dessen Gehalt wäre in der chronisch klammen Stadt sicher auch an anderer Stelle gut zu investieren.
Im April 2021 wurde Bernd Wiegand spektakulär suspendiert. Ihm wurde verboten, sein Dienstzimmer im Rathaus zu betreten, Dienstlaptop und -handy musste er abgeben. Da war dank Markus Lanz bereits bundesweit bekannt, dass sich Wiegand im Januar 2021 bei der Impfung gegen Corona vorgedrängelt haben soll. Und mehr noch: Ihm wird vorgeworfen, im Stadtrat und in der Stadtverwaltung ein Günstlingsnetzwerk in Sachen Impfschutz organisiert zu haben.
Seitdem beschäftigt die Causa Wiegand verschiedene Gerichte, aktuell das Oberverwaltungsgericht. Wenn sich Wiegand nicht gerade auf Twitter darüber beklagt, dass hier eine Schmutzkampagne gegen einen partei- und deshalb vermeintlich wehrlosen Politiker gefahren wird, übt er sich in neuer Bürgernähe, beispielsweise als Hilfssheriff im Stadtbad.
Die Hallenser regt diese Sache nun längst nicht mehr auf. Als sich Wiegand vor zehn Jahren erstmals um den Posten des Oberbürgermeisters bewarb, schob ihn eine Welle der Euphorie ins Amt. Endlich Schluss mit den ewig gleichen Gesichtern, endlich mehr Sachverstand als Parteilinie. Aber Wiegand verspielte diesen Bonus schnell. Er verstrickte sich in kleinlichen Debatten mit dem Stadtrat, viele Angelegenheiten landeten vor Gerichten, viele wichtige Themen blieben auf halber Strecke liegen, so dass Halle beispielsweise bis heute keinen vernünftigen Hochwasserschutz hat. Das ist am Zusammenfluss von Weißer Elster und Saale aber natürlich nur ein randständiges Problem.
Nach zehn Jahren umgibt Wiegand das Image eines rechthaberischen und kleingeistigen Querulanten. Dass er seine Vertrauten zu vorfristigen Terminen verholfen haben soll, muss nicht stimmen, passt aber zu dem Bild, das sich viele Bürger inzwischen von ihm gemacht haben.
Dass Wiegand all das nicht wahrnehmen kann oder immer noch glaubt, das Ruder rumreißen zu können, kann als hartnäckig bewundert werden. Man kann darin aber auch eine Form der Realitätsverweigerung sehen.
Im Stadtrat hält noch eine schweigende Minderheit dem geschassten Oberbürgermeister die Nibelungentreue. Besonders das Bündnis »Hauptsache Halle« hat sich politisch so sehr auf Wiegand festgelegt, dass die Abgeordneten ohne ihn wohl kaum eine Zukunft im Stadtrat haben werden.
Erst 2019 wurde Wiegand im Amt bestätigt. Die nächste Wahl zum Oberbürgermeister findet planmäßig erst 2026 statt. Ohne Frage: Wiegand wird die Gerichte bis dahin locker beschäftigen können. Als geübter Langstreckenläufer verfügt er über die nötige Ausdauer. Die Stadt scheint bis dahin ohne ihren Oberbürgermeister nicht gänzlich vor die Hunde zu gehen. Ob der Fall Wiegand am Ende eher zur Anekdote wird oder in das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler eingeht, wird sich noch zeigen.