Die Welt scheint zu Beginn des dritten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends immer hysterischer zu werden. Und Deutschland, seit Jahren boomend und im Ausland als Hort der Stabilität geachtet, auch die Corona-Pandemie konnte diesen Eindruck kaum mildern, bildet da keine Ausnahme mehr. Spätestens mit dem Einzug der rechtspopulistischen AfD in den Deutschen Bundestag im Herbst 2017 scheint es mit einer bundesrepublikanischen Sonderstellung vorbei zu sein. Jedes Thema, das direkt oder indirekt mit den Feldern Migration, Integration oder Identität zu tun hat, wird aggressiv diskutiert, sehr schnell geht es ums Ganze. Doch woher rührt diese zunehmende gesellschaftliche Segregation? Zahllose alltägliche und berufliche Erfahrungen sowie viele Diskurse der letzten Jahre haben alle etwas gemein: Sie zeigen eine Entfremdung, die nicht mehr nur in Sprachlosigkeit mündet, sondern in der eine Ablehnung oder Aggression gegenüber Menschen um sich greift, die nicht das gleiche »Mindset« haben, die anders sind als ich und mein Milieu.
Hierbei spielt nach meiner Einschätzung die Bildung eine zentrale Rolle, und zwar nicht in der formellen Form von Bildungszertifikaten, sondern wie sie unser Selbst-Bewusstsein verändert. Die sich verschärfenden Trennungslinien verlaufen nicht mehr nur zwischen »rechts« und »links«, zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen Jung und Alt, Mann und Frau. Ablehnung erfährt eher das Traditionelle, das Profane und Gewöhnliche, alles, was nicht mehr in eine zukünftige Welt zu passen scheint, die bei aller Unklarheit sehr flexibel, global und digital sein soll. Zur »alten« Welt kann infolgedessen fast jeder gehören: der Nachbar, der einen Bierbauch hat, die Kollegin, die an alten Traditionen wie dem Einwecken hängt, der ältere Busfahrer aus Anatolien, der amerikanische Stahlarbeiter, der Spießer aus Sachsen oder auch der Flüchtling aus Syrien.
2017 hat der englische Autor David Goodhart die Unterscheidung von den global orientierten und liberalen »Anywheres« und den eher lokal verwurzelten »Somewheres« in die Diskussion um den Aufstieg des rechten Populismus eingebracht. Gerade die Unterkomplexität dieser Unterscheidung macht sie für mich so attraktiv, da alle objektiven Daten zu Einkommen oder politischer Orientierung diese Entfremdung nicht hinreichend beschreiben können, wie sie sich in den USA gerade in aller Scheußlichkeit zeigte. Der Wahlsieg Trumps 2016 und die Treue seiner Anhänger/innen war und ist auch für mich in erster Linie ein Aufbegehren der Somewheres, die sich endlich wieder geachtet oder wenigstens relevant fühlen wollen.
Meine These ist, dass die Geringschätzung und manchmal sogar Demütigung der Somewheres durch die Anywheres ein, wenn nicht das zentrale Problem der Entfremdung ist. Und das sage ich im vollen Bewusstsein eines Anywheres, der von Somewheres sozialisiert wurde. So ist in den letzten Jahrzehnten in den USA wie in Europa ein neuer Chauvinismus der Anywheres entstanden, der dem alten, »rechten« Chauvinismus der Somewheres entgegensteht, der sich (weiter) aus der Zugehörigkeit zu Nation, Religion und einer Kultur der Männlichkeit speist. Der neue, »linke« Chauvinismus beruft sich dagegen auf die richtige »Identität«. Er rekrutiert sich nicht aus den älteren linken Somewheres der Arbeitermilieus, sondern aus jüngeren linksliberalen Akademikerkreisen, die in den Städten im Zuge der Gentrifizierung den Somewheres nicht nur den Rang abgelaufen, sondern sie oft auch aus ihren Wohnungen verdrängt haben.
Gegen solche Zurücksetzung regt sich ein zunehmend offener Widerstand. Einige Somewheres äußern ihre Ablehnung des aus ihrer Sicht lächerlichen Lebensstils der Anywheres gegen diese selbst. Es trifft harmlose Phänomene wie Veganer oder Hipster, oder es wird sich über Greta Thunberg echauffiert und die verwöhnten Blagen der Fridays for future-Bewegung. Solche Wut richtet sich aber nicht selten auch gegen andere Somewheres, indem diese rassistisch beleidigt oder sogar angegriffen werden. Besonders darin zeigt sich die Perversität der Entfremdung. Die vermeintlich »Stehengebliebenen« gehen nicht nur auf die vermeintlich »Fortschrittlichen« los, sondern sie bekämpfen sich bevorzugt untereinander. Und auch bei den Anywheres herrscht Verwirrung: In deutschen Metropolen trifft der Flüchtling aus Syrien, und dieser ist oft mehr Somewhere als der Angestellte aus Pirna, interessanterweise auf wesentlich mehr Sympathie und Verständnis als der »Mitbürger« aus Sachsen.
Doch was offenbaren all diese internen und externen Differenzen? Einen versteckten Selbsthass? Zeigen »uns« Anywheres die Somewheres aus Ostdeutschland oder dem Pott, dass wir uns die ganze Zeit nur selbst täuschen? Das wir gar nicht so progressiv sind, wie wir sein wollen (sollen)? Oder gerät eine zentrale Idee der (akademischen) Bildung an ihre Grenzen? Die der Reflexion, die immer auch eine Infragestellung meint und die nie enden kann? Ich werde diese Fragen hier leider nicht beantworten können, stelle aber fest, dass die Veränderung unseres Bildungssystems mit der Zunahme akademischer Abschlüsse einen Grundkonsens bürgerlichen Lebens und bürgerlicher Tugenden zumindest infrage stellt, wenn nicht gar auflöst.
Dort, wo von den Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte am meisten profitiert wurde, in der unteren Hälfte der Mittelschicht, befindet sich das Epizentrum der Entfremdung. Hier wird ausgeteilt gegen »Gutmenschen« und »Nazis«, hier ist »MeToo« keine postfeministische Debatte, sondern trennt die Männer (und Frauen) in die, die plötzlich über ihren eigenen »Sexismus« philosophieren, und die, die »nun gar nichts mehr sagen dürfen«. Die Somewheres haben zunehmend das Gefühl, in die Defensive zu geraten, weil viele Anywheres hochmütig signalisieren, dass sie ihr Gegenüber nur noch ernst nehmen, wenn es genau ihrer Meinung ist.
Und diese Ausgrenzung ist ein bewusster Akt, oft taktisch eingesetzt. Um die Sache »selbst« geht es selten, sie ist letztlich austauschbar. So haben die meisten Somewheres sicher kein Problem mit der Lebensweise der Anywheres und ihren diversen Identitäten, sondern mit dem ausschließenden und ideologischen Charakter ihrer Identitätspolitik. Die Brücke für eine aktuell kaum denkbare Annäherung würde darin bestehen, die Nöte der Somewheres mit den Anliegen der Anywheres zu verbinden. Die Bewegung »Black lives matter« etwa kämpft offensiv für schwarze Arbeiter, nur sind es die (meist weißen) Anywheres, die den Brückenschlag zu den weißen Arbeitern verhindern. Sicher werden die nicht-weißen Somewheres (nicht nur in den USA) auch durch den Rassismus eines Teils der Weißen diskriminiert, aber vor allem sind sie gemeinsam die Verlierer einer neoliberalen Neuordnung der US-Wirtschaft und eines desolaten Sozial- und Gesundheitssystems.
Die Bildungskarriere der Kinder von Angestellten und Facharbeitern, also Kindern von Somewheres, ließ in (West-)Deutschland seit den 1970er Jahren eine neue Schicht von Hochschulabsolventen entstehen, die im Gegensatz zum Akademiker-Nachwuchs, der bis dahin die Mehrheit der Studenten stellte, über ein nicht so gewachsenes Selbstverständnis verfügen. Diese »neuen« Akademiker, häufig in den Wirtschaftswissenschaften oder in der Sozialen Arbeit zu finden, sind sich ihres Status’ nicht so sicher. Der ständige Vorwurf an die Somewheres, das Falsche zu wählen, das Falsche zu essen und das falsche Leben zu führen, entspringt einer grundsätzlichen Unsicherheit eines Teils der Anywheres, die ihrer Umwelt zeigen müssen, »wirklich« zu den fortschrittlichen Menschen zu gehören. Und diese Inklusion in den Kreis der Definitionshoheit wird mit der Exklusion der Somewheres, oft sogar der eigenen Eltern, erkauft.
Es sind zwei weiter fortschreitende Entwicklungen des Bildungssystems, die meiner Meinung nach dazu beitragen, für mehr Entfremdung zu sorgen. Die erste Veränderung betrifft die Inflation der Bildungszertifikate, namentlich der Zunahme an Abiturienten und Bachelor-Absolventen, die ganz objektiv die Berufsausbildung abwertet. Die zweite Veränderung ist der schon angedeutete Wandel des Selbst-Bewusstseins. Wie verändert sich eine mehrheitlich akademisch gebildete Gesellschaft, welche Auswirkungen hat das auf unsere Gemeinschaften, unsere Gespräche über Ernährung, Gesundheit und Integration?
Klar ist: Diskussionen in der Öffentlichkeit, aber auch auf der Arbeit oder im Privatleben sind komplizierter geworden. Eine auf allen Ebenen immer diversere Gesellschaft stellt weitaus höhere Anforderungen an unseren Gemeinsinn. Die Form von Bildung, die mit Wissensakkumulation zu tun hat, dem Wissen etwa um andere Kulturen und Sitten, ob der sächsischen oder syrischen, kann im Idealfall dazu beitragen, uns toleranter zu machen. Auf der anderen Seite hat die Bildung aber das Potenzial, uns in reich und arm zu trennen, und zwar in ein viel fundamentaleres Arm und Reich, eines das mehr über uns selbst aussagt als über die ökonomische Teilung. Die Bildung wird für nahezu jedes Problem als Lösung angerufen, ob für die Integration, die Klimakrise, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für die Partnersuche oder den dicken Bauch. Somit wird das seit Jahrzehnten beschworene lebenslange Lernen zur Verheißung wie zum Damoklesschwert zugleich, für die Somewheres sicher mehr, für die Anywheres aber auch.
Mathias Stuhr (Jg. 1970) ist Professor für Sozialmanagement und Bildungssoziologie an der EBC-Hochschule in Hamburg.