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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Chauvinismus der Anywheres

Die Welt scheint zu Beginn des drit­ten Jahr­zehnts des neu­en Jahr­tau­sends immer hyste­ri­scher zu wer­den. Und Deutsch­land, seit Jah­ren boo­mend und im Aus­land als Hort der Sta­bi­li­tät geach­tet, auch die Coro­na-Pan­de­mie konn­te die­sen Ein­druck kaum mil­dern, bil­det da kei­ne Aus­nah­me mehr. Spä­te­stens mit dem Ein­zug der rechts­po­pu­li­sti­schen AfD in den Deut­schen Bun­des­tag im Herbst 2017 scheint es mit einer bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Son­der­stel­lung vor­bei zu sein. Jedes The­ma, das direkt oder indi­rekt mit den Fel­dern Migra­ti­on, Inte­gra­ti­on oder Iden­ti­tät zu tun hat, wird aggres­siv dis­ku­tiert, sehr schnell geht es ums Gan­ze. Doch woher rührt die­se zuneh­men­de gesell­schaft­li­che Segre­ga­ti­on? Zahl­lo­se all­täg­li­che und beruf­li­che Erfah­run­gen sowie vie­le Dis­kur­se der letz­ten Jah­re haben alle etwas gemein: Sie zei­gen eine Ent­frem­dung, die nicht mehr nur in Sprach­lo­sig­keit mün­det, son­dern in der eine Ableh­nung oder Aggres­si­on gegen­über Men­schen um sich greift, die nicht das glei­che »Mind­set« haben, die anders sind als ich und mein Milieu.

Hier­bei spielt nach mei­ner Ein­schät­zung die Bil­dung eine zen­tra­le Rol­le, und zwar nicht in der for­mel­len Form von Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­ten, son­dern wie sie unser Selbst-Bewusst­sein ver­än­dert. Die sich ver­schär­fen­den Tren­nungs­li­ni­en ver­lau­fen nicht mehr nur zwi­schen »rechts« und »links«, zwi­schen Glo­ba­li­sie­rungs­ge­win­nern und -ver­lie­rern, zwi­schen Jung und Alt, Mann und Frau. Ableh­nung erfährt eher das Tra­di­tio­nel­le, das Pro­fa­ne und Gewöhn­li­che, alles, was nicht mehr in eine zukünf­ti­ge Welt zu pas­sen scheint, die bei aller Unklar­heit sehr fle­xi­bel, glo­bal und digi­tal sein soll. Zur »alten« Welt kann infol­ge­des­sen fast jeder gehö­ren: der Nach­bar, der einen Bier­bauch hat, die Kol­le­gin, die an alten Tra­di­tio­nen wie dem Ein­wecken hängt, der älte­re Bus­fah­rer aus Ana­to­li­en, der ame­ri­ka­ni­sche Stahl­ar­bei­ter, der Spie­ßer aus Sach­sen oder auch der Flücht­ling aus Syrien.

2017 hat der eng­li­sche Autor David Good­hart die Unter­schei­dung von den glo­bal ori­en­tier­ten und libe­ra­len »Any­whe­res« und den eher lokal ver­wur­zel­ten »Some­whe­res« in die Dis­kus­si­on um den Auf­stieg des rech­ten Popu­lis­mus ein­ge­bracht. Gera­de die Unter­kom­ple­xi­tät die­ser Unter­schei­dung macht sie für mich so attrak­tiv, da alle objek­ti­ven Daten zu Ein­kom­men oder poli­ti­scher Ori­en­tie­rung die­se Ent­frem­dung nicht hin­rei­chend beschrei­ben kön­nen, wie sie sich in den USA gera­de in aller Scheuß­lich­keit zeig­te. Der Wahl­sieg Trumps 2016 und die Treue sei­ner Anhänger/​innen war und ist auch für mich in erster Linie ein Auf­be­geh­ren der Some­whe­res, die sich end­lich wie­der geach­tet oder wenig­stens rele­vant füh­len wollen.

Mei­ne The­se ist, dass die Gering­schät­zung und manch­mal sogar Demü­ti­gung der Some­whe­res durch die Any­whe­res ein, wenn nicht das zen­tra­le Pro­blem der Ent­frem­dung ist. Und das sage ich im vol­len Bewusst­sein eines Any­whe­res, der von Some­whe­res sozia­li­siert wur­de. So ist in den letz­ten Jahr­zehn­ten in den USA wie in Euro­pa ein neu­er Chau­vi­nis­mus der Any­whe­res ent­stan­den, der dem alten, »rech­ten« Chau­vi­nis­mus der Some­whe­res ent­ge­gen­steht, der sich (wei­ter) aus der Zuge­hö­rig­keit zu Nati­on, Reli­gi­on und einer Kul­tur der Männ­lich­keit speist. Der neue, »lin­ke« Chau­vi­nis­mus beruft sich dage­gen auf die rich­ti­ge »Iden­ti­tät«. Er rekru­tiert sich nicht aus den älte­ren lin­ken Some­whe­res der Arbei­ter­mi­lieus, son­dern aus jün­ge­ren links­li­be­ra­len Aka­de­mi­ker­krei­sen, die in den Städ­ten im Zuge der Gen­tri­fi­zie­rung den Some­whe­res nicht nur den Rang abge­lau­fen, son­dern sie oft auch aus ihren Woh­nun­gen ver­drängt haben.

Gegen sol­che Zurück­set­zung regt sich ein zuneh­mend offe­ner Wider­stand. Eini­ge Some­whe­res äußern ihre Ableh­nung des aus ihrer Sicht lächer­li­chen Lebens­stils der Any­whe­res gegen die­se selbst. Es trifft harm­lo­se Phä­no­me­ne wie Vega­ner oder Hip­ster, oder es wird sich über Gre­ta Thun­berg echauf­fiert und die ver­wöhn­ten Bla­gen der Fri­days for future-Bewe­gung. Sol­che Wut rich­tet sich aber nicht sel­ten auch gegen ande­re Some­whe­res, indem die­se ras­si­stisch belei­digt oder sogar ange­grif­fen wer­den. Beson­ders dar­in zeigt sich die Per­ver­si­tät der Ent­frem­dung. Die ver­meint­lich »Ste­hen­ge­blie­be­nen« gehen nicht nur auf die ver­meint­lich »Fort­schritt­li­chen« los, son­dern sie bekämp­fen sich bevor­zugt unter­ein­an­der. Und auch bei den Any­whe­res herrscht Ver­wir­rung: In deut­schen Metro­po­len trifft der Flücht­ling aus Syri­en, und die­ser ist oft mehr Some­whe­re als der Ange­stell­te aus Pir­na, inter­es­san­ter­wei­se auf wesent­lich mehr Sym­pa­thie und Ver­ständ­nis als der »Mit­bür­ger« aus Sachsen.

Doch was offen­ba­ren all die­se inter­nen und exter­nen Dif­fe­ren­zen? Einen ver­steck­ten Selbst­hass? Zei­gen »uns« Any­whe­res die Some­whe­res aus Ost­deutsch­land oder dem Pott, dass wir uns die gan­ze Zeit nur selbst täu­schen? Das wir gar nicht so pro­gres­siv sind, wie wir sein wol­len (sol­len)? Oder gerät eine zen­tra­le Idee der (aka­de­mi­schen) Bil­dung an ihre Gren­zen? Die der Refle­xi­on, die immer auch eine Infra­ge­stel­lung meint und die nie enden kann? Ich wer­de die­se Fra­gen hier lei­der nicht beant­wor­ten kön­nen, stel­le aber fest, dass die Ver­än­de­rung unse­res Bil­dungs­sy­stems mit der Zunah­me aka­de­mi­scher Abschlüs­se einen Grund­kon­sens bür­ger­li­chen Lebens und bür­ger­li­cher Tugen­den zumin­dest infra­ge stellt, wenn nicht gar auflöst.

Dort, wo von den Bil­dungs­re­for­men der letz­ten Jahr­zehn­te am mei­sten pro­fi­tiert wur­de, in der unte­ren Hälf­te der Mit­tel­schicht, befin­det sich das Epi­zen­trum der Ent­frem­dung. Hier wird aus­ge­teilt gegen »Gut­men­schen« und »Nazis«, hier ist »MeToo« kei­ne post­fe­mi­ni­sti­sche Debat­te, son­dern trennt die Män­ner (und Frau­en) in die, die plötz­lich über ihren eige­nen »Sexis­mus« phi­lo­so­phie­ren, und die, die »nun gar nichts mehr sagen dür­fen«. Die Some­whe­res haben zuneh­mend das Gefühl, in die Defen­si­ve zu gera­ten, weil vie­le Any­whe­res hoch­mü­tig signa­li­sie­ren, dass sie ihr Gegen­über nur noch ernst neh­men, wenn es genau ihrer Mei­nung ist.

Und die­se Aus­gren­zung ist ein bewuss­ter Akt, oft tak­tisch ein­ge­setzt. Um die Sache »selbst« geht es sel­ten, sie ist letzt­lich aus­tausch­bar. So haben die mei­sten Some­whe­res sicher kein Pro­blem mit der Lebens­wei­se der Any­whe­res und ihren diver­sen Iden­ti­tä­ten, son­dern mit dem aus­schlie­ßen­den und ideo­lo­gi­schen Cha­rak­ter ihrer Iden­ti­täts­po­li­tik. Die Brücke für eine aktu­ell kaum denk­ba­re Annä­he­rung wür­de dar­in bestehen, die Nöte der Some­whe­res mit den Anlie­gen der Any­whe­res zu ver­bin­den. Die Bewe­gung »Black lives mat­ter« etwa kämpft offen­siv für schwar­ze Arbei­ter, nur sind es die (meist wei­ßen) Any­whe­res, die den Brücken­schlag zu den wei­ßen Arbei­tern ver­hin­dern. Sicher wer­den die nicht-wei­ßen Some­whe­res (nicht nur in den USA) auch durch den Ras­sis­mus eines Teils der Wei­ßen dis­kri­mi­niert, aber vor allem sind sie gemein­sam die Ver­lie­rer einer neo­li­be­ra­len Neu­ord­nung der US-Wirt­schaft und eines deso­la­ten Sozi­al- und Gesundheitssystems.

Die Bil­dungs­kar­rie­re der Kin­der von Ange­stell­ten und Fach­ar­bei­tern, also Kin­dern von Some­whe­res, ließ in (West-)Deutschland seit den 1970er Jah­ren eine neue Schicht von Hoch­schul­ab­sol­ven­ten ent­ste­hen, die im Gegen­satz zum Aka­de­mi­ker-Nach­wuchs, der bis dahin die Mehr­heit der Stu­den­ten stell­te, über ein nicht so gewach­se­nes Selbst­ver­ständ­nis ver­fü­gen. Die­se »neu­en« Aka­de­mi­ker, häu­fig in den Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten oder in der Sozia­len Arbeit zu fin­den, sind sich ihres Sta­tus’ nicht so sicher. Der stän­di­ge Vor­wurf an die Some­whe­res, das Fal­sche zu wäh­len, das Fal­sche zu essen und das fal­sche Leben zu füh­ren, ent­springt einer grund­sätz­li­chen Unsi­cher­heit eines Teils der Any­whe­res, die ihrer Umwelt zei­gen müs­sen, »wirk­lich« zu den fort­schritt­li­chen Men­schen zu gehö­ren. Und die­se Inklu­si­on in den Kreis der Defi­ni­ti­ons­ho­heit wird mit der Exklu­si­on der Some­whe­res, oft sogar der eige­nen Eltern, erkauft.

Es sind zwei wei­ter fort­schrei­ten­de Ent­wick­lun­gen des Bil­dungs­sy­stems, die mei­ner Mei­nung nach dazu bei­tra­gen, für mehr Ent­frem­dung zu sor­gen. Die erste Ver­än­de­rung betrifft die Infla­ti­on der Bil­dungs­zer­ti­fi­ka­te, nament­lich der Zunah­me an Abitu­ri­en­ten und Bache­lor-Absol­ven­ten, die ganz objek­tiv die Berufs­aus­bil­dung abwer­tet. Die zwei­te Ver­än­de­rung ist der schon ange­deu­te­te Wan­del des Selbst-Bewusst­seins. Wie ver­än­dert sich eine mehr­heit­lich aka­de­misch gebil­de­te Gesell­schaft, wel­che Aus­wir­kun­gen hat das auf unse­re Gemein­schaf­ten, unse­re Gesprä­che über Ernäh­rung, Gesund­heit und Integration?

Klar ist: Dis­kus­sio­nen in der Öffent­lich­keit, aber auch auf der Arbeit oder im Pri­vat­le­ben sind kom­pli­zier­ter gewor­den. Eine auf allen Ebe­nen immer diver­se­re Gesell­schaft stellt weit­aus höhe­re Anfor­de­run­gen an unse­ren Gemein­sinn. Die Form von Bil­dung, die mit Wis­sens­ak­ku­mu­la­ti­on zu tun hat, dem Wis­sen etwa um ande­re Kul­tu­ren und Sit­ten, ob der säch­si­schen oder syri­schen, kann im Ide­al­fall dazu bei­tra­gen, uns tole­ran­ter zu machen. Auf der ande­ren Sei­te hat die Bil­dung aber das Poten­zi­al, uns in reich und arm zu tren­nen, und zwar in ein viel fun­da­men­ta­le­res Arm und Reich, eines das mehr über uns selbst aus­sagt als über die öko­no­mi­sche Tei­lung. Die Bil­dung wird für nahe­zu jedes Pro­blem als Lösung ange­ru­fen, ob für die Inte­gra­ti­on, die Kli­ma­kri­se, die Chan­cen auf dem Arbeits­markt, für die Part­ner­su­che oder den dicken Bauch. Somit wird das seit Jahr­zehn­ten beschwo­re­ne lebens­lan­ge Ler­nen zur Ver­hei­ßung wie zum Damo­kles­schwert zugleich, für die Some­whe­res sicher mehr, für die Any­whe­res aber auch.

Mathi­as Stuhr (Jg. 1970) ist Pro­fes­sor für Sozi­al­ma­nage­ment und Bil­dungs­so­zio­lo­gie an der EBC-Hoch­schu­le in Hamburg.