Wer kennt sie nicht aus seiner Schulzeit, die allseits bekannten Fabeln vom schlauen Fuchs, der sich mit Schmeichelei einen Käse vom eitlen Raben ergaunert, oder vom Frosch, der so groß sein will wie ein Ochse? Jene zeitlosen Tiergeschichten des französischen Schriftstellers Jean de La Fontaine, in denen uns der Spiegel vorgehalten wird? Noch heute gilt La Fontaine den Franzosen als einer der größten ihrer Klassiker, und so wird sein diesjähriger 400. Geburtstag im Nachbarland mit verschiedenen Veranstaltungen, Lesungen und Ausstellungen begangen.
Jean de La Fontaine wurde am 8. Juli 1621 in Château-Thierry, in der Champagne, geboren. Er wuchs in einem bürgerlichen Hause auf, auch wenn sein Vater königlicher Beamter war, dem die Aufsicht über Wege, Forste und Gewässer oblag. In die Schule ging La Fontaine bei den Oratorianern, deren Erziehung humanistisch ausgerichtet war. Seine Schulbildung schloss er in Paris ab, wo er 1641 ein Theologiestudium aufnahm, das er aber nach zwei Jahren abbrach. Nach einem zweijährigen Aufenthalt im Elternhaus studierte er in Paris schließlich Jura. Nach dem Abschluss verheiratete der Vater seinen 26jährigen Sohn mit einer Vierzehnjährigen, die wahrscheinlich eine gute Partie war. Das Paar bekam zwar einen Sohn, doch die Ehe spielte im Leben La Fontaines keine sonderlich große Rolle; meist lebte das Paar getrennt. 1658 erbte La Fontaine das Amt des Forst- und Wassermeisters von seinem Vater, das er aber recht widerwillig ausübte und nach zwei Jahren wieder aufgab.
Danach lebte La Fontaine meistens von der Gunst und den Zuwendungen seiner wohlhabenden und hoch gestellten Förderer und Förderinnen. Zunächst verkehrte er als »Hofpoet« am Hof des mächtigen Finanzministers Nicolas Fouquet, dem er einige literarische Werke widmete. 1662 fiel Fouquet jedoch beim Sonnenkönig Ludwig XIV. in Ungnade und wurde inhaftiert. Nachdem La Fontaine zwei Bittschriften zu Fouquets Gunsten an den König verfasst hatte, geriet er ebenfalls in den Strudel der Ereignisse. Sicherheitshalber floh er nach Limoges und kehrte erst 1663 nach Paris zurück, wo er von der Herzogin von Bouillon, die sich für Poesie interessierte, beherbergt wurde. Ein Jahr später war die verwitwete Herzogin von Orleans seine neue Mäzenin.
Zunächst verfasste La Fontaine zahlreiche Verserzählungen »Contes et nouvelles« (1665), die in mehreren Bänden erschienen. Dabei handelte es sich zumeist um höfisch-galante Novellen, aber auch um pikant-frivole Geschichten oder derb-komische Schwänke. In den folgenden Jahren widmete er sich seinem Hauptwerk, den Fabeln, die bis 1694 erschienen, in zwölf Büchern und drei Sammlungen aufgeteilt. Bereits mit der ersten Sammlung 1668, sechs Bücher mit insgesamt 124 Fabeln, hatte er einen so großen Erfolg, dass noch im gleichen Jahr eine Neuauflage erscheinen musste. Zu seinen Lebzeiten sollten noch vierzig Nachdrucke folgen. La Fontaine griff dabei auf antike Vorbilder zurück, vor allem auf die des griechischen Dichters Äsop. Anders als die antiken Fabeln waren seine Texte jedoch prägnant, amüsant und leicht lesbar. Die späteren Fabeln waren dann dichterisch aufwändiger ausgeschmückt. Bereits in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe bekannte sich La Fontaine zu seinen Vorbildern und unterrichtete das Lesepublikum über die Absicht seines Werkes: »durch einige Zutaten den Fabeln einen neuen und frischen Reiz zu geben«.
Neben dem bunten Volk von Tieren, denen La Fontaine menschliche Züge verlieh, bevölkerten seine Fabeln aber auch Naturgewalten, Götter oder Menschen – vom Trunkenbold bis zum Testamentsausleger –, die ebenfalls mit bestimmten Charakterzügen ausgestattet wurden. Es sind einzigartige Milieubilder der hierarchischen Gesellschaft der absoluten Monarchie in Frankreich. Die Fabeln waren aber keinesfalls als Kinderliteratur gedacht. Dieses Missverständnis rührt wohl daher, dass sie (bis heute) vielfach pädagogisch genutzt werden. Sie stellten vielmehr eine mondäne Salongattung dar, die es La Fontaine erlaubte, seine Menschenkenntnis und Gesellschaftskritik im Tierreich zu verstecken.
La Fontaine war jedoch kein »heimlicher Widerstandskämpfer«; als Edelmann im Dienst verschiedener Mäzeninnen (ab 1673 Madame de La Sablière, die einen geistreichen Salon in Paris führte) war er vielmehr auf die Gunst der Herrschenden angewiesen. So widmete er seine Werke (meist mit angefügten Lobliedern) dem Umkreis von Ludwig XIV., zu dem er aber niemals Zugang hatte und der seine Aufnahme in die Académie française immer wieder hinauszögerte. Als 1675 seine »Nouveaux Contes« erschienen, fanden entrüstete Kritiker und Moralapostel beim König Gehör, und der Auswahlband wurde verboten. La Fontaine musste sich sogar vor der Académie française entschuldigen.
Während die ersten Fabelbücher noch weitgehend der didaktischen Fabeltradition verhaftet waren und vorrangig menschliche Schwächen wie Eitelkeit oder Habgier aufs Korn nahmen, trat in den beiden letzten Fabelbänden Gesellschaftskritik deutlicher zutage. In verhüllter Form sprach La Fontaine hier die Willkür und die Kriegspolitik des Königs (in den Löwenfabeln), Rechtsverletzungen oder die Ohnmacht der Schwachen an. In »Der Löwe, der Wolf und der Fuchs« beschrieb er zum Beispiel das Verhalten der Höflinge untereinander, ein Verhalten, das durch die autoritäre Art und Unerbittlichkeit des Königs hervorgerufen wurde. Diese wenn auch verschleierten Offenlegungen waren für La Fontaine aber immer ein Spagat zwischen Kritik und Loyalität. Freunde, die nach England ausgewandert waren, versuchten, ihn zu überzeugen, sich in London niederzulassen. Doch 1692 erkrankte La Fontaine schwer; drei Jahre später, am 13. April 1695, starb er in Paris und wurde auf dem Friedhof der Saints-Innocents beigesetzt. In dem bereits erwähnten Vorwort sprach La Fontaine die Hoffnung aus: »Vielleicht erweckt meine Arbeit in anderen die Lust, das Unternehmen weiter fortzuführen.« Diese Lust verspürten vor allem in der Zeit der Aufklärung Gellert, Lessing oder Krylow, im 20. Jahrhundert aber auch Brecht, Weinert oder Schnurre.
Zum 400. Geburtstag von La Fontaine hat der Anaconda Verlag seine »Sämtlichen Fabeln« herausgebracht – darunter auch solche, die vom Autor nicht in seine zwölf Bücher aufgenommen bzw. nicht veröffentlicht wurden. Ausgestattet ist die Ausgabe mit den Illustrationen des französischen Lithographen Jean-Jacques Grandville (1803-1847), die 1837 entstanden. Mit diesen karikaturistischen Zeichnungen, später auch mit den Illustrationen des französischen Graphikers Gustave Doré (1832-1883), wurden La Fontaines Fabeln im 19. Jahrhundert bekannt und kommerziell erfolgreich.
Die Neuerscheinung »Jean de La Fontaine – Von Tieren und Menschen« dagegen kommt in der Form einer unkonventionellen kleinen Enzyklopädie daher. In 182 informativen Texten werden die vielen Facetten von La Fontaines Leben und Werk vorgestellt; ergänzt mit Kurzbiografien seines Umfeldes sowie kompakten Analysen von Fachleuten und Berichten von Zeitzeugen. Themenschwerpunkte beleuchten u.a. das Frauenbild und das literarische Leben seiner Zeit. Zahlreiche Illustrationen, Gemälde, Plakate und Fotos sowie unterschiedliche Schriftarten erhöhen den Lektürespaß.
Jean de La Fontaine: Sämtliche Fabeln, Anaconda Verlag, München 2021, 625 S., 7,95 €.
Martine Pichard: Jean de La Fontaine – Von Tieren und Menschen. Aus dem Französischen von Ursula Schüttler-Rudolph, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2021, 128 S., 19,80 €.