Das war das Anliegen Willi Sittes: dem Realismus – der vor allem in der Zeit der Formalismus-Debatte der Vierziger- bis Sechzigerjahre oftmals vordergründig propagandistisch gefordert war – zu einer ungeheuren Vielfalt zu verhelfen. Und das ist auch das Anliegen der Ausstellung »Merseburger Sprüche & Sprünge – Hommage auf den Realismus«, die anlässlich des 100. Geburtstages von Willi Sitte eröffnet wurde und bis zum 9. Januar 2022 in der Sitte-Galerie für realistische Kunst in Merseburg zu sehen ist. Bisher gab es dort 80 Ausstellungen; diese aber bildet einen wunderbaren Höhepunkt und erinnert in kleinerem Rahmen an jenen Reichtum, wie er in den Dresdener Kunstausstellungen der DDR zu erleben war. 160 Werke von 83 Künstlern wurden vom Kurator Peter Arlt ausgewählt. Sie zeigen in ganz unterschiedlichen Sichtweisen und Handschriften, wie lebensvoll realistische bildende Kunst klare Bezüge zur Welt und zur Wirklichkeit darstellen kann. Die Merseburger Zaubersprüche stammen aus dem Althochdeutschen und wurden 1841 in der dortigen Dombibliothek entdeckt. »Die Beziehung zwischen Absicht und Wirklichkeit ist der Kern des Realismus-Begriffes, und damit ist die Orientierung des Kurators an den Zaubersprüchen mit ihrem eindeutigen Bezug zum Ort der Ausstellung eine Offenbarung«, so formuliert es im Katalog Ulrich Reimkasten, ein Meisterschüler Herbert Sandbergs.
Den Auftakt der Ausstellung bildet das großformatige Bild »Kollwitzstraße 59, 4. Stock« von Harald Metzkes, entstanden 1997. Es zeigt eine freundschaftliche Runde von Künstlern in den Sechzigerjahren, am bekanntesten wohl Willi Sitte und Ronald Paris. Harald Metzkes und sein Sohn Robert sind in Grübeln versunken. Die Freunde fühlten sich hier wohl. Sitte pries »die Freundschaft, Kameradschaft, Treue« – ein Gemeinschaftsgefühl, das mittlerweile verlorengegangen ist, und Metzkes erinnert sich heute, Sitte sei voll Freundschaftlichkeit gewesen. Es kam darauf an, einig zu sein, verschieden, aber immer gleichberechtigt. Eine wunderbare Wahrheit liegt im Spruch von Robert Musil/Harald Metzkes: »Der Realismus ist wie das Gras, das niedergetreten wieder aufsteht.« Im Katalog ist zu lesen: »Im Westen war Realismus oft Unkunst, und im Osten war alle Kunst Realismus.« Es gab ja im Westen die arrogante Auffassung, Kunst könne nur in Freiheit gedeihen; da es aber in der DDR keine Freiheit gegeben habe, könne es dort folglich auch keine Kunst geben. Diese sträflich falsche Unterstellung verschwindet langsam; es gibt eine allmähliche Anerkennung der Kunst im Osten. Nach der Vereinnahmung der DDR stellten Künstler aus dem Osten im Westen aus, so auch Willi Sitte. Mancher Besucher meinte erstaunt: »Die können ja noch malen!«
Der Nestor der Kunstwissenschaft in der DDR, Peter H. Feist, hob schon in den Siebzigerjahren vier Realismustypen hervor: »den unmittelbaren (impressiven bis veristischen), den expressiven, den konstruktivistischen sowie den metaphysischen oder imaginativen Realismus«. Und oft haben die Darstellungen Symbolbedeutung. Paul Klee formulierte einmal: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder; sie macht sichtbar.« So gewinnt die Kunst die Freiheit, der Realität Dauer zu verleihen. Die Beherrschung der Techniken und Mittel ist unentbehrliche Voraussetzung dafür. Unfähigkeit und Nichtkönnen dürfen nicht zur Kunst erhoben werden, ja sogar, Voraussetzung dafür sein, wie es heute oft zu erleben ist.
Ein Bereich der Merseburger Ausstellung heißt »Medium Antlitz«. Von großer Eindringlichkeit und künstlerischer Meisterschaft sind Porträts u. a. von Horst Sakulowski, Bert Heller, Nuria Quevedo und Bernhard Heisig; sein Willi-Sitte-Porträt ist 2011, kurz vor dessen Tod, entstanden. Peter Arlt zitiert in dem gut gemachten Katalog Künstleräußerungen und bereichert ihn mit Gedanken zum abgebildeten Werk. Oft wählen Künstler Themen aus der Mythologie. Die Ikarus-Figur begegnet uns oft: Wolfgang Mattheuer: »Ikarus erhebt sich«, Jost Heyder: »Ikarus hebt ab«. Ronald Paris nimmt in seinen Arbeiten zu »Charons Boot« mit einer mythologischen Figur Bezug zur Realität, zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer. Ein Wiedersehen mit Heidrun Hegewalds Werken »Die Mutter mit dem Kind« und »Prometheus bemerkt das Spiel mit dem Feuer« offenbart den unschätzbaren Wert realistischer Kunst, die die verschiedensten künstlerischen Handschriften zeigt. Ergreifend ist die Lithographie Bernhard Heisigs: »Gott sieht alles, Herr Offizier«. Zu Valentin Magaros Lithographie »Totentanz« steht sein Credo: »Die Welt inspiriert mich laufend zu neuen Bildschöpfungen. Trotzdem haben Bilder ihre eigene Realität.« In einer harmonischen Farbigkeit tut der Gobelin »Merseburger Zaubersprünge« von Elrid Metzkes dem Auge wohl. Oft findet man eine Zwiesprache mit der Kunst vergangener Zeiten. Joachim Kuhlmann macht mit seiner Temperamalerei »Quo Vadis, oder was tust Du?« nachdenklich: Hände, greifend, suchend, zupackend, kraftvoll zur Faust geballt, zugleich behutsam und sensibel, als versuchten sie, die Welt formend zu erkennen. Fremd und eckig stellt Ulrich Reimkasten in seinem Bild »Die Spezialisten« Roboter dar, die Arbeiten übernehmen können, die den Menschen unmöglich sind. Eine weise Erkenntnis vermittelt uns Peter Hoppe mit einer Kaltnadelradierung: »So lasst uns leben, solang’s noch so geht«. Wolfram Schuberts aquarellierte Pferdedarstellungen erinnern an die Schönheiten unseres Lebens, während Knut Muellers »Minenopfer« die Grausamkeit moderner Kriege so drastisch ins Bild bringt, dass man die Augen abwenden möchte. Eine Vielzahl von Emotionen wird in dieser Ausstellung provoziert, und eines ihrer großen Verdienste besteht darin, dass – bei aller Subjektivität der Auswahl – alle Generationen bildender Künstler vertreten sind: von den Wegbereitern der Kunst nach 1945 bis in die Gegenwart.
Acht Sepiazeichnungen, die letzten Arbeiten des 91jährigen Willi Sitte, sind der Höhepunkt der Ausstellung. Sie verkörpern eine letzte Botschaft an uns: die Welt zu erkennen, Krieg und Gewalt zu bannen, dem Guten, der Liebe zum Durchbruch zu verhelfen. Überzeugend ist es der Ausstellung gelungen, den »zu eng gewordenen konventionellen Sehschlitz« für den Realismus zu »sprengen« und seinen Wert deutlich zu machen.
Am 3. Oktober wird im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (S.) eine umfassende Ausstellung zu Sittes Lebenswerk eröffnet werden.
Willi-Sitte-Galerie, Domstraße 15, 06217 Merseburg, geöffnet täglich – außer Mo und Die – 10 bis 16 Uhr.