Weil Kritik immer reagiert, neigt sie zur Langsamkeit. Dagegen setzen Literaten das Mittel der Beharrlichkeit. Die Horen aus Göttingen lassen ihrem Heft 284 zum Thema »furchtlos schreiben. Das Politische der Literatur« furchtlos ein zweites, gleichthematisches folgen: Heft 285. Auf das ist nun zu reagieren.
Im Kapitel »Areale des Politischen in der Literatur« findet sich eine Reihe sogenannter Debattenbeiträge. Man will der Literatur politische Beine machen. Enno Stahl eicht sie auf die gute alte Gesellschaftsanalyse. Michael Eggers wünscht ihr mehr Unterschichtnähe, was nur durch autobiografisches Schreiben nach Annie Ernaux möglich sei. In ähnliche Richtung geht Christoph Cox noch einen Schritt weiter und fordert, »statt den kreativen Sonderstatus Einzelner zu fördern, den Schaffensprozess zu kollektivieren – gemeinsam gegen Missstände anzuschreiben«. Alle drei Aufsätze vereint ein tiefer Literaturzweifel, gestützt von einem starken Argument: Der Betrieb wie die öffentliche Meinung insgesamt interessieren sich nicht für die sozial Deklassierten, woraus folgt: Als abhängig Beschäftigte (»content provider«) handelt die Literatur dann halt von Anderem.
Zum Beispiel von der Liebe. Die interessiert Joachim Helfer speziell zwischen reifen Männern und Heranwachsenden. Um Literatur geht es in seinem Aufsatz nur, wenn Goethe, Thomas Mann und andere, durchs vulgärhermeneutische Schlüsselloch gelesen, zu Apologeten der Päderastie werden. Das Eintrittsalter zu derselben habe »der deutsche Gesetzgeber seit je mit dem vollendeten 14. Lebensjahr definiert«. Hier wird die Liebe als pädagogische Einrichtung und der Altersabstand als die neue Erotikspannung gefeiert, das Ganze in wuchtiger Tabubrecherpose. Mit dem Urfaust könnte Goethe angeblich heute nicht mehr reüssieren. Stimmt das? Goethe erzählt in seinem Faust, wie ein pubertierender Mensch – Geschlecht spielt keine Rolle – der erotischen Selbstoptimierung eines erfahrenen Mannes zum Opfer fällt. Abhängigkeit und Bezahlung, die Verbotskriterien des Gesetzgebers, sind in diesem wie in jedem ähnlichen Fall mitinbegriffen. Faust-Lesende wissen daher: Worum es Helfer geht, ist das Gegenteil dessen, was politische Literatur, die ihren Namen verdient, »seit je« bezweckt: Emanzipation und Selbstbestimmung.
Nachdem der Aufsatz für Heft 284 noch abgelehnt worden war, »stellen wir die überarbeitete Version nun zur Diskussion«, so die Herausgeber. Ihr Heft regt aber zu einer ganz anderen Diskussion an: Was für politische Ziele gibt es überhaupt noch? Ein Essay der kroatischen Autorin Ivana Sajko seziert aufs Schönste das Niveau literarischer Diskussionen in Deutschland. Angeblich aus »Osteuropa« stammend, werde sie immer und ausschließlich danach befragt. Niemand wolle hingegen wissen, was Miroslav Krleža ihr bedeute. Kritisch kommentiert werde alles Mögliche, nur nicht »unsere eigenen politisch korrekten Blasen und ideologisch gesäuberten Zirkel«. Demokratie als Selbstauskunft des Westens ist Sajko mittlerweile verdächtig, ein Konzept, das sich »im Rahmen fest geschlossener Grenzen konstituiert hat – die allerdings heute in ihrem Wesen undemokratisch geworden sind«. So weit, so politisch. Liest man allerdings zu Ende, geht es für Schriftsteller/innen nur noch um »eine Chance, dass wir für unsere eigene Arbeit ein anderes Wertesystem schaffen, das uns weiterhin am Leben erhält«. Eine Zielsetzung, die über das nur zu berechtigte Eigeninteresse von Schreibenden hinausginge? Fehlanzeige.
Trotzdem ist das ein wichtiger Text. Die Wunde, in der Sajkos Finger liegt, ist noch an vielen Stellen des Hefts zu besichtigen. Und sie ist alt. Willi Winkler blickt zurück auf eine Petrarca-Preisverleihung des Jahres 1974. Man traf sich in Frascati, weil Michael Krüger es da schön fand. Eine illustre Zahl von Eingeladenen feierte sich selbst, ohne die Schmalspurfilme des Preisträgers Herbert Achternbusch sehen zu wollen, die dieser von eigener Hand auch nicht eingelegt kriegte. Wütend zertrümmerte er den Projektor und verbrannte den Scheck über zwanzigtausend Mark Preisgeld, was ihm von Winkler den Schlusssatz einträgt: »Der Primitive, das haben sie alle vergessen, war der einzig wahre Dichter in Frascati.« Man weiß gar nicht, was schlimmer ist: die Schlemmerrunde, die nach Auskunft von Jörg Drews keine Zeile des Laureaten je gelesen hatte, oder die Kür eines ungeschickten Cholerikers zum »einzig wahren« Dichter, eine creatio wahrlich ex nihilo: aus dem umgebenden Nichts.
Wer auf das »Areale«-Kapitel, diese Freakshow eines aus der Welt gefallenen, kaum noch politisierbaren Literaturbetriebs neugierig geworden ist, für die oder den halten Die Horen Nummer 285 noch viele großartige Texte bereit. Empfohlen seien ein verstörender Essay der amerikanischen Lyrikerin Ellen Hinsey, krachend politische Prosaminiaturen von Kathrin Röggla über Telefondienstleistungen sowie Gedichte von wiederum Ellen Hinsey, Kai Pohl, Gerald Fiebig und dem unverdrossenen Politpoeten Bert Papenfuß, der auch ein politologisch herrlich unkorrektes Bakunin-Zitat beisteuert: »Auf der Suche des Unmöglichen hat der Mensch immer das Mögliche verwirklicht und erkannt, und die, die sich weise auf das beschränkt, was ihnen möglich schien, sind nie um einen einzigen Schritt vorwärts gekommen.«
die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik; Bd. 285, 264 S., 49 z. T. farbige Abbildungen, 16,50 €.