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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Hundertjährige, der vor Gericht steht

Eine mit­leid­erre­gen­de Sze­ne: Der Ange­klag­te Josef S. schleppt sich, auf sei­nen Rol­la­tor gestützt, müh­sam in den Gerichts­saal. Sei­nen Kopf ver­steckt er hin­ter einer blau­en Map­pe. Dann setzt er sich – und schweigt. Die Staats­an­walt­schaft wirft dem Mann Bei­hil­fe zum grau­sa­men und heim­tücki­schen Mord in 3518 Fäl­len zwi­schen 1942 und 1945 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen vor. Sei­nen Dienst tat er, damals als Zwan­zig­jäh­ri­ger, beim SS-Wach­ba­tail­lon. Heu­te ist der Mann ein­hun­dert Jah­re alt. Sein Ver­tei­di­ger wie­der­holt ihm flü­sternd eini­ge Aus­füh­run­gen des Staats­an­walts. Ver­han­delt wer­den kann nur zwei Stun­den am Tag. Der gesund­heit­li­che Zustand des Ange­klag­ten ist fragil.

Der hun­dert­jäh­ri­ge Josef S. ist nicht der ein­zig betag­te Ange­klag­te, den sei­ne Ver­gan­gen­heit am Lebens­en­de ein­holt. Ver­gan­ge­nen Som­mer stand der 93-jäh­ri­ge ehe­ma­li­ger Wach­mann Bru­no Dey in Ham­burg vor Gericht und wur­de der Bei­hil­fe zum Mord in 5232 Fäl­len für schul­dig befun­den wor­den, weil er von August 1944 bis April 1945 SS-Wach­mann in Stutt­hof war. Er erhielt wegen sei­nes Alters zur Tat­zeit eine Jugend­stra­fe von zwei Jah­ren, die zur Bewäh­rung aus­ge­setzt wur­de. Vor weni­gen Wochen soll­te beim Land­ge­richt Itze­hoe gegen Irm­gard F. ver­han­delt wer­den, 96 Jah­re alt und einst Sekre­tä­rin des Lager­kom­man­dan­ten, eben­falls im KZ Stutt­hof. Sie ist der Bei­hil­fe zum Mord in mehr als 11.000 Fäl­len ange­klagt. Laut Ankla­ge soll sie zwi­schen Juni 1943 und April 1945 bei der syste­ma­ti­schen Tötung von Gefan­ge­nen Hil­fe gelei­stet haben. Die alte Frau war vor Pro­zess­be­ginn mit einem Taxi aus dem Pfle­ge­heim geflo­hen, ehe sie von der Poli­zei in Haft genom­men wurde.

Es ist ein wei­te­rer Pro­zess gegen KZ-Mit­ar­bei­ter, in dem es nicht dar­um geht, den Ange­klag­ten vor­zu­wer­fen, selbst gemor­det oder Mor­de befoh­len zu haben, son­dern dar­um, dass sie durch ihre Arbeit im Lager dazu bei­tru­gen, dass die Mord­ma­schi­ne funk­tio­nie­ren konn­te. Wei­te­re sol­cher Ver­fah­ren bei den Staats­an­walt­schaf­ten in Erfurt, Ham­burg, Wei­den sowie bei der Gene­ral­staats­an­walt­schaft Cel­le ste­hen an.

Ankla­gen oder Ein­stel­len? – dar­über wird hef­tig gestrit­ten. Der Ber­li­ner Autor Ronen Stein­ke plä­diert dafür, auch nach Jahr­zehn­ten die Ankla­gen straf­recht­lich zu ver­fol­gen. »Es bedeu­tet nicht Här­te, wenn man heu­te die grund­le­gend­ste rechts­staat­li­che Regel, dass die­ses Ver­bre­chen mit der höch­sten Stra­fe geahn­det wird, mit vie­len Jah­ren Ver­spä­tung doch noch ernst genom­men sehen möch­te«, so Stein­ke in einem Kom­men­tar der Süd­deut­schen Zei­tung (sie­he dazu auch den Bei­trag »Mit­leid fehl am Plat­ze« von Con­rad Taler in Ossietzky 21/​2021). Sol­cher Argu­men­ta­ti­on hat­te die lang­jäh­ri­ge Spie­gel-Gerichts­re­por­te­rin Gise­la Fried­rich­sen zuvor in der Welt­wo­che (20. Okto­ber 2021) vehe­ment wider­spro­chen: Den Stutt­hof-Pro­zess lehnt sie ent­schie­den ab. An einer Sekre­tä­rin nach­zu­ho­len, was über Jahr­zehn­te ver­tuscht wur­de, ähne­le eher einer Selbst­an­kla­ge der Justiz als ernst­zu­neh­men­der Straf­ver­fol­gung, so Friedrichsen.

Tat­sa­che ist: Die Pro­zes­se sind Beleg einer skan­da­lö­sen Ver­spä­tung. Die Fra­ge drängt sich auf: wie lan­ge soll man die Unter­las­sun­gen und Ver­säum­nis­se noch nach­ho­len? Jahr­zehn­te­lang waren Ver­fah­ren nicht eröff­net oder bei­na­he rou­ti­ne­mä­ßig ein­ge­stellt wor­den. Es soll­te nur bestraft wer­den, wer einer Betei­li­gung an ganz kon­kre­ten Mor­den über­führt wur­de. Es fehl­te durch­weg an gesetz­ge­be­ri­schen Signa­len. Es fehl­te das »Wol­len«, NS-Täter, als die­se noch kei­ne Grei­se waren, vor Gericht zu brin­gen. Per­sön­li­che Schuld ver­schwand so im Dickicht von Beweis­ak­ten, Gut­ach­ten und Verteidiger-Strategien.

Erst nach dem Urteil gegen John Dem­jan­juk, ein Wach­mann, der als »ukrai­ni­scher Hilfs­wil­li­ger« im Ver­nich­tungs­la­ger Sobi­bor tätig war und 2011 in Mün­chen ver­ur­teilt wur­de, ist die Justiz nach jahr­zehn­te­lan­ger Untä­tig­keit wie­der aktiv gewor­den. Wer als klei­nes Räd­chen beim gro­ßen Mas­sen­mor­den der Nazis dabei war, der kann seit­her auch ohne kon­kre­ten Tat­ver­dacht wegen Bei­hil­fe zum Mord ange­klagt wer­den. Mord ver­jährt nicht.

Ein Hun­dert­jäh­ri­ger auf der Ankla­ge­bank? Kön­nen er und die ande­ren grei­sen Täter und Täte­rin­nen begrei­fen, wel­che Schuld sie auf sich luden, als sie als jun­ge Men­schen zur Teil­nah­me an einem Jahr­hun­dert­ver­bre­chen bereit waren? Kann die Justiz nach Jahr­zehn­ten die­se Ver­bre­chen noch süh­nen? Kann ein Gericht jeman­den ange­mes­sen bestra­fen für die Betei­li­gung an einem kol­lek­ti­ven System der Bar­ba­rei? Vor allem aber: Kann den Opfern und ihren Hin­ter­blie­be­nen über­haupt Gerech­tig­keit, spä­te Wie­der­gut­ma­chung wider­fah­ren? Sind die­se viel zu spä­ten Ankla­gen und Pro­zes­se tat­säch­lich nicht nur einer Mora­li­schen Sym­bo­lik, statt juri­sti­scher Rechts­staat­lich­keit geschuldet?

Fest steht: Die Nicht­ver­fol­gung von NS-Ver­bre­chen ist beschä­mend – eine skan­da­lö­se, jahr­zehn­te­lan­ge Ver­wei­ge­rung von Straf­ver­fol­gung, eine kon­se­quen­te Straf­ver­ei­te­lung im Amt. Dafür gehör­te die Justiz auf die Ankla­ge­bank. Eini­ge Zah­len: In den drei West­zo­nen und der Bun­des­re­pu­blik wur­de von 1945 bis 2005 ins­ge­samt gegen 172 294 Per­so­nen wegen straf­ba­rer Hand­lun­gen wäh­rend der NS-Zeit ermit­telt. Das ist ange­sichts der mon­strö­sen Ver­bre­chen und der Zahl der dar­an betei­lig­ten Men­schen nur ein win­zi­ger Teil. Das hat­te sei­ne Grün­de: Im Justiz­ap­pa­rat saßen anfangs die­sel­ben Leu­te wie einst in der NS-Zeit. Vie­le mach­ten sich nur mit Wider­wil­len an die Arbeit. Auch poli­tisch wur­de auf eine Been­di­gung der Ver­fah­ren gedrängt, dafür sorg­ten schon zahl­lo­se Amnestiegesetze.

Zu Ankla­gen kam es letzt­lich in 16 740 Fäl­len – und nur 14 693 Ange­klag­te muss­ten sich tat­säch­lich vor Gericht ver­ant­wor­ten. Ver­ur­teilt wur­den schließ­lich gera­de ein­mal 6656 Per­so­nen, für 5184 Ange­klag­te ende­te das Ver­fah­ren mit Frei­spruch, oft aus Man­gel an Bewei­sen. Die mei­sten Ver­ur­tei­lun­gen – rund 60 Pro­zent – ende­ten mit gerin­gen Haft­stra­fen von bis zu einem Jahr. Gan­ze neun Pro­zent aller Haft­stra­fen waren höher als fünf Jah­re. Vor dem Hin­ter­grund eines der größ­ten Ver­bre­chen in der Mensch­heits­ge­schich­te eine skan­da­lö­se, empö­ren­de Bilanz.

Von der Justiz hat­ten die NS-Täter nichts zu befürch­ten. Die mei­sten Deut­schen woll­ten von Kriegs­ver­bre­chern, von Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit, von den NS-Ver­strickun­gen, von schuld­haf­ten Täter-Bio­gra­fien, kurz: vom mora­li­schen und zivi­li­sa­to­ri­schen Desa­ster Hit­ler-Deutsch­lands nichts mehr wis­sen. Aus der Poli­tik gab es kei­ne zwin­gen­den Geset­zes­vor­ga­ben. Unter die­sem Ein­druck zeig­te vor allem die Justiz nur wenig Nei­gung, ehe­ma­li­ge NS-Täter zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, zumal dort bekannt­lich eine beson­ders star­ke per­so­nel­le Kon­ti­nui­tät zur NS-Zeit gege­ben war. Die Bereit­schaft, in NS-Straf­sa­chen zu ermit­teln und zu han­deln, ging nahe­zu gegen null.

Wenn nun nach Jahr­zehn­ten juri­sti­scher – auch poli­tisch gewoll­ter – Igno­ranz, einer letz­ten noch leben­den Täter-Gene­ra­ti­on der Pro­zess gemacht wird, ist das auch eine spä­te Ein­lö­sung des Ver­spre­chens, das die Bun­des­re­pu­blik einst gege­ben hat­te: Nie wieder!

Kann per­sön­li­che Schuld ver­jäh­ren? Nein, sag­te Alfred Gro­sser, denn das ver­gan­ge­ne Gesche­hen ist kei­nes­wegs abwe­send in der Gegen­wart, nur weil es ver­gan­gen ist. Der Respekt vor den Hin­ter­blie­be­nen ver­pflich­tet uns, die Schuld und die Schul­di­gen zu benen­nen, solan­ge es noch mög­lich ist. Die Ver­bre­chen von damals sind zu gewal­tig, um heu­te zu sagen: Jetzt soll end­lich ein­mal Schluss sein.