Die von vielen Medien als »Paukenschlag« bezeichnete Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Zeiterfassung macht Unternehmensvertreter wütend. »Bürokratie-Irrsinn aus der Steinzeit«, polemisiert ein Kommentar (https://t3n.de).
Denn das höchste deutsche Arbeitsgericht verpflichtet Unternehmen, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.
Heutige Unternehmensstrategien machen die Zeiterfassung zu einem umkämpften Thema. In vielen Betrieben erfolgt die Verteilung der Arbeit über indirekte Steuerung. Entscheidend ist dabei das Ergebnis: Es werden nicht mehr einzelne Arbeitsschritte durch die Vorgesetzten kontrolliert, wie es die Fließbandarbeit nach Henry Ford vorschrieb; vielmehr wird die Leistung über Zielvereinbarungen gemessen. Dies ermöglicht den Beschäftigten eigenverantwortlicheres Arbeiten, erhöht aber den Stress, wenn die Ziele zu hoch angesetzt werden oder zu wenig Personal für die Arbeitsaufgaben zur Verfügung steht.
Durch die Digitalisierung ist ein Arbeiten immer und überall möglich, ständige Erreichbarkeit droht den Arbeitenden. Die Zunahme dieses mobilen Arbeitens während der Corona-Pandemie hat bestehende Trends nur verschärft. Eine aktuelle Sonderauswertung des DGB-Index »Gute Arbeit« verdeutlicht: Die Folge ist eine stärkere Entgrenzung der Arbeitszeit, mit erhöhtem Leistungsdruck und Stress am Arbeitsplatz.
Die Arbeitszeit bleibt gerade in Zeiten der Digitalisierung umkämpft, es gibt verschiedene Formen des Zeitdiebstahls, die Unternehmen heute einsetzen:
- Das kann die arbeitsvertragliche Regelung sein, wonach Überstundenbezahlung mit dem Gehalt abgegolten ist. Arbeitsrechtlich ist dies so pauschal nicht zulässig, oft stellte es einen Verstoß gegen den Tarifvertrag dar – ist aber trotzdem in vielen Betrieben Praxis.
- Eine andere Form des Zeitdiebstahls ist die Kappung von Pluszeiten, die eine bestimmte Zeitgrenze überschreiten, z. B. ein über-100-Stunden-Plus im Quartal.
- Die modernste Variante ist »Vertrauensarbeitszeit«. Dabei wird auf die Erfassung von Arbeitszeit verzichtet. »Der Spruch, dass Kontrolle durch Vertrauen ersetzt werden soll, verdeckt jedoch, worum es geht: Die Arbeitgeber schaffen die Zeiterfassung erst dann ab, wenn sie vorher Bedingungen geschaffen haben, unter denen es sich für sie rechnet«, analysiert der Philosoph Klaus Peters die Konsequenzen. In der Praxis erleben Beschäftigte, dass die Einführung der »Vertrauensarbeitszeit« weitgehende negative Folgen hat. Denn die Zeiterfassung stellt eigentlich eine Absicherung des Arbeitnehmers dem Unternehmen gegenüber dar. Gerade mobile Arbeit oder erweiterter Technikeinsatz infolge der Digitalisierung wird von Unternehmen gerne als Vorwand für die Abschaffung der Zeiterfassung genutzt.
Eine klare Regelung zur Zeiterfassung ist hier die erste Forderung zur Gegenwehr.
Die Gewerkschaften begrüßen erwartungsgemäß die BAG-Entscheidung. »Vertrauensarbeitszeiten und Homeoffice sind weiter möglich«, antwortet jedoch Micha Klapp, Leiterin der Rechtsabteilung beim DGB-Bundesvorstand, in einem Interview. Statt den undifferenzierten Begriff »Vertrauensarbeitszeit« zu verwenden, wäre die Forderung nach tariflicher Verkürzung der Arbeitszeit mit Lohnausgleich angebracht.
Zeitdiebstahl durch fehlende Zeiterfassung war für viele Beschäftigte auch tarifpolitisch das falsche Signal: Wenn tatsächlich über 40 Stunden gearbeitet wird, während der Tarifvertrag 35 Stunden vorschreibt, machen weitere Arbeitszeitverkürzungen wenig Sinn.
Das Thema ist aktueller denn je, zumal in das restriktive deutsche Streikrecht Bewegung kommt. Am 07.03.2022 hat das Arbeitsgericht Berlin entschieden, dass die fristlose Kündigung eines Arbeiters des Lieferdienstes Gorillas unwirksam ist. Der Essensfahrer hat eine Abstimmung über einen Streik initiiert. Nachdem sich die Mehrheit der Arbeitnehmer für einen Streik ausgesprochen hatte, forderte er seine Kollegenschaft auf, zu streiken. Eine Gewerkschaft war an dem Arbeitskampf nicht beteiligt, weshalb das Unternehmen diesen sogenannten »wilden Streik« bemängelte.
Nach einer uralten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus den 1950er Jahren rechtfertigt die Teilnahme an einem sogenannten »wilden Streik« den Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Geprägt wurde die Rechtsprechung durch den BAG-Vorsitzenden Hans Carl Nipperdey, der im faschistischen Deutschland den auflagenstärksten Kommentar zum »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« (AOG) verfasst hatte – dessen »Volksgemeinschafts«-Geist viele Kritiker im heutigen Streikrecht wieder erkennen.
Die Begründung des Arbeitsgerichts im Urteil lässt deshalb aufhorchen: »Es ist keineswegs gesichertes Recht, dass ein Aufruf zu einem sogenannten wilden Streik einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstellt.« Diese Frage sei durch Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharta anders zu bewerten – das Gericht liefert damit wunderbare Argumente für Gegenwehr der Belegschaften.