Tut er es, oder tut er es nicht? Fast flehentlich bittet Joe Biden: »Tun Sie es nicht!« Was ist es denn, das er nicht tun soll? Sagen wir es deutlich: Er soll es unterlassen, uns selbst und unsere Lieben umzubringen, zu ermorden. Denn für Mittel- und Osteuropa gäbe es keine Überlebenschance, wenn er es denn täte. Niemand weiß, was beim Übertreten der atomaren Schwelle geschehen wird. Würde es bei einer einzigen Detonation bleiben oder würde es zu einer Eskalation kommen, bei der auch Großstädte eingeäschert werden? Alles ist möglich. Was wir aber sicher wissen, ist dieses: Bereits der Einsatz eines einzigen Prozents des vorhandenen atomaren Potentials bedeutet das Ende unserer Zivilisation und eine Klimakatastrophe, gegen die die Erderwärmung eine Petitesse sein würde. Doch die gegenwärtige Debatte um einen möglichen Atomkrieg entspricht dem Palaver von Leuten, die dem Mann auf dem Fensterbrett des Hochhauses zuschauen, der Anstalten macht, sich in die Tiefe zu stürzen. Wer wettet, dass er springt, wer setzt dagegen? Realityshow vom Feinsten.
Wäre es möglich, Realitäten einmal nicht als Darbietungen auf Bildschirmen zu betrachten, würde deutlich, was die Verzweiflung des Mannes auf dem Fensterbrett mit uns selbst zu tun hat. Dazu brauchen wir nicht Putins Psychotherapeuten zu sein, eine Haltung, die Lauterbach Precht vorwerfen zu müssen meint, als gehe es hier um die Tröstung armer Seelen. Wir stünden im Krieg mit diesem Mann, spricht Lauterbach aus, was jeder weiß. Wenn aber, weil Krieg ist, Verhandlungen mit dem Mann nicht sein sollen, wenn sie Selenskyj per Dekret sogar verbietet, weshalb sollte der Mann dann nicht schließlich tatsächlich springen?
Darauf hat niemand eine auch nur einigermaßen begründbare Antwort. Klar ist, dass Putin, in die Ecke gedrängt, mit Gewalt reagieren wird. Ist er tatsächlich so, wie er gesehen wird, fast ein Teufel in Menschengestalt – wie denn sonst? Was aber heißt es dann, wenn man fordert, ihn endgültig zu besiegen? Einen begossenen Pudel will man sehen, der sich unverrichteter Dinge nach Hause trollt. Selbst wenn man wüsste, wie das zu bewerkstelligen wäre, wie hoch wäre der Preis? Charakteristisch ist es aber zurzeit, dass man nach Preisen nicht fragen darf. Wieder ist es wie während der Corona-Phase: Politik ist alternativlos, koste es was es wolle. Wer fragt, versündigt sich. Nur: diesmal geht es wirklich ums Ganze, schlicht um das nackte Leben. Das Leben der Ukrainer, der Litauer, der Polen, der Deutschen.
Freilich hört man allenthalben das Pfeifen im finsteren Keller. Wer wird denn gleich an das Schlimmste denken! Angst ist ein schlechter Ratgeber. Und je krasser die Lage eskaliert, desto absichtlicher wird jeder missverstanden, der Warnungen vorbringt. Alice Schwarzer, Wagenknecht, Precht … Vom Putinversteher zum kriegsmüden Defätisten ist es ein kurzer Weg. Wer Feindpropaganda ernst nimmt und sich gegen die Lieferung von Panzern positioniert, gehört standrechtlich niedergemacht.
So die Lauterbäche, Hofreiters und Baerbocks. Und wie in jedem Krieg steht die Moral auf der eigenen Seite, das Böse auf der anderen und wird durch Draufhauen bekämpft. Was daran wäre neu? Neu allenfalls, dass die Welt bislang nicht bereit war, auf Nuklearwaffen zu verzichten. Auch Deutschland hat sich dem UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen nicht angeschlossen. Existieren aber Nuklearwaffen, läuft so manche Moral zwangsläufig in die Sackgasse, denn sie ist einfach nicht durchsetzbar. Beachtet sie nicht den Preis, den ihre Durchsetzung zur Folge haben könnten, in was verwandelt sie sich dann? Schlicht in Unmoral. Das wäre keine Realityshow, sondern äußerst bitter.
Was könnte denn unmoralischer sein, als das Sterben aller seiner Lieben zu provozieren, indem man den Mann auf dem Fenstersims zum Springen nötigt? Jährlich finden weltweit zahllose Amokläufe statt. Sie entsprechen dem Muster des erweiterten Suizids. Ist Putin ein Teufel, ein Irrer, ein vom Cäsarenwahn Befallener? Vielleicht, und gerade dann dürfen wir uns nicht von ihm abhängig machen. Weshalb sollte er nicht zum erweiterten Suizid neigen? Dem Mann auf dem Fensterbrett sollte man zureden, besser nicht zu springen, ihn nicht reizen, ihn vor allem nicht demütigen. Denn noch einmal: Wir sind von ihm abhängig. Auch von Irren ist man abhängig, wenn sie sich in der Nähe des Nuklearknopfs befinden. Das zu verstehen, bedarf es keiner Intelligenz.
Umso verwunderlicher sind das Kriegsgeheul und der Schrei nach Waffen. Ich will nicht von Petra Kelly reden, der Mitgründerin der Grünen und Pazifistin. Gewiss würde sie heute aus der Partei herausgedrängt. Auch die SPD sah schon mal bessere Tage, als sie in der Julikrise 1914 zu Friedensdemonstrationen aufrief. Ist heute alles nur Selbstinszenierung vor einem berauschten Publikum? Die Unfähigkeit, Wirklichkeit von medialem Tam-Tam zu unterscheiden? Das eigentliche Problem von Fake News also. Ist es Selbsterhöhung mit Hilfe von Pseudomoral, kurz: grassierender Narzissmus? Panzer endlich liefern, auch wenn die Welt in Stücke fliegt?
Solche Apostel zwischen moralischem Wahn und faktischer Brutalität machen einfach nur Angst. Fast ist man geneigt zu rufen: Um Gottes Willen, lasst uns am Leben, wenigstens unsere Kinder und Enkel! Hört doch auf mit eurer Rechthaberei, die auf einen Siegfrieden zielt und dabei den Völkermord riskiert. Immer hieß es, diese da sind im Unrecht, nur wir im Recht. Gibt es ein abgedroscheneres Ritual? Aber selbst, wenn solche grobschlächtigen Zuschreibungen tatsächlich einmal zuträfen: Wer oder was berechtigt euch, uns sämtlich dafür über die Klinge springen zu lassen?
Kurz: Wer den Ernst der Lage nicht kapiert, kann sich auf Moral, Gerechtigkeit, Völkerrecht nicht berufen. Er verweigert sich der umfassenden Realität. Und in dieser steht der Mann auf dem Fensterbrett und ist dabei zu springen. Tut er es, dann Gnade uns Gott. Schaut also, dass der Mann auf sanfte Weise aus dem Verkehr gezogen wird. Gesteht ihm zu, er habe »gewonnen«. Behandelt ihn so, wie Egomanen behandelt werden wollen. Die Waffen nieder ist auch hier kein schlechter Anfang. Kommt Zeit, kommt Rat. Lassen wir aber zu, dass keine Zeit mehr kommt, dass alles in Trümmern liegt, wem würde dieses Ende nützen? Wenn der Mann auf dem Fensterbrett diese Frage nicht stellt, so stellt sie sie euch wenigstens selbst. Klugheit ist gefragt, Weitsicht, Weisheit. Mit Kriegsgeheul beginnt, was in der Panik endet.