Fern der Heimat, auf dem US-Stützpunkt Guam verkündete Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer jüngst: »Wir kämpfen für Demokratie, Freiheit und eine auf Regeln basierte Ordnung. (…) In Europa ist Russland der Gegner, hier eher China« (Zeit 24/2021). 80 Jahre nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wissen wir also wieder, wo der Feind steht: im Osten. Lernen aus der Geschichte, eine von Verbrechen in der Sowjetunion beschämte Kanzlerin?
Das Bleibende in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, den Kampf gegen den deutschen, italienischen Faschismus und japanischen Militarismus ist der mühselige, aber auschlaggebende gemeinsame Kampf von Staaten ungleicher, ja politisch konträrer Positionen in einer Antihitlerkoalition, die sowjetische Arbeiter mit britischen Lords, französischen Priestern, italienischen Bauern und jugoslawischen Bergleuten vereinte.
Es war sowjetischerseits der gemeinsame Krieg aller Völker der Sowjetunion, die trotz der stalinistischen Willkürherrschaft in der Stunde der Gefahr in der überwiegenden Mehrzahl für ihren neuen Staat eintraten und ihn mit ihrem Leben verteidigten. Es war gemeinsames Kämpfen, Leiden und Siegen. Hier auseinanderzudividieren, hat nichts mit der realen Geschichte zu tun. Dass Ukrainer, Belorussen, die Bürger der baltischen Republiken – teils gerade erst mit Überredung und Zwang wieder in den einst großrussischen, nun sowjetischen Staatsverband hineingedrängt – die Hauptlast des Kampfes trugen und die meisten Opfer brachten, ändert daran wenig.
Moskau stellt immer wieder seine besondere Leistung in diesem Großen Vaterländischen Krieg heraus. Das empört etwa den FAZ-Autor Friedrich Schmidt, weil »Putin den Krieg als Argument gegen Russlands aktuelle äußere Gegner in Stellung« bringt. Er blende die Leistung der Alliierten aus und beklage, dass Moskau in diesem Krieg allein gelassen wurde (FAZ 15.5.21). Abgesehen davon, dass die USA und Großbritannien geschlagene drei Jahre brauchten, um im Juni 1944 endlich in Westeuropa zu landen, und die 1942 anlaufenden Hilfslieferungen nur einen Teil der materiellen und keineswegs die menschlichen Lasten kompensieren konnten, ist solche Geschichtskritik nichts anderes als Geschichtsklitterung. Großzügig wird übersehen, dass der russische Präsident vor einem Jahr in einem bemerkenswerten Grundsatzartikel die Probleme des Vorkriegs wie des Krieges ab 1939 analysierte, sowjetische Versäumnisse benannte und die Anti-Hitler-Koalition würdigte. Putin schrieb: »Alle führenden Länder haben seinen Ausbruch in dem einen oder anderem Maße zu verantworten. Jedes von denen hat nicht wieder gut zu machende Fehler in der selbstgefälligen Zuversicht begangen, dass man andere überlisten, einseitige Vorteile für sich gewinnen und dem heranrückenden globalen Unheil ausweichen kann.« Er verband diese auch selbstkritische Einsicht mit der Rückbesinnung auf die Anti-Hitler-Koalition: »Den Sieg brachten die Bemühungen aller Länder und Völker, die mit einem gemeinsamen Feind kämpften« (jW 25.6.20). Putins Aufsatz lässt sich vor allem als Angebot lesen, über einstige wie heutige Blockgrenzen hinweg zu neuer Gemeinsamkeit zu finden. Auch 2021 plädiert er erneut »für die Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft« mit Europa (Zeit 26/2021).
Der Sieg der ungleichen Alliierten brachte die Chance – wie im Potsdamer Abkommen fixiert – für Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung, Demokratisierung. Dies wurde in Deutschland zunächst erfolgreich begonnen, wenn auch bald durch den Kalten Krieg überlagert. In den Besatzungszonen wurde unterschiedlich mit dem faschistischen Müll und den alten Eliten umgegangen. Aber trotz der Systemauseinandersetzung einte, dass die Nazi-Barbarei nicht wiederkehren und beide Deutschländer je nach ihrer Façon demokratisch gestaltet werden sollten.
Zugleich gab es die Herausforderung in den von den deutschen Besatzern befreiten Gebieten, dort ebenfalls einen Neuanfang zu wagen. Auch wenn es in Warschau, Prag oder Budapest gern vergessen wird: Sowjetische Bajonette mögen neue Machtverhältnisse geschützt haben, realisiert wurden sie durch einheimische Kommunisten und Sozialisten. Sie wurden lange – wenn auch mit Widersprüchen und Konflikten – getragen von den eigenen Arbeitern und Bauern, die wussten, wer für das Versagen der bürgerlich-kapitalistischen, meist diktatorischen Vorkriegsregime Verantwortung trug.
Der Aufschrei in Osteuropas Hauptstädten über die angeblich erneute russische Bedrohung entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Das Beschwören der Zwischenkriegszeit als Blütezeit von Polen bis zum Baltikum übersieht, dass diese Vorläufer der heutigen osteuropäischen Demokratien autoritäre, ja, diktatorische Regime waren, die mit zu viel Demokratie, erst recht mit Linken und gar Kommunisten wenig anfangen mochten. Sie waren zufrieden, gewaltsam die Oktoberrevolution abgewehrt und den Kapitalismus bewahrt zu haben. Von der sozialen Revolution, die im Gefolge des Vormarsches der Roten Armee auch in diesen Staaten Arbeiter und Bauern zu einer ausbeutungsfreien Gesellschaft ermächtigte, möchten die heutigen Eliten nichts mehr wissen.
Mediale Vereinseitigungen und Verfälschungen, der schwache Widerstand der Historikerzunft, das Ausbleiben eines neuen »Historikerstreits« nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus haben Folgen. Das Bild des Krieges wird neu gezeichnet: Umfragen zeigen heute, dass die USA, vielleicht Großbritannien entscheidend waren, der Krieg im Westen geführt und gesiegt wurde, der Fernen Osten wichtig wäre, die US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki den Krieg entschieden. Dass die Rote Armee zu diesem Zeitpunkt das Gros der kaiserlich-japanischen Armee in China gestellt und geschlagen hatte, findet sich bestenfalls in einem Nebensatz.
Nur dumm, dass der wirkliche Krieg 1418 Tage an der Ostfront geführt wurde, bis Sommer 1944 auf sowjetischem Territorium. Dabei ist auch über Fehler der sowjetischen Führung unter Stalin zu reden, der die realen Möglichkeiten und die Heimtücke Hitlers unterschätzte, den Verträgen traute und den eigenen Geheimdiensten misstraute. Nur, er hat das unter anderen Vorzeichen fortgeführt, was die westlichen Demokratien mit ihrer Appeasement-Politik in den 1930er Jahren ebenfalls versuchten: Hitler zu beschwichtigen und ihn gegen den Kommunismus, gegen Moskau zu lenken. Ohne die Opferung der Demokratie in Spanien, das Schanddiktat von München und die Vernichtung der Tschechoslowakei wird jede Vorkriegsgeschichte zum verfälschenden Lückentext. Ohne den Verzicht Londons und Paris (und Warschaus), im August 1939 ein Bündnis mit Moskau zu schmieden, ist kein Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffsvertrag und kein Abgrenzen von Einflusszonen in einem unmittelbar bevorstehenden Krieg zu erklären. Moskau setzte in dieser Konstellation seine Sicherheitsinteressen rigoros durch, auch wenn sich die sowjetische Führung bitter verrechnete, was den möglichen Kriegsbeginn betraf. Die Atempause wurde zu wenig genutzt, aber sie half trotzdem. Keine Hilfe, sondern Verrat war das sowjetische Eingehen auf eine vermeintliche Freundschaft mit dem unvermeidlichen Gegner Faschismus, der Kommunisten, Juden, Exilanten Freiheit und Leben kosten sollte und das Vertrauen in die Sowjetunion und die Kommunisten lädierte. Erst der blutige Weg des Sowjetvolkes konnte dieses Vertrauen zurückgewinnen und die Sowjetunion zur Supermacht wandeln, die die Welt lange prägte.
Jalta und Potsdam sind spätestens seit 1989/91 Geschichte. Es gab nun die Chance für eine neue Weltordnung ohne Vorherrschaft einer Macht. Die Sowjetunion und ihre Nachfolger schienen aufgeschlossen, und wollten mit der Abkehr von sozialistischen Verhältnissen und einer kapitalistischen Neuorientierung auch die Beziehungen mit dem Westen neu gestalten. Jelzin wie auch Putin streckten ihre Hände aus. Doch Putin begriff, dass das Wende-Russland schon viel zu tief in die neue, von Washington, Brüssel und Berlin bestimmte Weltordnung hingezogen und zur unbedeutenden Mittelmacht degradiert war.
Moskau beobachtet in den letzten Jahrzehnten etwas, was es schon am Vorabend des Zweiten Weltkrieges befürchtete: Eine Einkreisung durch feindliche Staaten, das Befördern des nationalistischen Spaltpilzes im Inneren und die Einbindung der nach 1991 aus der Sowjetunion ausgeschiedenen, neuen Staaten ins westliche Bündnis. Die Ostausdehnung der Nato, 1990 noch als Preis für die deutsche Einheit heilig abgeschworen, ist Realität, nationalistische Regime in Russlands Umfeld werden gefördert, an »bunten Revolutionen« gewerkelt, wobei längst nicht mehr klar ist, ob es um legitime Forderungen nach demokratischen Reformen geht oder um von außen gesteuerte Umstürze.
Unter Putin ist Russland wieder Großmacht, zeigt mit seinen Kernwaffen, der reorganisierten Armee und seinen außen- und sicherheitspolitischen Ambitionen vom syrischen Palmyra bis zur Krim Flagge. Noch streckt Russland seine Fühler in Richtung Westen aus, sucht nach einer neuen Seidenstraße und preist Erdgas oder auch Wasserstoff an. Und doch spürt Moskau die Zwänge jener Vorkriegsjahre wieder: die massive Rüstung gegen sie, das Vorschieben von Truppen, die Unterstützung Oppositioneller. Wieder sind Warschau, Tallinn oder Riga Ausgangsbasen für solche Aktivitäten – und Berlin, wieder Berlin, aber auch London und natürlich Washington. Der jüngste Nato-Gipfel machte offen Front gegen Moskau und Peking. »Russlands aggressives Vorgehen stellt eine Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit dar.« Deshalb werde die Nato ihre »Abschreckungs- und Verteidigungshaltung verbessern, auch durch eine Vorwärtspräsenz im östlichen Teil der Allianz« (Brussels Summit Communiqué, 14.6.21). Die Welt steckt wieder in einem Kalten Krieg.
Doch Moskau will ein neues 1941 nicht zulassen. Vor allem aber: China wie Russland sind wieder so stark und selbstbewusst, dass sie sich einer Vormacht der USA und ihrer (west)europäischen Verbündeten inklusive der osteuropäischen Nachbeter nicht unterwerfen werden. Wir sollten schnell lernen und uns nicht wundern: Es gibt wieder Kalten Krieg – mit seinen Provokationen, Diversionen, Sabotagen und seinen Medien –, vieles moderner als einst, manches effektiver, einiges dümmer. Aber eben permanent.
Auch darum ist die Erinnerung an den großen Sieg von 1945, an die Opfer und die Triumphe so wichtig. Linke mögen keinen Nationalismus, keine imperialistische Politik, aber sie müssen schauen, wer welche Ziele wie zu durchkreuzen vermag. Präsident Putin spricht wie immer Klartext, so in einer Beratung mit dem Verband »Popeda« (Sieg), der die Erinnerung an 1945 hochhalten soll: »Jeder will uns beißen oder ein Stück Russland abbeißen. Aber jeder, der es versucht, sollte wissen, dass wir ihre Zähne ausschlagen werden, damit sie nicht beißen können. Das versteht sich von selbst, und die Entwicklung unserer Streitkräfte garantiert dies« (Putin, 20.5.21).