Was hat ein deutscher Minister mit Lemberg zu tun? Nichts, würde man meinen. Es sei denn, er hieße Theodor Oberländer und hätte als Offizier im Zweiten Weltkrieg an der Spitze eines Bataillons der Deutschen Wehrmacht gestanden, dessen Angehörige in der westukrainischen Stadt Lemberg an Pogromen gegen die jüdischen Einwohner der Stadt beteiligt gewesen sein sollen.
Die Einheit bestand aus ukrainischen Freiwilligen, die sich auf die Seite Nazideutschlands geschlagen hatten, um ihren Hass gegen Russen und Juden ausleben zu können. Ihre Uniformen unterschieden sich von denen der Deutschen nur durch blau-gelbe Paspeln an den Schulterklappen, den Nationalfarben der Ukraine. Die Einheit, bei der Oberländer als Verbindungsoffizier fungierte, war Ende 1940 zur Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion von der Spionageabteilung beim Oberkommando der Wehrmacht ins Leben gerufen worden.
Bei dem Pogrom am 30. Juni 1941 wurden zahlreiche Ärzte, Rechtsanwälte, Geistliche und Wissenschaftler ermordet. Das Verbrechen blieb lange im Verborgenen. Im zehnten Jahr ihres Bestehens wurde die Bundesrepublik Deutschland schließlich von dieser Vergangenheit eingeholt. Unter der Überschrift »Minister Oberländer unter schwerem Verdacht« platzierte die in Frankfurt erscheinende antifaschistische Wochenzeitung Die Tat einen Artikel mit Einzelheiten auf der ersten Seite ihrer Ausgabe vom 26. September 1959.
Noch ehe die Zeitung ausgeliefert werden konnte, erfuhr der im Kabinett von Konrad Adenauer als Vertriebenenminister tätige Oberländer durch einen Spitzel vom Inhalt und machte sich höchstpersönlich auf den Weg zum Druckort Fulda. Dort trommelte er zu nächtlicher Stunde einen Richter aus dem Bett und erwirkte die Beschlagnahme der gesamten Ausgabe des Blattes, das der Vereinigung der Verfolgten des Naziregime, abgekürzt VVN, nahestand. Die Nacht-und-Nebel-Aktion wurde zum Bumerang. Am nächsten Tag fragten die Zeitungen landauf und landab nach den Gründen der Beschlagnahme. Was Oberländer unterdrücken wollte, pfiffen nun die Spatzen von allen Dächern. Ein Jahr später hatte das CDU-Mitglied den Rückhalt in seiner Partei verloren und bat um seine Entlassung.
Geschockt von dem Lemberg-Desaster wollte Bundesinnenminister Gerhard Schröder seinem Parteifreund Genugtuung widerfahren lassen. Er beantragte beim Bundesverwaltungsgericht das Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und erlebte damit nun seinerseits eine krachende Niederlage. Die Bundesregierung musste sich sagen lassen, dass das Verbot einer Organisation von Verfolgten dem Sühnegedanken des Grundgesetzes widerspreche. Das Bundesverwaltungsgericht weigerte sich, einen Termin zur Fortsetzung des Prozesses zu benennen.
Anders als hierzulande spielt die Erinnerung an die Renaissance des Nazismus nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Russen immer noch eine wesentliche Rolle. Dass er vor allem in der Ukraine in Gestalt von Stepan Bandera eine Art Reinkarnation erlebte, empfinden viele als besonders schmerzlich. Wladimir Putin hat nach den Worten des ZDF-Chefredakteurs Peter Frei diese im kollektiven Gedächtnis Russlands tief verankerte Erinnerung aktiviert. Die moderne Ukraine habe sich, wenn überhaupt, nur halbherzig von Bandera distanziert. An diese historische Kollaboration mit den Nazis zu erinnern, sei eine, so Frei, für viele Russen nachvollziehbare Rechtfertigung des jetzigen Krieges.
Raketen, die von weit her mit Überschallgeschwindigkeit ins Ziel gelenkt werden, sind freilich das untauglichste Mittel zur Bekämpfung des Nazismus. Die Befreiung der Menschheit von seinem Ungeist ist eine Sache der Vernunft und nicht der Gewalt, mögen die Schatten seiner Verbrechen noch so lang sein, dass sie unser aller Wege bis hin zum Sankt Nimmerleinstag verdüstern.
Siehe auch Conrad Taler: Gegen den Wind, PapyRossa Verlag, Seite 50 f.: »So war das mit Theodor Oberländer«.