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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Betrieb des Möglichen

Weil Kri­tik immer reagiert, neigt sie zur Lang­sam­keit. Dage­gen set­zen Lite­ra­ten das Mit­tel der Beharr­lich­keit. Die Horen aus Göt­tin­gen las­sen ihrem Heft 284 zum The­ma »furcht­los schrei­ben. Das Poli­ti­sche der Lite­ra­tur« furcht­los ein zwei­tes, gleich­the­ma­ti­sches fol­gen: Heft 285. Auf das ist nun zu reagieren.

Im Kapi­tel »Area­le des Poli­ti­schen in der Lite­ra­tur« fin­det sich eine Rei­he soge­nann­ter Debat­ten­bei­trä­ge. Man will der Lite­ra­tur poli­ti­sche Bei­ne machen. Enno Stahl eicht sie auf die gute alte Gesell­schafts­ana­ly­se. Micha­el Eggers wünscht ihr mehr Unter­schicht­nä­he, was nur durch auto­bio­gra­fi­sches Schrei­ben nach Annie Ernaux mög­lich sei. In ähn­li­che Rich­tung geht Chri­stoph Cox noch einen Schritt wei­ter und for­dert, »statt den krea­ti­ven Son­der­sta­tus Ein­zel­ner zu för­dern, den Schaf­fens­pro­zess zu kol­lek­ti­vie­ren – gemein­sam gegen Miss­stän­de anzu­schrei­ben«. Alle drei Auf­sät­ze ver­eint ein tie­fer Lite­ra­tur­zwei­fel, gestützt von einem star­ken Argu­ment: Der Betrieb wie die öffent­li­che Mei­nung ins­ge­samt inter­es­sie­ren sich nicht für die sozi­al Deklas­sier­ten, wor­aus folgt: Als abhän­gig Beschäf­tig­te (»con­tent pro­vi­der«) han­delt die Lite­ra­tur dann halt von Anderem.

Zum Bei­spiel von der Lie­be. Die inter­es­siert Joa­chim Hel­fer spe­zi­ell zwi­schen rei­fen Män­nern und Her­an­wach­sen­den. Um Lite­ra­tur geht es in sei­nem Auf­satz nur, wenn Goe­the, Tho­mas Mann und ande­re, durchs vul­gär­her­me­neu­ti­sche Schlüs­sel­loch gele­sen, zu Apo­lo­ge­ten der Päd­era­stie wer­den. Das Ein­tritts­al­ter zu der­sel­ben habe »der deut­sche Gesetz­ge­ber seit je mit dem voll­ende­ten 14. Lebens­jahr defi­niert«. Hier wird die Lie­be als päd­ago­gi­sche Ein­rich­tung und der Alters­ab­stand als die neue Ero­tik­span­nung gefei­ert, das Gan­ze in wuch­ti­ger Tabu­bre­cher­po­se. Mit dem Urfaust könn­te Goe­the angeb­lich heu­te nicht mehr reüs­sie­ren. Stimmt das? Goe­the erzählt in sei­nem Faust, wie ein puber­tie­ren­der Mensch – Geschlecht spielt kei­ne Rol­le – der ero­ti­schen Selbst­op­ti­mie­rung eines erfah­re­nen Man­nes zum Opfer fällt. Abhän­gig­keit und Bezah­lung, die Ver­bots­kri­te­ri­en des Gesetz­ge­bers, sind in die­sem wie in jedem ähn­li­chen Fall mit­in­be­grif­fen. Faust-Lesen­de wis­sen daher: Wor­um es Hel­fer geht, ist das Gegen­teil des­sen, was poli­ti­sche Lite­ra­tur, die ihren Namen ver­dient, »seit je« bezweckt: Eman­zi­pa­ti­on und Selbstbestimmung.

Nach­dem der Auf­satz für Heft 284 noch abge­lehnt wor­den war, »stel­len wir die über­ar­bei­te­te Ver­si­on nun zur Dis­kus­si­on«, so die Her­aus­ge­ber. Ihr Heft regt aber zu einer ganz ande­ren Dis­kus­si­on an: Was für poli­ti­sche Zie­le gibt es über­haupt noch? Ein Essay der kroa­ti­schen Autorin Iva­na Saj­ko seziert aufs Schön­ste das Niveau lite­ra­ri­scher Dis­kus­sio­nen in Deutsch­land. Angeb­lich aus »Ost­eu­ro­pa« stam­mend, wer­de sie immer und aus­schließ­lich danach befragt. Nie­mand wol­le hin­ge­gen wis­sen, was Miros­lav Krleža ihr bedeu­te. Kri­tisch kom­men­tiert wer­de alles Mög­li­che, nur nicht »unse­re eige­nen poli­tisch kor­rek­ten Bla­sen und ideo­lo­gisch gesäu­ber­ten Zir­kel«. Demo­kra­tie als Selbst­aus­kunft des Westens ist Saj­ko mitt­ler­wei­le ver­däch­tig, ein Kon­zept, das sich »im Rah­men fest geschlos­se­ner Gren­zen kon­sti­tu­iert hat – die aller­dings heu­te in ihrem Wesen unde­mo­kra­tisch gewor­den sind«. So weit, so poli­tisch. Liest man aller­dings zu Ende, geht es für Schriftsteller/​innen nur noch um »eine Chan­ce, dass wir für unse­re eige­ne Arbeit ein ande­res Wer­te­sy­stem schaf­fen, das uns wei­ter­hin am Leben erhält«. Eine Ziel­set­zung, die über das nur zu berech­tig­te Eigen­in­ter­es­se von Schrei­ben­den hin­aus­gin­ge? Fehlanzeige.

Trotz­dem ist das ein wich­ti­ger Text. Die Wun­de, in der Saj­kos Fin­ger liegt, ist noch an vie­len Stel­len des Hefts zu besich­ti­gen. Und sie ist alt. Wil­li Wink­ler blickt zurück auf eine Petrar­ca-Preis­ver­lei­hung des Jah­res 1974. Man traf sich in Frasca­ti, weil Micha­el Krü­ger es da schön fand. Eine illu­stre Zahl von Ein­ge­la­de­nen fei­er­te sich selbst, ohne die Schmal­spur­fil­me des Preis­trä­gers Her­bert Ach­tern­busch sehen zu wol­len, die die­ser von eige­ner Hand auch nicht ein­ge­legt krieg­te. Wütend zer­trüm­mer­te er den Pro­jek­tor und ver­brann­te den Scheck über zwan­zig­tau­send Mark Preis­geld, was ihm von Wink­ler den Schluss­satz ein­trägt: »Der Pri­mi­ti­ve, das haben sie alle ver­ges­sen, war der ein­zig wah­re Dich­ter in Frasca­ti.« Man weiß gar nicht, was schlim­mer ist: die Schlem­mer­run­de, die nach Aus­kunft von Jörg Drews kei­ne Zei­le des Lau­rea­ten je gele­sen hat­te, oder die Kür eines unge­schick­ten Cho­le­ri­kers zum »ein­zig wah­ren« Dich­ter, eine crea­tio wahr­lich ex nihi­lo: aus dem umge­ben­den Nichts.

Wer auf das »Areale«-Kapitel, die­se Freak­show eines aus der Welt gefal­le­nen, kaum noch poli­ti­sier­ba­ren Lite­ra­tur­be­triebs neu­gie­rig gewor­den ist, für die oder den hal­ten Die Horen Num­mer 285 noch vie­le groß­ar­ti­ge Tex­te bereit. Emp­foh­len sei­en ein ver­stö­ren­der Essay der ame­ri­ka­ni­schen Lyri­ke­rin Ellen Hin­sey, kra­chend poli­ti­sche Pros­ami­nia­tu­ren von Kath­rin Rög­g­la über Tele­fon­dienst­lei­stun­gen sowie Gedich­te von wie­der­um Ellen Hin­sey, Kai Pohl, Gerald Fie­big und dem unver­dros­se­nen Polit­poe­ten Bert Papen­fuß, der auch ein poli­to­lo­gisch herr­lich unkor­rek­tes Baku­nin-Zitat bei­steu­ert: »Auf der Suche des Unmög­li­chen hat der Mensch immer das Mög­li­che ver­wirk­licht und erkannt, und die, die sich wei­se auf das beschränkt, was ihnen mög­lich schien, sind nie um einen ein­zi­gen Schritt vor­wärts gekommen.«

die horen. Zeit­schrift für Lite­ra­tur, Kunst und Kri­tik; Bd. 285, 264 S., 49 z. T. far­bi­ge Abbil­dun­gen, 16,50 €.