Wer ist die neue starke Frau in Italien? Beginnen wir von vorn: Als Kind hatte es Giorgia Meloni nicht leicht. Geboren 1977 in dem eher heruntergekommenen Stadtteil La Garbatella in Rom, wächst sie vaterlos auf. Die Eltern trennen sich, als sie gerade einmal 1 Jahr alt ist. (Übrigens, für Hobbypsychologen interessant, war der Vater ein überzeugter Atheist mit kommunistischen Idealen, der nach der Trennung auf die kanarischen Inseln übersiedelte und dort offenbar nicht nur eine Bar betrieb; 1995 wird er wegen Drogenhandels verhaftet, als die Polizei auf seinem Boot 1500 Kilo Haschisch sicherstellt, eine für den Eigenbedarf wohl etwas zu große Menge.) Solche frühen Erfahrungen und Erlebnisse der kleinen Giorgia – um nicht zu sagen: Traumata – treiben die große Meloni bis heute um.
Mit Erfolg, wie wir nun feststellen müssen. Ihr Aufstieg beginnt früh: Mit 15 meldet sich Giorgia in der postfaschistischen Partei MSI (»Movimento Sociale Italiano«) in der Abteilung ihres Stadtteils an, kurz darauf, mit 19, wird sie Nationalsprecherin der Jugendabteilung der Partei. Die MSI war kurz nach dem Krieg von Mitgliedern des ehemaligen PNF (»Partito Nazionale Fascista«: Nationale Faschistische Partei) gegründet worden. Als Logo wurde eine dreifarbige (Grün, Weiß, Rot, wie die italienische Fahne) Flamme gewählt. Die Bedeutung des Bildes ist umstritten. Offiziell handelt es sich um die Flamme der »Arditi«, italienischen Sturmtruppen aus dem ersten Weltkrieg. Für die älteren Anhänger stellt sie allerdings ein neues Aufblühen des faschistischen Geistes dar. Die unter der Flamme gezeichnete geometrische Form symbolisiert für sie Mussolinis Sarg und soll die Kontinuität mit der Vergangenheit signalisieren.
Der bekannteste Vertreter der Partei war vom Ende der 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre Giorgio Almirante, der unter Mussolini als Journalist tätig war und für das antisemitische und rassistische Blatt La Difesa della Razza (Die Verteidigung der Rasse) schrieb. In der MSI sammelten sich in der Nachkriegszeit die ehemaligen Faschisten und jüngere Neofaschisten. Mit der Demokratie wollten sie nichts zu tun haben. Gleichzeitig kämpften sie auf den Straßen gegen Linke und Kommunisten, und, wenn »es sein musste«, verübten sie Bombenanschläge – so zum Beispiel 1969 den Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand, mit 17 Toten und 88 Verletzten. Die rechte Terrorstrategie verfolgte das Ziel, die Verantwortung für die Mordtaten auf die Linken zu schieben und Angst in der Öffentlichkeit zu schüren, um einen reaktionären Kurs in der Politik einzuschlagen.
1987 wird Gianfranco Fini Parteisekretär und bringt die MSI mit neuem Namen auf einen neuen Kurs. Die neue Partei (»Alleanza Nazionale«) gibt sich geläutert; man lehnt die faschistische Vergangenheit ab und verurteilt die Rassengesetzte der 1930er Jahre. Die Wende ist aber umstritten, und Fini wird aus den eigenen Reihen attackiert. In diesen parteiinternen Kriegen kämpft sich Giorgia Meloni weiter nach oben. Fini ernennt sie zur Koordinatorin der Jugendabteilung »Azione Giovani«, 2006 zieht sie, mit 29, ins Parlament ein, 2008 wird sie als Jugendministerin in der Berlusconi-Regierung zur jüngsten Ministerin in der Geschichte der italienischen Republik.
2009 gründen Fini und Berlusconi gemeinsam eine neue rechtskonservative Partei: »Il Popolo delle Libertà« (Das Volk der Freiheiten). Berlusconis »Forza Italia« und Finis »Alleanza Nazionale« vereinen sich. Die Tradition des Postfaschismus scheint ans Ende zu kommen. Doch die Rivalität zwischen Berlusconi und Fini um die Parteiführung bringt letzteren 2010 dazu, der Partei wieder den Rücken zu kehren. Meloni bleibt, ihrem sich entwickelnden Machtinstinkt folgend, bei Berlusconi. Fini »hatte«, wie er auf Deutsch gesagt haben würde, fertig. Als Berlusconi dann wegen der Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten gerät und Ende 2011 als Regierungschef zurücktreten muss, entscheidet seine Partei, die vom Staatspräsidenten ernannte Regierung des Finanzexperten und »International Advisors« der Goldman Sachs group, Mario Monti, zusammen mit der PD (»Partito Democratico«: Demokratische Partei) zu unterstützen. Das ist für Meloni und andere Anhänger der ehemaligen MSI und späteren »Alleanza Nazionale« dann doch zu viel. Sie verlassen das »Popolo delle Libertà« und gründen 2013 die »Fratelli d’Italia«, um der postfaschistischen Tradition des »Movimento Sociale Italiano« wieder neuen Schwung zu geben. Das Programm ist schlicht: Man ist gegen die Technokraten der Banken und der EU und für Italiens Souveränität. Neun Jahre macht die Partei aus dieser Position heraus Opposition. Die letzten Wahlen zeigen, es hat sich für Giorgia Meloni gelohnt, die sich, sehr vorausschauend, auch aus der von Mario Draghi zuletzt geschmiedeten All-Parteien-Koalition herausgehalten hatte und ihrer Partei damit, als nahezu ausschließlicher Opposition, eine Art Alleinstellungsmerkmal verschaffen konnte.
Über Faschismus spricht sie natürlich nicht. Das sei Vergangenheit. Aber die Flamme bleibt weiterhin im Parteilogo. Umstritten sind auch einige ihrer Parteigänger, die in Skandalen zwischen Gewalt und Kriminalität verwickelt sind und gern schon mal den »Saluto Romano« (Hitlergruß) zeigen. Deshalb hat Meloni vor und nach den jüngsten Wahlen die Parteianhänger zur Vorsicht aufgefordert. Es dürfe nichts Auffälliges passieren. Alle Augen der Welt seien auf sie gerichtet. Und entsprechend agiert sie selbst auch. Schon im Wahlkampf wie auch unmittelbar danach scheint die für ihre schrillen Töne bekannte Rednerin Kreide gefressen zu haben – stets darum bemüht, die internationalen Partner nicht zu irritieren. Plötzlich gibt sie sich EU-freundlich, sie sei auch für die Nato und unterstütze die Waffenlieferung an die Ukraine. An dieser Front werden die USA und die EU erst mal nicht enttäuscht.
Und sie hat angekündigt, ihre Regierung aus Politikern und Experten (nach dem Vorbild von Draghi und Monti) zusammenzusetzen. Es wird sich also vorerst an der bisherigen Politik wenig ändern. Das läuft einerseits darauf hinaus, die Austerity-Politik der verhassten Bankenvertreter weiter zu betreiben, die in den Augen vieler Italiener das Land ärmer gemacht hat – denn die Krisen (auch die durch den aktuellen Krieg verursachte) werden immer von den kleinen Leuten bezahlt. Andererseits aber werden Meloni und die anderen Minister aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia die Dynamik des Hasses weiter antreiben, um ihre Wähler zufriedenzustellen. Und das ist eine Flamme, die mittlerweile in ganz Europa lodert.
Nach außen gibt sich Meloni vorsichtig und moderat, nach innen wird die Tradition des Faschismus weiter kultiviert. Auch ihre internationalen Verbündeten von Orban bis Steve Bannon wie auch ihre Sympathie für Trump definieren den Horizont ihrer politischen Anschauung. Im Namen von Gott, Vaterland und Familie will »Fratelli d’Italia« eine Welt schaffen, in der Zivilrechte von Frauen, Migranten und Homosexuellen gefährdet sind. Ihr weiterhin schlichtes Programm definierte sie 2019 bei einer Demonstration in Rom mit dem Titel »Orgoglio italiano« (Italienischer Stolz) gegen die damalige Regierung aus PD und Fünf-Sterne-Bewegung: »Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin Italienerin, ich bin Christin. Sie werden es mir nicht wegnehmen« – »sie«, das sind in ihren Augen Migranten und Linke sowie deutsche und französische Regierungsvertreter, die in der EU das Sagen haben.
Es gehe ihr um die Verteidigung der italienischen Traditionen und Kultur, um die Verteidigung von Christentum und Familie. Die Italiener seien in Gefahr, ihrer Identität beraubt zu werden – die von der letzten Regierung vorgelegten Reformentwürfe zum Thema Adoption für homosexuelle Paare beispielsweise würden darauf hinauslaufen, den Italienern alles zu nehmen, was sie dazu macht, was sie sind. Nun ja.
Meloni bietet Vereinfachungen jeder Art, um der Wut der Leute gut sichtbare Sündenböcke zu liefern. Sie redet von internationalen Konzernen, die uns ärmer machen, aber schweigt darüber, dass Berlusconi – der nun in der Regierung neben ihr sitzen wird – über seine politische Karriere sein Vermögen verdreifacht hat. Sie wendet sich an die kleinen Leute, die immer ärmer werden, und zeigt auf die, die sie dafür für schuldig hält: Migranten und Homosexuelle. Konkrete Vorschläge für eine bessere Ressourcenverteilung und die Reduzierung sozialer Ungleichheit gibt es nicht.
Ein gefährlicher Populismus, der leider verfängt. Sie will in Zusammenarbeit mit der EU und den berüchtigten libyschen Behörden dafür sorgen, dass Flüchtlinge in Afrika aufgehalten werden, um dort ihre Anträge auf Asylrecht zu bewerten. Auch die Gendertheorie ist für sie eine Art Verschwörung. Toleranz gegenüber den Homosexuellen sowie überhaupt sexuelle Aufklärung dürften nicht länger unterrichtet werden. Auch so etwas wie Gleichberechtigungserziehung sei nicht zu empfehlen, weil all das den Bestand der Familie gefährde. Das sind fast schon iranische Töne.
Ob Meloni, die selber geschieden ist, in unverheirateter Partnerschaft lebt und ein uneheliches Kind großzieht, wirklich an all das glaubt, darf bezweifelt werden. Fakt ist, sie schafft es, die Angst vor der Zukunft und der Wut der Leute opportunistisch zu schüren und daraus Kapital zu schlagen. Mit einer Rechtskoalition aus Fratelli d’Italia, Matteo Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia errang sie nun mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen. Da bleibt nur die – leider schwache – Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft dieses gespaltenen Landes in der gegenwärtigen Situation einer noch mal erhöhten politischen Gefahr aufwacht und zu neuem Mut finden wird.