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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Einbruch des Unerwarteten

Die Wirk­lich­keit, wenn sie uns völ­lig Uner­war­te­tes zumu­tet, stellt uns manch­mal vor die Auf­ga­be, die fest­ge­füg­te, geord­ne­te Welt unse­rer Ein­stel­lun­gen radi­kal infra­ge zu stel­len. Gera­de für eine lin­ke Per­spek­ti­ve ist es unver­zicht­bar, in der Wirk­lich­keit anzu­kom­men. Ich zitie­re Rosa Luxem­burg: »Der Mar­xis­mus ist eine revo­lu­tio­nä­re Welt­an­schau­ung, die stets nach neu­en Erkennt­nis­sen rin­gen muss, die nichts so ver­ab­scheut wie das Erstar­ren in ein­mal gül­ti­gen For­men, die am besten im gei­sti­gen Waf­fen­ge­klirr der Selbst­kri­tik und im geschicht­li­chen Blitz und Don­ner ihre leben­di­ge Kraft bewährt.«

Der Angriffs­krieg von Putin-Russ­land auf die Ukrai­ne ist ein gro­ßes Ver­bre­chen. Er ist Kon­se­quenz einer extrem natio­na­li­sti­schen, auto­ri­tä­ren Grund­hal­tung des rus­si­schen Prä­si­den­ten. Es ist im Ver­lau­fe die­ses Krie­ges klar gewor­den, dass es kei­nes­wegs nur um das durch­aus legi­ti­me Ziel einer Neu­tra­li­tät der Ukrai­ne geht, son­dern um die gewalt­sa­me Ver­schie­bung von Gren­zen, um die Aus­lö­schung des legi­ti­men Anspruchs des ukrai­ni­schen Staa­tes auf Selbst­be­stim­mung. Wenn man man­che rus­si­schen Stim­men aus der zwei­ten Rei­he zur Kennt­nis nimmt, wel­che die Umwand­lung der Ukrai­ner in Rus­sen for­dern, so begin­ne ich unru­hig zu wer­den. Es ist, als ob die Schat­ten der Fin­ster­nis, die sich in Euro­pa vor 83 Jah­ren aus­brei­te­ten, plötz­lich eine »Auf­er­ste­hung« erfah­ren könnten.

Es galt vie­le Jah­re in Euro­pa als zivi­li­sa­to­ri­sche Errun­gen­schaft, die ein­mal ent­stan­de­nen Gren­zen zwi­schen den Staa­ten zu respek­tie­ren. So muss man also von einem Rück­fall in die Bar­ba­rei spre­chen. Es ist das blo­ße Faust­recht des Stär­ke­ren. Es ist mehr als legi­tim, dass der schwä­che­re, unter­le­ge­ne Staat sich weh­ren will gegen die­se ver­such­te Ver­ge­wal­ti­gung durch den Nach­barn. Das Aus­maß des rus­si­schen Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs macht ein Blick auf ein Abkom­men von 1994 deut­lich, das besagt, dass die Ukrai­ne, die nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on plötz­lich zur dritt­größ­ten Atom­macht wur­de, ihr gan­zes Atom­waf­fen­ar­se­nal Russ­land über­gibt. Im Gegen­zug ver­pflich­te­te sich Russ­land, die Sou­ve­rä­ni­tät der Ukrai­ne mit­samt ihren Gren­zen anzu­er­ken­nen, und dar­über hin­aus die Sicher­heit der Ukrai­ne jeder­zeit zu garantieren.

»Links sein« bedeu­tet für mich intui­tiv, dem Schwä­che­ren, der in Gefahr ist, von einer Über­macht zer­malmt zu wer­den, beizustehen.

Der Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on stell­te für deren Kern­land Russ­land so etwas wie einen »Urknall« dar. Ein Erwa­chen in die macht­po­li­ti­sche Zweit­ran­gig­keit. Das Ende des sozia­li­sti­schen Gesell­schafts­mo­dells hat­te auch den Ver­lust einer Immu­ni­sie­rung gegen die Phra­sen von der not­wen­di­gen Grö­ße eines Lan­des zur Fol­ge. Russ­land wur­de ab 1991 umge­wan­delt in eine Olig­ar­chie, der Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus bestimm­te die wei­te­re Ent­wick­lung des Lan­des mit den bekann­ten schlim­men Kon­se­quen­zen für die Lebens­be­din­gun­gen der Mehrheit.

Putin denkt vor allem in Kate­go­rien der Macht. Den Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on bezeich­net er als die größ­te geo­po­li­ti­sche Kata­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts, nicht wegen der Zer­stö­rung des sozia­li­sti­schen Modells, son­dern wegen des Macht­ver­lu­stes Russ­lands. Sei­ne Zie­le sind Welt­gel­tung, Wie­der­errin­gung der alten ter­ri­to­ria­len Aus­deh­nung, impe­ria­li­sti­sche Anma­ßung. Der groß­rus­si­sche Natio­na­lis­mus, den Putin wie­der zum Leben erweck­te, blickt auf eine jahr­hun­der­te­lan­ge Tra­di­ti­on zurück. Lenin war sich des­sen sehr wohl bewusst, des­halb sah er es als sei­ne zen­tra­le Auf­ga­be an, »in einen Kampf auf Leben und Tod mit dem groß­rus­si­schen Chau­vi­nis­mus« zu tre­ten. Es ist also ein Kern­be­stand­teil lin­ker Iden­ti­tät, sich jeder natio­na­li­sti­schen Ver­stie­gen­heit entgegenzustellen.

Michail Gor­bat­schow benutz­te häu­fig das Bild vom gemein­sa­men Haus Euro­pa, in dem jeder Staat eine Woh­nung bele­gen kön­ne. Die­ses Bild ver­an­schau­licht die Visi­on einer umfas­sen­den Inte­gra­ti­on, in dem die Äng­ste vor dem Nach­barn und der Miss­brauch eines ande­ren Staa­tes als Pro­jek­ti­ons­flä­che eige­ner Äng­ste über­wun­den sind. Die Ver­wirk­li­chung die­ser Visi­on hät­te als ersten Schritt die Auf­lö­sung der Nato zur Fol­ge haben müs­sen. So blieb Russ­land drau­ßen. Es kul­ti­vier­te sich in der Fol­ge­zeit wie­der die Angst vor Russ­land, was dazu führ­te, dass die ehe­ma­li­gen Ver­bün­de­ten der Sowjet­uni­on der Nato bei­tra­ten. Der zeit­wei­se von Russ­land selbst erwo­ge­ne Nato-Bei­tritt war von die­ser nicht gewollt. Es scheint, dass man­che Lin­ke ihre Sym­pa­thie für den Vor­gän­ger­staat, bereit­wil­lig auch dem »neu­en« Russ­land schen­ken woll­ten. So ganz genau woll­te man nicht hin­se­hen, was sich in Putins Reich ab 2000 so ereignete.

Ich möch­te genau­er hin­se­hen. Wir erleb­ten in den 1990er Jah­ren die Unab­hän­gig­keits­be­we­gung der Tsche­tsche­nen, die Putin mit mas­si­ver Bru­ta­li­tät aus­zu­lö­schen ver­such­te. Dann brei­te­te sich eine von Geset­zen unter­füt­ter­te Homo­pho­bie über Russ­land aus, es folg­te das Ein­ge­hen eines engen Bünd­nis­ses des Staa­tes mit der reak­tio­nä­ren ortho­do­xen Kir­chen­füh­rung, die fak­tisch die Wie­der­her­stel­lung längst ver­gan­ge­ner Pri­vi­le­gi­en zur Fol­ge hat­te. Es war also der Ver­such, an die Zeit vor 1917 wie­der anzu­knüp­fen. Unver­kenn­bar wur­de das gesell­schaft­li­che Kli­ma immer auto­ri­tä­rer. Die Mög­lich­keit, kri­tisch das staat­li­che Han­deln durch eine freie Pres­se zu beglei­ten, wur­de immer mehr ein­ge­schränkt, so dass es schließ­lich lebens­ge­fähr­lich wur­de, die Wahr­heit über die Herr­schen­den aus­zu­spre­chen. Auch für oppo­si­tio­nel­le Par­tei­en oder Per­sön­lich­kei­ten wur­de die Luft immer dün­ner, die­se wur­den ins Exil gedrängt, auch dort waren sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Ein Alarm­zei­chen war auch die Zusam­men­ar­beit der Regie­rung Putin mit rechts­po­pu­li­sti­schen Par­tei­en in der EU. Dies war der Bruch mit der eige­nen anti­fa­schi­sti­schen Tradition.

Es drängt sich der Ver­dacht auf, dass es von Anfang an ein stra­te­gi­sches Kon­zept gab, das jedoch durch die gut beherrsch­te Kunst der Ver­stel­lung – es sei an Schrö­ders Wort vom »lupen­rei­nen Demo­kra­ten Putin« erin­nert – ver­deckt wur­de. Es lohnt sich, das Geschichts­be­wusst­sein Putins unter die Lupe zu neh­men. Sein Aus­gangs­punkt ist die Keim­zel­le rus­si­scher Staat­lich­keit, die »Kie­wer Rus«, oder Alt­russ­land, der histo­ri­sche Vor­läu­fer­staat von Russ­land inklu­si­ve Ukrai­ne und Bela­rus, mit Kiew als Haupt­stadt. Die­ser Staat exi­stier­te von 838 bis 1242 n. Chr. Die­se längst ver­gan­ge­ne Epo­che lie­fert Putin die Begrün­dung für sei­ne Hal­tung, dass die Ukrai­ne kein Recht auf eine eige­ne Staat­lich­keit habe.

Man stel­le sich vor, ein deut­scher Bun­des­kanz­ler wür­de sich hin­stel­len und mit dem Ver­weis auf den Vor­läu­fer­staat, »Hei­li­ges römi­sches Reich deut­scher Nati­on«, dass ja pha­sen­wei­se die Schweiz, die Nie­der­lan­de, die fran­zö­si­sche Regi­on Bur­gund, das Elsass sowie Tei­le des heu­ti­gen Ita­li­ens umfass­te, for­dern, dass die­se Gebie­te an Deutsch­land wie­der ange­glie­dert wer­den müssten.

Vie­le Lin­ke haben gewis­se Bauch­schmer­zen, sich in einer Alli­anz mit west­li­chen Staa­ten wie­der­zu­fin­den. Dies führt dann dazu, dass nicht klar benannt wird, was ist. Es ist ja rich­tig, dass Russ­land den Krieg nicht erfun­den hat. Wir sehen uns in der Welt mit über 70 krie­ge­ri­schen Kon­flik­ten kon­fron­tiert. Gera­de der Blick in die jün­ge­re Ver­gan­gen­heit zeigt deut­lich, dass eben auch west­li­che Staa­ten, allen vor­an die USA, all­zu schnell bereit waren, ande­re Län­der mit Krieg zu über­zie­hen – began­ge­ne Kriegs­ver­bre­chen ein­ge­schlos­sen. Es darf erin­nert wer­den, dass der che­mi­sche Kampf­stoff Agent Oran­ge, Teil der US-Kriegs­füh­rung in Viet­nam, Schä­den im Erb­gut von Neu­ge­bo­re­nen bis in die Gegen­wart hin­ein ver­ur­sacht. So darf man sich schon ver­wun­dert die Augen rei­ben, mit welch empa­thi­scher Emp­find­sam­keit die füh­ren­den Ver­tre­ter des Westens die Lei­den der ukrai­ni­schen Zivil­be­völ­ke­rung an dem ent­fes­sel­ten Krieg beglei­ten. Jedoch ist die Mobi­li­sie­rung der Welt­öf­fent­lich­keit gegen den Krieg posi­tiv zu bewerten.

Vie­le Lin­ke haben eine Abnei­gung gegen Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne. Sie sagen, es müs­se einen fried­li­chen Aus­gleich, Ver­hand­lun­gen geben. Der Prä­si­dent der Ukrai­ne hat ein paar Tage nach dem Beginn der Inva­si­on der rus­si­schen Regie­rung die Neu­tra­li­tät der Ukrai­ne ange­bo­ten. Jedoch ohne erkenn­ba­re Wir­kung bei der rus­si­schen Regie­rung. Die rus­si­schen Kriegs­zie­le sind mitt­ler­wei­le bekannt. Es ist offen­sicht­lich, dass die Rea­li­sie­rung die­ser Zie­le nur mit mili­tä­ri­schen Mit­teln erreicht wer­den kann. Des­halb bleibt die Erkennt­nis, dass Putin-Russ­land der­zeit noch kein wirk­li­ches Inter­es­se an einer Ver­hand­lungs­lö­sung hat. Es geht um die Anglie­de­rung des Don­bass, die Schaf­fung einer Land­ver­bin­dung zur Krim und dar­über hin­aus womög­lich um die Beset­zung der gesam­ten ukrai­ni­schen Schwarz­meer­kü­ste, bis hin zur rus­si­schen Enkla­ve Trans­ni­stri­en, die­ses von der Repu­blik Mol­dau abge­spal­te­ne Ter­ri­to­ri­um. Die Kon­trol­le der gesam­ten ukrai­ni­schen Schwarz­meer­kü­ste wür­de bedeu­ten, dass die Regie­rung Putin die Ukrai­ne finan­zi­ell aus­trock­nen könn­te, denn die lebens­wich­ti­gen ukrai­ni­schen Expor­te – vor allem natür­lich die Getrei­de­aus­fuh­ren – wer­den über die Schwarz­meer­hä­fen abge­wickelt. Es ist also erkenn­bar, in welch exi­sten­ti­el­ler Gefahr die Ukrai­ne nach wie vor ist.

Es ist Teil der lin­ken Iden­ti­tät, dass wir das huma­ni­sti­sche Men­schen­bild ver­tei­di­gen. Das heißt, wir tre­ten ein für die freie Selbst­be­stim­mung sowohl der Men­schen als auch der Staa­ten. Die­se dür­fen nicht zu ohn­mäch­ti­gen Objek­ten in den Hän­den einer über­mäch­ti­gen, gewalt­fi­xier­ten Macht wer­den. Des­halb ist es not­wen­dig, die Ukrai­ne mili­tä­risch zu unter­stüt­zen, damit sie imstan­de ist, den rus­si­schen Vor­marsch zu stop­pen und das eige­ne Ter­ri­to­ri­um zu verteidigen.

Der Krieg ist immer eine Kata­stro­phe. Er hin­ter­lässt ein umfas­sen­des Zer­stö­rungs­werk. Dies beschränkt sich nicht auf zer­bomb­te Städ­te oder Sied­lun­gen. Son­dern er ver­ur­sacht im Inne­ren des Men­schen eine Trans­for­ma­ti­on, näm­lich den Mit­men­schen als Feind zu bewer­ten, den es maxi­mal zu beschä­di­gen und zu ver­nich­ten gilt. Es ist dann nicht ein­fach, zu einer das Gegen­über respek­tie­ren­den, den fried­li­chen Aus­gleich suchen­den Hal­tung zurück­zu­keh­ren. Der Krieg bewirkt die Frei­set­zung unse­rer dun­kel­sten inne­ren Antei­le, und hier­in erken­ne ich die eigent­li­che Gefahr einer Eska­la­ti­ons­dy­na­mik. Der Klang der Reden von Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bock lässt eine beäng­sti­gen­de Lust am umfas­sen­den Ver­nich­tungs­schlag gegen Russ­land erken­nen. Es sind die här­te­sten Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen Russ­land beschlos­sen wor­den, und die Schrau­ben wer­den immer wei­ter ange­zo­gen. Baer­bock spricht davon, jede Form von Abhän­gig­keit gegen­über Russ­land auf null zu brin­gen, und zwar »für immer«. Die­se Spra­che ent­hält ein Aus­maß an Ver­fein­dung, die den Keim zu einer Eska­la­ti­on in sich trägt, und uns immer tie­fer in eine Kriegs­lo­gik hin­ein­zwin­gen kann.

Es ist die Ver­bin­dung der Gegen­sät­ze zu einem schlüs­si­gen Gan­zen, also die dia­lek­ti­sche Metho­de, die uns viel­leicht einen guten Weg auf­zeigt – einer­seits die mili­tä­ri­sche Hil­fe für die Selbst­ver­tei­di­gung der Ukrai­ne und ande­rer­seits die kla­ren Signa­le an Russ­land, dass unse­re Geg­ner­schaft nur die­sem von ihm ent­fes­sel­ten Krieg gilt, und kei­nes­wegs die Zer­schla­gung oder die macht­po­li­ti­sche Mar­gi­na­li­sie­rung Russ­lands zum Ziel hat. Es gilt der immer stär­ker wer­den­den Ver­fein­dung etwas Koope­ra­ti­ves ent­ge­gen­zu­set­zen, um der rus­si­schen Regie­rung zu hel­fen, aus dem Laby­rinth des Irr­tums herauszufinden.