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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Mauerfäller (West)

Ich ste­he an einem Bahn­steig und ver­su­che, nicht von einem der Tau­sen­den neben mir in das Gleis­bett gesto­ßen zu wer­den. Was es in sol­chen Situa­tio­nen nicht gibt, sind ein Zug und die Aus­halt­bar­keit der Situa­ti­on. Außer­dem hängt hier kein Flach­bild­schirm, mit dem ich ruhig­ge­stellt wer­den könn­te. Als ich gera­de durch­dre­he, steht ein über­di­men­sio­na­les auto­ma­ten­ge­druck­tes Neun-Euro-Ticket vor mir in der Luft, flat­tert mit den Papp­rän­dern und schreit mich und die Mit­war­ten­den an:

Hey Leu­te, habt ihr noch Bock?! Ich hab noch so was von Bock!! Grad mal zwei Mona­te Wahn­sinn und schon wie­der see­len­ru­hig zu Hau­se sit­zen?? Nie­mals!! Aller Wahn­sinns Din­ger sind drei!! Her­ein­spa­ziert in die gute Tube, ich spritz euch in den hin­ter­sten Win­kel Deutsch­lands!! Nach Sylt? Na, war­um denn nicht auf die Flach­wich­ser-Pfle­ge­insel! Zug­spit­ze? Aber ja, immer druff, bis­se oben platt iss! Wie bit­te?? Ob ich was ohne Aus­ru­fe­zei­chen sagen könne.

Klar: Fällt – heu­te – aus. Grund dafür ist ein kurz­fri­sti­ger Per­so­nal­aus­fall. Wir bit­ten um Entschuldigung.

Hin­ter­grund: Das Per­so­nal sitzt kurz­fri­stig in der Klaps­müh­le. Ja Leu­te, ihr müsst auch nicht alle gleich­zei­tig. Das funk­tio­niert doch nicht. Wer­det mal ein biss­chen digi­ta­ler. Schwarm­in­tel­li­genz – schon mal gehört? Der Pro­vinz auch mal die Chan­ce geben. Oder mal Mitt­woch Mit­ter­nacht. Statt­des­sen quetscht ihr euch alle dahin, wo es nett ist, und nur am Wochen­en­de. Werk­tags, die gan­zen Berufs­pend­ler – die braucht doch kei­ner. Nehmt ein­fach deren Züge, mög­lichst mit Fahr­rad, dann habt ihr ganz schnell eure Ruhe und die Indu­strie auch. Bloß weil drei­mal so vie­le Leu­te Zug fah­ren, las­sen wir doch nicht mehr Züge fah­ren. Und wenn wir sie hät­ten – das wür­den wir nie tun!

Ich sage »wir«, weil ich ein Mini­ster­kind bin. Ich regie­re mit. Wuss­tet ihr eigent­lich, dass mein Dad, der Vol­ker, ein rich­ti­ger Spaß­vo­gel ist? Er gilt als lang­wei­lig, aber das Gegen­teil ist wahr. Ein Lau­ser ist das, ein Strei­che­ma­cher. Der freut sich total über mich. Ihr wisst ja nicht, wie lang­wei­lig regie­ren ist. Da muss man mal was Ver­rück­tes machen wie mich. Also der Vol­ker ist zufrie­den mit mir. »Du hast einen Moder­ni­sie­rungs­schub aus­ge­löst«, sagt er zu mir. Kom­pli­men­te muss man nicht ver­ste­hen. »Durch dich ist der ÖPNV digi­ta­ler gewor­den.« Kapier ich auch nicht. »Ein­fa­cher gewor­den«?? »Stär­ker auf die Fahr­gä­ste aus­ge­rich­tet«??? »In weni­ger als 0,1 Pro­zent der Züge muss­te das Sicher­heits­per­so­nal ein­grei­fen.« Das stimmt, weil in weni­ger als 0,1 Pro­zent der Züge irgend­wel­ches Sicher­heits­per­so­nal auf­taucht. Egal, der Vol­ker hat einen eng­li­schen Nach­na­men, auf Deutsch bedeu­tet er: der Wis­sen­de. Vor allem freut sich der Vol­ker über mich, und das ist es, was für ein Kind zählt.

Ich bin sogar ein biss­chen stolz auf mich. Im Grun­de bin ich der west­deut­sche Mau­er­fall. Auf ein­mal kön­nen die Men­schen rei­sen! Die Mau­er der Armut um sie ist gefal­len (für einen Som­mer). Jetzt sehen sie das Land, das sie bis­her nur aus dem West­fern­se­hen kann­ten. Sogar die Gefäng­nis­se wer­den bald leer sein in Deutsch­land. Fünf­zig­tau­send Men­schen sit­zen gera­de in einem deut­schen Knast, weil sie eine Geld­stra­fe nicht bezah­len konn­ten. Die häu­fig­ste die­ser Stra­fen ist die fürs Schwarzfahren.

Zum Schluss ver­ra­te ich euch noch ein Geheim­nis. Aber bit­te sagt es nicht dem Vol­ker. In Wirk­lich­keit hat mich Robert Habeck gezeugt, und zwar im Auf­trag der Auto­mo­bil­in­du­strie. Kein Auto­fah­rer, der für neun Euro mal mit einem Regio­nal­zug gefah­ren ist, traut sich das jemals wie­der. Zum Psych­ia­ter geht er: Herr Dok­tor, habe ich das alles geträumt? Und dann rennt er ins näch­ste Autohaus.