Seit 2014 schicken die deutschen Chefredakteure keinen Journalisten mehr in die russischsprachige Ostukraine des Donbass. Wenn überhaupt von Ereignissen dort – von Kriegsgräueln, Wahlen, Abkommen, Hilfsaktionen aus Moskau – berichtet wird, dann aus der Sicht Kiews. Ein Ossietzky-Autor hat kürzlich geschrieben, die hiesigen Leitmedien seien eine »Lückenpresse«. Dem abzuhelfen, ist das hier anzuzeigende Buch von Ulrich Heyden über den 8-jährigen Bürgerkrieg gerade richtig erschienen. Durch Karten- und Bildmaterial wird es komplettiert.
Die Kiewer Putsch-Regierung verhängte kurz nach der Gründung der abtrünnigen Republiken Donezk und Lugansk eine Informationssperre. Man konnte zwar noch dorthin fahren, wurde aber auf der Website des Innenministeriums als »Mirotworets« (Friedensstifter) gelistet, damit faktisch als »Feind der Ukraine« an den Pranger gestellt; was nicht ungefährlich war.
Der Autor berichtete dennoch über acht Jahre lang regelmäßig aus der Region. Sein Film »Lauffeuer«, den er mit dem Dokumentarfilmer Marc Benson über den Brandangriff auf das Gewerkschaftshaus Odessa drehte, hatte im Internet viel Resonanz, wurde aber von den großen Medien hierzulande verschwiegen, im Fernsehen nicht gezeigt. »Offenbar«, resümiert der Autor, »ist es [dem deutschen Mainstream] ganz recht, dass die Verbrechen der Staatsstreich-Regierung in Kiew der deutschen Bevölkerung unbekannt bleiben« (S.34). Bezeichnend ist der Fall eines Prager Abteilungsleiters bei Radio Liberty namens Andrej Babitzki, einst auch vom Spiegel hochgelobt als mutiger russischer Journalist. 2014 warf er seinen Job in Prag hin, lebt und schreibt seitdem in Donezk. Der Grund: Er sah im ersten Bürgerkriegs-Jahr, wie ukrainische Sondereinheiten von Freiwilligen Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichteten. Neuerdings will der Spiegel von ihm nichts mehr wissen (S. 106).
Der Feldzug, ja, Krieg gegen die eigene Bevölkerung begann zwei Monate nach dem Umsturz vom Maidan. Der nichtgewählte Übergangspräsident der Ukraine erließ einen Ukas, wonach in den südöstlichen Gebieten eine »Antiterroristische Operation« (!) durchzuführen sei. (Die Rede von militärischen Spezialoperationen kennt man auch aus anderen Zusammenhängen, nicht zuletzt aus Erdogans Aktionen gegen seine kurdischen Bürger.) Innerhalb von gut vier Monaten, von April bis August 2014, wurden laut UNO-Statistik 2.200 Menschen getötet und rund 6.000 verletzt. Nach einem ersten Waffenstillstand waren OSZE-Inspektoren vor Ort unterwegs und entdeckten ein Grab, worauf eine Tafel mit der Inschrift »Gestorben für die Lügen Putins« stand, darunter in Russisch die Namen von fünf Toten. Die Spuren der Täter führten zum Ajdar-Bataillon, das zur ukrainischen Nationalgarde gehört (S. 209).
Von den 7 Kapiteln des Buches seien zwei als besonders instruktiv hervorgehoben: Kap. 2 »Das über die Jahre zerredete Minsk-2-Abkommen« und Kap. 6 »Oligarchen, Kohle-Schmuggel und Schienenblockaden«. Zitiert sei hier aus dem letzten Kapitel »Alltag im Krieg« über die Schule der Stadt Gorlowka im Donbass. Seit dem Beginn der Angriffe wurden dort 16 Kinder durch Schrapnelle getötet. Den Kriegsalltag versucht die Lehrerschaft zu verdrängen. »Dann werde ich in den Keller der Schule geführt. Dort sind zwei große Räume notdürftig als Luftschutzkeller hergerichtet« (S. 300). Man stelle sich vergleichend vor, in einer bayrischen Schule würden die Kinder – nach Separation des Freistaates Bayern – von der Bundeswehr durch Schrapnelle getötet.
Lesenswert ist das Buch nicht zuletzt wegen der beiden Geleitworte von A. Hunko und Diether Dehm. Letzterer schließt sein Vorwort mit der Aussage: der Westen wirbt zwar für Meinungsvielfalt, immer vorausgesetzt, die angehenden Volontäre lassen sich frühzeitig Namen wie Snowden und Assange aus dem Kopf schlagen. So sei »die Frage ›Meinst Du DER Westen steht für Meinungsfreiheit?‹ endgültig rhetorisch und obsolet geworden«.
Was schmälert den Lesegenuss? Der Verlag war sehr schlecht beraten, das Buch ohne Lektorat und Schlusskorrektur zu lassen. Das führt zu vielen Stolperstellen. Darum dem Autor ins Stammbuch: das nächste Buch nicht so! Notfalls biete ich ihm ein sorgfältiges Korrekturlesen an, ganz kostenlos.
Ulrich Heyden: Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugen berichten aus dem Donbass, Verlag tredition, Hamburg 2022, 335 S., 24,90 €.