Eine mitleiderregende Szene: Der Angeklagte Josef S. schleppt sich, auf seinen Rollator gestützt, mühsam in den Gerichtssaal. Seinen Kopf versteckt er hinter einer blauen Mappe. Dann setzt er sich – und schweigt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in 3518 Fällen zwischen 1942 und 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen vor. Seinen Dienst tat er, damals als Zwanzigjähriger, beim SS-Wachbataillon. Heute ist der Mann einhundert Jahre alt. Sein Verteidiger wiederholt ihm flüsternd einige Ausführungen des Staatsanwalts. Verhandelt werden kann nur zwei Stunden am Tag. Der gesundheitliche Zustand des Angeklagten ist fragil.
Der hundertjährige Josef S. ist nicht der einzig betagte Angeklagte, den seine Vergangenheit am Lebensende einholt. Vergangenen Sommer stand der 93-jährige ehemaliger Wachmann Bruno Dey in Hamburg vor Gericht und wurde der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen für schuldig befunden worden, weil er von August 1944 bis April 1945 SS-Wachmann in Stutthof war. Er erhielt wegen seines Alters zur Tatzeit eine Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Vor wenigen Wochen sollte beim Landgericht Itzehoe gegen Irmgard F. verhandelt werden, 96 Jahre alt und einst Sekretärin des Lagerkommandanten, ebenfalls im KZ Stutthof. Sie ist der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagt. Laut Anklage soll sie zwischen Juni 1943 und April 1945 bei der systematischen Tötung von Gefangenen Hilfe geleistet haben. Die alte Frau war vor Prozessbeginn mit einem Taxi aus dem Pflegeheim geflohen, ehe sie von der Polizei in Haft genommen wurde.
Es ist ein weiterer Prozess gegen KZ-Mitarbeiter, in dem es nicht darum geht, den Angeklagten vorzuwerfen, selbst gemordet oder Morde befohlen zu haben, sondern darum, dass sie durch ihre Arbeit im Lager dazu beitrugen, dass die Mordmaschine funktionieren konnte. Weitere solcher Verfahren bei den Staatsanwaltschaften in Erfurt, Hamburg, Weiden sowie bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle stehen an.
Anklagen oder Einstellen? – darüber wird heftig gestritten. Der Berliner Autor Ronen Steinke plädiert dafür, auch nach Jahrzehnten die Anklagen strafrechtlich zu verfolgen. »Es bedeutet nicht Härte, wenn man heute die grundlegendste rechtsstaatliche Regel, dass dieses Verbrechen mit der höchsten Strafe geahndet wird, mit vielen Jahren Verspätung doch noch ernst genommen sehen möchte«, so Steinke in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung (siehe dazu auch den Beitrag »Mitleid fehl am Platze« von Conrad Taler in Ossietzky 21/2021). Solcher Argumentation hatte die langjährige Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen zuvor in der Weltwoche (20. Oktober 2021) vehement widersprochen: Den Stutthof-Prozess lehnt sie entschieden ab. An einer Sekretärin nachzuholen, was über Jahrzehnte vertuscht wurde, ähnele eher einer Selbstanklage der Justiz als ernstzunehmender Strafverfolgung, so Friedrichsen.
Tatsache ist: Die Prozesse sind Beleg einer skandalösen Verspätung. Die Frage drängt sich auf: wie lange soll man die Unterlassungen und Versäumnisse noch nachholen? Jahrzehntelang waren Verfahren nicht eröffnet oder beinahe routinemäßig eingestellt worden. Es sollte nur bestraft werden, wer einer Beteiligung an ganz konkreten Morden überführt wurde. Es fehlte durchweg an gesetzgeberischen Signalen. Es fehlte das »Wollen«, NS-Täter, als diese noch keine Greise waren, vor Gericht zu bringen. Persönliche Schuld verschwand so im Dickicht von Beweisakten, Gutachten und Verteidiger-Strategien.
Erst nach dem Urteil gegen John Demjanjuk, ein Wachmann, der als »ukrainischer Hilfswilliger« im Vernichtungslager Sobibor tätig war und 2011 in München verurteilt wurde, ist die Justiz nach jahrzehntelanger Untätigkeit wieder aktiv geworden. Wer als kleines Rädchen beim großen Massenmorden der Nazis dabei war, der kann seither auch ohne konkreten Tatverdacht wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Mord verjährt nicht.
Ein Hundertjähriger auf der Anklagebank? Können er und die anderen greisen Täter und Täterinnen begreifen, welche Schuld sie auf sich luden, als sie als junge Menschen zur Teilnahme an einem Jahrhundertverbrechen bereit waren? Kann die Justiz nach Jahrzehnten diese Verbrechen noch sühnen? Kann ein Gericht jemanden angemessen bestrafen für die Beteiligung an einem kollektiven System der Barbarei? Vor allem aber: Kann den Opfern und ihren Hinterbliebenen überhaupt Gerechtigkeit, späte Wiedergutmachung widerfahren? Sind diese viel zu späten Anklagen und Prozesse tatsächlich nicht nur einer Moralischen Symbolik, statt juristischer Rechtsstaatlichkeit geschuldet?
Fest steht: Die Nichtverfolgung von NS-Verbrechen ist beschämend – eine skandalöse, jahrzehntelange Verweigerung von Strafverfolgung, eine konsequente Strafvereitelung im Amt. Dafür gehörte die Justiz auf die Anklagebank. Einige Zahlen: In den drei Westzonen und der Bundesrepublik wurde von 1945 bis 2005 insgesamt gegen 172 294 Personen wegen strafbarer Handlungen während der NS-Zeit ermittelt. Das ist angesichts der monströsen Verbrechen und der Zahl der daran beteiligten Menschen nur ein winziger Teil. Das hatte seine Gründe: Im Justizapparat saßen anfangs dieselben Leute wie einst in der NS-Zeit. Viele machten sich nur mit Widerwillen an die Arbeit. Auch politisch wurde auf eine Beendigung der Verfahren gedrängt, dafür sorgten schon zahllose Amnestiegesetze.
Zu Anklagen kam es letztlich in 16 740 Fällen – und nur 14 693 Angeklagte mussten sich tatsächlich vor Gericht verantworten. Verurteilt wurden schließlich gerade einmal 6656 Personen, für 5184 Angeklagte endete das Verfahren mit Freispruch, oft aus Mangel an Beweisen. Die meisten Verurteilungen – rund 60 Prozent – endeten mit geringen Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Ganze neun Prozent aller Haftstrafen waren höher als fünf Jahre. Vor dem Hintergrund eines der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte eine skandalöse, empörende Bilanz.
Von der Justiz hatten die NS-Täter nichts zu befürchten. Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, von schuldhaften Täter-Biografien, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands nichts mehr wissen. Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null.
Wenn nun nach Jahrzehnten juristischer – auch politisch gewollter – Ignoranz, einer letzten noch lebenden Täter-Generation der Prozess gemacht wird, ist das auch eine späte Einlösung des Versprechens, das die Bundesrepublik einst gegeben hatte: Nie wieder!
Kann persönliche Schuld verjähren? Nein, sagte Alfred Grosser, denn das vergangene Geschehen ist keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist. Der Respekt vor den Hinterbliebenen verpflichtet uns, die Schuld und die Schuldigen zu benennen, solange es noch möglich ist. Die Verbrechen von damals sind zu gewaltig, um heute zu sagen: Jetzt soll endlich einmal Schluss sein.