Die Wirklichkeit, wenn sie uns völlig Unerwartetes zumutet, stellt uns manchmal vor die Aufgabe, die festgefügte, geordnete Welt unserer Einstellungen radikal infrage zu stellen. Gerade für eine linke Perspektive ist es unverzichtbar, in der Wirklichkeit anzukommen. Ich zitiere Rosa Luxemburg: »Der Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt.«
Der Angriffskrieg von Putin-Russland auf die Ukraine ist ein großes Verbrechen. Er ist Konsequenz einer extrem nationalistischen, autoritären Grundhaltung des russischen Präsidenten. Es ist im Verlaufe dieses Krieges klar geworden, dass es keineswegs nur um das durchaus legitime Ziel einer Neutralität der Ukraine geht, sondern um die gewaltsame Verschiebung von Grenzen, um die Auslöschung des legitimen Anspruchs des ukrainischen Staates auf Selbstbestimmung. Wenn man manche russischen Stimmen aus der zweiten Reihe zur Kenntnis nimmt, welche die Umwandlung der Ukrainer in Russen fordern, so beginne ich unruhig zu werden. Es ist, als ob die Schatten der Finsternis, die sich in Europa vor 83 Jahren ausbreiteten, plötzlich eine »Auferstehung« erfahren könnten.
Es galt viele Jahre in Europa als zivilisatorische Errungenschaft, die einmal entstandenen Grenzen zwischen den Staaten zu respektieren. So muss man also von einem Rückfall in die Barbarei sprechen. Es ist das bloße Faustrecht des Stärkeren. Es ist mehr als legitim, dass der schwächere, unterlegene Staat sich wehren will gegen diese versuchte Vergewaltigung durch den Nachbarn. Das Ausmaß des russischen Zivilisationsbruchs macht ein Blick auf ein Abkommen von 1994 deutlich, das besagt, dass die Ukraine, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion plötzlich zur drittgrößten Atommacht wurde, ihr ganzes Atomwaffenarsenal Russland übergibt. Im Gegenzug verpflichtete sich Russland, die Souveränität der Ukraine mitsamt ihren Grenzen anzuerkennen, und darüber hinaus die Sicherheit der Ukraine jederzeit zu garantieren.
»Links sein« bedeutet für mich intuitiv, dem Schwächeren, der in Gefahr ist, von einer Übermacht zermalmt zu werden, beizustehen.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion stellte für deren Kernland Russland so etwas wie einen »Urknall« dar. Ein Erwachen in die machtpolitische Zweitrangigkeit. Das Ende des sozialistischen Gesellschaftsmodells hatte auch den Verlust einer Immunisierung gegen die Phrasen von der notwendigen Größe eines Landes zur Folge. Russland wurde ab 1991 umgewandelt in eine Oligarchie, der Raubtierkapitalismus bestimmte die weitere Entwicklung des Landes mit den bekannten schlimmen Konsequenzen für die Lebensbedingungen der Mehrheit.
Putin denkt vor allem in Kategorien der Macht. Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnet er als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, nicht wegen der Zerstörung des sozialistischen Modells, sondern wegen des Machtverlustes Russlands. Seine Ziele sind Weltgeltung, Wiedererringung der alten territorialen Ausdehnung, imperialistische Anmaßung. Der großrussische Nationalismus, den Putin wieder zum Leben erweckte, blickt auf eine jahrhundertelange Tradition zurück. Lenin war sich dessen sehr wohl bewusst, deshalb sah er es als seine zentrale Aufgabe an, »in einen Kampf auf Leben und Tod mit dem großrussischen Chauvinismus« zu treten. Es ist also ein Kernbestandteil linker Identität, sich jeder nationalistischen Verstiegenheit entgegenzustellen.
Michail Gorbatschow benutzte häufig das Bild vom gemeinsamen Haus Europa, in dem jeder Staat eine Wohnung belegen könne. Dieses Bild veranschaulicht die Vision einer umfassenden Integration, in dem die Ängste vor dem Nachbarn und der Missbrauch eines anderen Staates als Projektionsfläche eigener Ängste überwunden sind. Die Verwirklichung dieser Vision hätte als ersten Schritt die Auflösung der Nato zur Folge haben müssen. So blieb Russland draußen. Es kultivierte sich in der Folgezeit wieder die Angst vor Russland, was dazu führte, dass die ehemaligen Verbündeten der Sowjetunion der Nato beitraten. Der zeitweise von Russland selbst erwogene Nato-Beitritt war von dieser nicht gewollt. Es scheint, dass manche Linke ihre Sympathie für den Vorgängerstaat, bereitwillig auch dem »neuen« Russland schenken wollten. So ganz genau wollte man nicht hinsehen, was sich in Putins Reich ab 2000 so ereignete.
Ich möchte genauer hinsehen. Wir erlebten in den 1990er Jahren die Unabhängigkeitsbewegung der Tschetschenen, die Putin mit massiver Brutalität auszulöschen versuchte. Dann breitete sich eine von Gesetzen unterfütterte Homophobie über Russland aus, es folgte das Eingehen eines engen Bündnisses des Staates mit der reaktionären orthodoxen Kirchenführung, die faktisch die Wiederherstellung längst vergangener Privilegien zur Folge hatte. Es war also der Versuch, an die Zeit vor 1917 wieder anzuknüpfen. Unverkennbar wurde das gesellschaftliche Klima immer autoritärer. Die Möglichkeit, kritisch das staatliche Handeln durch eine freie Presse zu begleiten, wurde immer mehr eingeschränkt, so dass es schließlich lebensgefährlich wurde, die Wahrheit über die Herrschenden auszusprechen. Auch für oppositionelle Parteien oder Persönlichkeiten wurde die Luft immer dünner, diese wurden ins Exil gedrängt, auch dort waren sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Ein Alarmzeichen war auch die Zusammenarbeit der Regierung Putin mit rechtspopulistischen Parteien in der EU. Dies war der Bruch mit der eigenen antifaschistischen Tradition.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass es von Anfang an ein strategisches Konzept gab, das jedoch durch die gut beherrschte Kunst der Verstellung – es sei an Schröders Wort vom »lupenreinen Demokraten Putin« erinnert – verdeckt wurde. Es lohnt sich, das Geschichtsbewusstsein Putins unter die Lupe zu nehmen. Sein Ausgangspunkt ist die Keimzelle russischer Staatlichkeit, die »Kiewer Rus«, oder Altrussland, der historische Vorläuferstaat von Russland inklusive Ukraine und Belarus, mit Kiew als Hauptstadt. Dieser Staat existierte von 838 bis 1242 n. Chr. Diese längst vergangene Epoche liefert Putin die Begründung für seine Haltung, dass die Ukraine kein Recht auf eine eigene Staatlichkeit habe.
Man stelle sich vor, ein deutscher Bundeskanzler würde sich hinstellen und mit dem Verweis auf den Vorläuferstaat, »Heiliges römisches Reich deutscher Nation«, dass ja phasenweise die Schweiz, die Niederlande, die französische Region Burgund, das Elsass sowie Teile des heutigen Italiens umfasste, fordern, dass diese Gebiete an Deutschland wieder angegliedert werden müssten.
Viele Linke haben gewisse Bauchschmerzen, sich in einer Allianz mit westlichen Staaten wiederzufinden. Dies führt dann dazu, dass nicht klar benannt wird, was ist. Es ist ja richtig, dass Russland den Krieg nicht erfunden hat. Wir sehen uns in der Welt mit über 70 kriegerischen Konflikten konfrontiert. Gerade der Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt deutlich, dass eben auch westliche Staaten, allen voran die USA, allzu schnell bereit waren, andere Länder mit Krieg zu überziehen – begangene Kriegsverbrechen eingeschlossen. Es darf erinnert werden, dass der chemische Kampfstoff Agent Orange, Teil der US-Kriegsführung in Vietnam, Schäden im Erbgut von Neugeborenen bis in die Gegenwart hinein verursacht. So darf man sich schon verwundert die Augen reiben, mit welch empathischer Empfindsamkeit die führenden Vertreter des Westens die Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung an dem entfesselten Krieg begleiten. Jedoch ist die Mobilisierung der Weltöffentlichkeit gegen den Krieg positiv zu bewerten.
Viele Linke haben eine Abneigung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie sagen, es müsse einen friedlichen Ausgleich, Verhandlungen geben. Der Präsident der Ukraine hat ein paar Tage nach dem Beginn der Invasion der russischen Regierung die Neutralität der Ukraine angeboten. Jedoch ohne erkennbare Wirkung bei der russischen Regierung. Die russischen Kriegsziele sind mittlerweile bekannt. Es ist offensichtlich, dass die Realisierung dieser Ziele nur mit militärischen Mitteln erreicht werden kann. Deshalb bleibt die Erkenntnis, dass Putin-Russland derzeit noch kein wirkliches Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Es geht um die Angliederung des Donbass, die Schaffung einer Landverbindung zur Krim und darüber hinaus womöglich um die Besetzung der gesamten ukrainischen Schwarzmeerküste, bis hin zur russischen Enklave Transnistrien, dieses von der Republik Moldau abgespaltene Territorium. Die Kontrolle der gesamten ukrainischen Schwarzmeerküste würde bedeuten, dass die Regierung Putin die Ukraine finanziell austrocknen könnte, denn die lebenswichtigen ukrainischen Exporte – vor allem natürlich die Getreideausfuhren – werden über die Schwarzmeerhäfen abgewickelt. Es ist also erkennbar, in welch existentieller Gefahr die Ukraine nach wie vor ist.
Es ist Teil der linken Identität, dass wir das humanistische Menschenbild verteidigen. Das heißt, wir treten ein für die freie Selbstbestimmung sowohl der Menschen als auch der Staaten. Diese dürfen nicht zu ohnmächtigen Objekten in den Händen einer übermächtigen, gewaltfixierten Macht werden. Deshalb ist es notwendig, die Ukraine militärisch zu unterstützen, damit sie imstande ist, den russischen Vormarsch zu stoppen und das eigene Territorium zu verteidigen.
Der Krieg ist immer eine Katastrophe. Er hinterlässt ein umfassendes Zerstörungswerk. Dies beschränkt sich nicht auf zerbombte Städte oder Siedlungen. Sondern er verursacht im Inneren des Menschen eine Transformation, nämlich den Mitmenschen als Feind zu bewerten, den es maximal zu beschädigen und zu vernichten gilt. Es ist dann nicht einfach, zu einer das Gegenüber respektierenden, den friedlichen Ausgleich suchenden Haltung zurückzukehren. Der Krieg bewirkt die Freisetzung unserer dunkelsten inneren Anteile, und hierin erkenne ich die eigentliche Gefahr einer Eskalationsdynamik. Der Klang der Reden von Außenministerin Baerbock lässt eine beängstigende Lust am umfassenden Vernichtungsschlag gegen Russland erkennen. Es sind die härtesten Wirtschaftssanktionen gegen Russland beschlossen worden, und die Schrauben werden immer weiter angezogen. Baerbock spricht davon, jede Form von Abhängigkeit gegenüber Russland auf null zu bringen, und zwar »für immer«. Diese Sprache enthält ein Ausmaß an Verfeindung, die den Keim zu einer Eskalation in sich trägt, und uns immer tiefer in eine Kriegslogik hineinzwingen kann.
Es ist die Verbindung der Gegensätze zu einem schlüssigen Ganzen, also die dialektische Methode, die uns vielleicht einen guten Weg aufzeigt – einerseits die militärische Hilfe für die Selbstverteidigung der Ukraine und andererseits die klaren Signale an Russland, dass unsere Gegnerschaft nur diesem von ihm entfesselten Krieg gilt, und keineswegs die Zerschlagung oder die machtpolitische Marginalisierung Russlands zum Ziel hat. Es gilt der immer stärker werdenden Verfeindung etwas Kooperatives entgegenzusetzen, um der russischen Regierung zu helfen, aus dem Labyrinth des Irrtums herauszufinden.