Der Autorin Jeanette Erazo Heufelder »begegnete« ich zum ersten Mal im Borderland, in der archaischen Landschaft entlang des Rio Bravo, wie der Strom in Mexiko heißt, bzw. des Rio Grande, wie er in den USA genannt wird. Dieses US-amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet, wo Trump einen Super-Zaun bauen wollte, hatte Heufelder bereist, und ich hatte ihre Reportage in Ossietzky vorgestellt (siehe Ossietzky 23/2018 »Karawane in die Vorhölle«).
Die Ebenen in der Nähe des Flusses sind von Hochplateaus durchzogen. Eines der westlichen trägt den Namen Los Alamos, das Plateau der Pappeln, erst Standort einer Missionsstation, viel später eines geheimen Forschungszentrums der USA. 430 km südlicher, in Alamogordo, wurde am 16. Juli 1945 die erste Atombombe der Welt gezündet. Mehrere Jahrzehnte zuvor hatte sich der Kunsthistoriker und Kunstwissenschaftler Aby Warburg (1866-1929) aus der bekannten Hamburger Bankiersfamilie in diesem Landstrich auf die Suche gemacht nach dem Einfluss heidnisch-antiker Symbole auf die Glaubenslehren des Hinduismus, Judentums und Christentums (siehe Ossietzky 22/2017 »Schlangen und Finsternis«).
Ende des kurzen Prologs, in dem ich nicht ohne Absicht den Bogen gespannt habe von Jeanette Erazo Heufelder bis zu Aby Warburg, ist doch am 11. Oktober zur Frankfurter Buchmesse das neueste Buch der Autorin erschienen, in dessen Mittelpunkt ein anderer Spross der berühmten Banker-Dynastie steht: Eric Warburg und seine »vielen Leben«.
Ich sage es vorweg: Mit 200 Seiten, ohne den Anmerkungsapparat, ist das Buch zwar relativ überschaubar, dafür aber prall gefüllt mit Informationen, sodass man fast atemlos der Geschichte des das 20. Jahrhundert widerspiegelnden Wirkens der weitverzweigten deutsch-jüdischen Unternehmerfamilie aus Bankiers, Mäzenen, Politikberatern und Wissenschaftlern und ihres internationalen Netzwerks folgt. Mit Otto Heinrich Warburg erhielt 1931 ein Familienmitglied sogar den Nobelpreis für Medizin.
Heute ist die Warburg Bank in Hamburg die größte inhabergeführte Privatbank Deutschlands. Mehr als 80 Prozent der Gesellschafteranteile gehören den Familien von Max M. Warburg Jr. und Christian Olearius. Letzterer ist aktuell bekannt aus Presse, Funk und Fernsehen durch die umstrittenen Cum-Ex-Aktiengeschäfte des Instituts und seine Kontakte zu dem heutigen Bundeskanzler und vormaligen Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Olaf Scholz.
Im Zentrum des Buches steht, sein Titel sagt es, Erich Moritz Warburg, am 15. April 1900 in Hamburg geboren, der für seinen Vornamen nach seiner Emigration in die USA und der Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft im Jahr 1938 die angelsächsische Schreibweise Eric gewählt hatte. Er kehrte nach 1945 als Einziger aus seiner Familie nach Deutschland zurück und machte die Pflege der deutsch-amerikanischen Beziehung zu seiner Herzensangelegenheit. Heufelder spürt in ihrem Buch dem Ursprung und den Motiven dieses ungewöhnlichen Engagements in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Schon Erics Vater Max Moritz Warburg war nicht nur Bankier, sondern auch Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und Berater von Kaiser Wilhelm II.
Onkel Aby Warburg – siehe oben – hatte dagegen der Bankierslaufbahn entsagt und sich stattdessen die finanzielle Unterstützung der Familie bei dem Aufbau einer fächerübergreifenden kulturwissenschaftlichen Bibliothek ausbedungen. Heufelder schildert in einem etwas lang geratenen Teil akribisch, auf welchem Wege diese Bibliothek 1933 vor der Bücherverbrennung gerettet und mit welchen von Eric ausgetüftelten Winkelzügen sie nach London verschifft werden und so vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten bewahrt werden konnte. Es waren 531 Kisten Bücher, die schon am 12. Dezember 1933 den Hamburger Hafen mit Kurs England verließen. Trotz aller folgenden Bemühungen des amerikanischen Familienzweigs, die Bücher in die USA zu holen, blieb Aby Warburgs Bibliothek dank Erics Veto in London und damit in Europa. Im Dezember 1944 stiftete die Warburg-Familie die kulturwissenschaftliche Bibliothek der Londoner Universität.
Als jüdische Familie waren die Warburgs stets und immer wieder dem Antisemitismus ausgesetzt. Das bekam Erich schon im ersten Weltkrieg zu spüren, in den er sich noch 1918 nach dem Notabitur freiwillig gemeldet hatte, denn: »Jüdische Männer, wenngleich sie zu Tausenden auf dem Schlachtfeld für Deutschland ihr Leben ließen, (wurden) als Mitglieder einer übernationalen Gemeinschaft prinzipiell der Illoyalität gegenüber Deutschland verdächtigt.« Die 1916 von der Deutschvölkischen Partei durchgesetzte sogenannte »Judenzählung« ergab zwar, »dass der Prozentsatz der zum Kriegsdienst eingezogenen Juden in der Bevölkerung dem der eingezogenen Nichtjuden entsprach«, tat jedoch der antijüdischen Propaganda keinen Abbruch.
Auch die Warburg-Bankiers litten unter der Verleumdung durch die rechte Presse, die ihnen wegen ihrer Verwandtschaft in den USA eine Mitschuld am Kriegseintritt der Amerikaner im Jahr 1917 zuschrieb. Und das, obwohl sie, wie Heufelder schreibt, »in Wirklichkeit einen finanz- und wirtschaftspolitischen Beitrag leisteten, der von unschätzbarem Wert für die ›deutsche Sache‹ war«. Das Deutsche Reich habe nämlich von den Verbindungen des Hamburger Bankhauses zu internationalen Marktteilnehmern profitiert: »Nur dank der Vermittlung der Warburg-Bankiers konnte Deutschland im Krieg durch den Verkauf deutscher Wertpapiere in Skandinavien dringend benötigte Devisen in Höhe von drei Milliarden Reichsmark erwerben.«
Dennoch, der Glaube, ein vollwertiges, anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein, sollte sich als Illusion erweisen. Das Vaterland hat den Warburgs ihr Engagement nicht gedankt, auch wenn Repräsentanten des Unternehmens in zahlreichen internationalen Konferenzen als »Boten des guten Willens« mit am Tisch saßen und Schaden von Deutschland abzuwenden versuchten, z. B. auch bei den Versailler Verhandlungen. Ihre diplomatischen Verdienste, soweit sie überhaupt öffentlich bekannt wurden, zählten nichts. Sie waren und blieben: Juden.
Zwar dachten nach dem 30. Januar 1933, als Reichspräsident Hindenburg den Parteivorsitzenden der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannte, Erich Warburg und seine Freunde, nicht nur in Hamburg, »nichts würde so heiß gegessen wie gekocht«. Dann aber kam es zu den ersten Verhaftungen im Freundeskreis, es folgten der 1. April, der Tag des »Judenboykotts«, sowie der Ausschluss aller jüdischer Wissenschaftler von den deutschen Hochschulen und das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das sich gegen alle den Nationalsozialisten verhassten gesellschaftlichen Gruppen richtete. Die Warburgs mussten erkennen, dass es immer schlimmer wurde und schließlich: dass sie keine Zukunft mehr in Deutschland hatten.
Hier verlassen wir die Warburgs und die einzelnen Hamburger Familien-Linien, die 1938 fast alle in die USA, nach England und Schweden emigrierten. Wir verlassen die Bank, die in die Hände anderer, »unverdächtiger« Gesellschafter gegeben und so dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen worden war. Und erwähnen nur noch das Engagement der Familie in jüdischen Hilfsorganisationen und ihre enorme finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der Emigration von Juden. So konnte beispielsweise mit Warburg-Fürsprache die britische Regierung davon überzeugt werden, 1938 und 1939 Kindertransporte ins Land zu lassen, dank derer über 10 000 jüdische Kinder gerettet werden konnten. Bilanzieren wir daher: Mutig setzten sich die Familienglieder für die Menschlichkeit ein, wo immer sie konnten.
Wir konzentrieren uns jetzt auf Eric. Er gründete kurz nach seiner Ankunft in den USA im Jahr 1938 schon wieder eine Investmentbank, diesmal vor allem zur Unterstützung ehemaliger jüdischer Mitarbeiter, denen die Flucht gelungen war, und zur Betreuung jüdischer Flüchtlinge. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor meldete sich Eric zur US-Army. Als ehemaliger deutscher Staatsbürger kannte er Land und Leute, und als Muttersprachler konnte er Einschätzungen von immensem Wert geben. Vom Alter her und mit seiner Vergangenheit, seinen Kenntnissen aus Wirtschaft und Politik passte er perfekt in das Raster des Geheimdienstes, den die Amerikaner notgedrungen zügig aufbauten und der zum Office of Strategic Services (OSS) wurde, Jahre später zur CIA.
So gelang es ihm auch, die Pläne der Royal Air Force zu durchkreuzen, Lübeck nach dem verheerenden Angriff vom 29. März 1942 noch einmal zu bombardieren. Und als er 1943 bei einem Mitglied des Planungsstabes der Air Force für die interalliierte Konferenz von Roosevelt, Churchill und Stalin in Teheran eine Karte entdeckte, auf der die künftige Ost-West-Grenze längs der Elbe verlief, war er der Einzige, der die gefährlichen geopolitischen Konsequenzen erkannte und dem Plan widersprach: Hamburg und sein Hafen sowie Schleswig-Holstein und der Nord-Ostsee-Kanal wären an die Russen gefallen.
Heufelder beschreibt, wie die Zugeständnisse an Russland auf der Konferenz in Teheran bei Eric Warburg die schon virulente Frage verstärkten, »welche gravierenden Folgen die Zusammenarbeit des Westens mit Russland für die europäische Nachkriegsordnung hätte, wenn das Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen Völker dem russischen Großmachtstreben geopfert würde«. Bei Warburg verfestigte sich die Haltung, »dass Russland kein Verbündeter im Kampf für Demokratie« sei.
Seiner antikommunistischen Haltung blieb Warburg nach dem Zweiten Weltkrieg treu. Als ihn im August 1949 der erst wenige Wochen zuvor in Deutschland eingetroffene John McCloy, von der Regierung der USA zum Hochkommissar für Deutschland bestellt, zum Abendessen nach Bad Homburg einlud, nutzte Warburg die langjährige freundschaftliche Bekanntschaft zu vehementem Widerspruch gegen die Pläne des US-Außenministeriums für eine Demontage deutscher Industrieanlagen, die er »frei heraus als Fehler« bezeichnete. »Im Übrigen warteten die Russen nur darauf, dass die Westdeutschen genug von ihrer schlechten Behandlung durch die Besatzungsmächte hätten.« Nach anfänglicher Ablehnung war McCloy überzeugt und sorgte für den Demontagestopp von zwölf deutschen Industriekonzernen. Eric Warburg hatte den Sinneswandel bewirkt, etwas, was der eine Woche nach dem Essenstermin zum Bundeskanzler gewählte Konrad Adenauer kaum für möglich gehalten hatte.
Einige Zeit später gründeten Warburg und McCloy, die an dem Abend in Bad Homburg den Nutzen ihres gemeinsamen transatlantischen Dialogs erkannt hatten, zwei Schwesterorganisationen: in Hamburg die Atlantik-Brücke und in den USA das American Council on Germany. Die beiden Kooperationskanäle bestehen noch heute. Gerade erst, am 13. Oktober, hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Festansprache zur 70-Jahr-Feier der Organisation, die Dirk Kurbjuweit, Autor im Spiegel-Hauptstadtbüro, am selben Tag etwas despektierlich einen »Verein von eingefleischten Freunden der USA« nannte. Vorsitzender ist seit 2019 der ehemalige Vizekanzler und vormalige SPD-Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel.
Steinmeier erinnerte in seiner Rede an Eric Warburg und die deutschen Mitbegründer der Atlantik-Brücke, Marion Gräfin Dönhoff, Erik Blumenfeld, Ernst Friedlaender und Gotthard von Falkenhausen: »Sie alle waren Gegner des Nationalsozialismus oder hatten als jüdische Deutsche unter der Naziherrschaft um ihr Leben fürchten müssen. Wenige Jahre nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust wollten sie Deutschland zurückführen in die Gemeinschaft demokratischer Staaten. Sie wussten: Die enge Bindung des freien Deutschlands an die USA war notwendig, um der totalitären Gefahr durch die Sowjetunion zu begegnen.«
Eric Warburg hätte ihm nicht widersprochen. Er starb am 9. Juli 1990 in Hamburg, bestattet wurde er auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf. Er hatte das Ende von Mauer und Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten und den Beginn des Zerfalls der Sowjetunion noch erlebt.
Jeanette Erazo Heufelder: Alle Guten gehören zu uns – Die vielen Leben des Eric Warburg, Berenberg Verlag 2022, 272 S., 25 €.