Das Gerede der selbst ernannten Querdenker von einer »Corona-Diktatur« und ihre Selbstinszenierung als »Widerstandskämpfer« im Geiste von Sophie Scholl zeugen entweder von Geschichtsvergessenheit oder bewusster Verharmlosung des NS-Faschismus. Denn Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie sind unverzichtbar. Aber das Prozedere von Bund und Ländern ist in der Tat kritikwürdig: Auch fast ein Jahr nach Beginn der Pandemie werden fast alle Entscheidungen von der Exekutive getroffen, während die Parlamente auf die Zuschauerbank verbannt sind.
Darin liegt, wie Rolf Gössner schon in Ossietzky 8/2020 gewarnt hat, eine ernst zu nehmende Gefahr nicht nur für das demokratische Selbstverständnis, sondern auch für den Erfolg der Eindämmungspolitik selbst.
Juristinnen und Juristen haben in den vergangenen Monaten wiederholt auf die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichtes hingewiesen: Maßnahmen, die wesentlich in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen, dürfen nicht den Regierungen überlassen bleiben, sondern müssen von den Parlamenten als gewählten Vertretern der Bevölkerung beschlossen werden. Tatsächlich ist das bis heute nicht der Fall. Stattdessen verkündet eine in der verfassungsmäßigen Ordnung überhaupt nicht vorgesehene Kungelrunde aus Bundeskanzlerin und Landeschefs regelmäßig, inwiefern Grundrechte noch ausgeübt werden dürfen. Dabei ist die Frage, ob man die eigene Wohnung nur mit oder auch ohne Vorliegen behördlich festgelegter »triftiger Gründe« verlassen darf, gewiss nicht unwesentlich.
Die Linksfraktion im Bundestag forderte im November 2020 in einem Antrag, »Demokratische Kontrolle auch in der Pandemie« sicherzustellen. Konkret wird darin verlangt, dem Bundesgesundheitsminister die im März 2020 übertragenen Verordnungsermächtigungen wieder abzunehmen. In Bund und Ländern sollten die Parlamente wieder als Souverän eingesetzt werden. Grundrechtseinschränkende Verordnungen müssten befristet, begründet und klar definiert werden.
Das von der Koalitionsmehrheit am 18. November 2020 verabschiedete neue Infektionsschutzgesetz kann zwar keineswegs, wie von Querdenkern und AfD behauptet, mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis von 1933 gleichgesetzt werden. Doch wird es den Forderungen nach Entscheidungskompetenz der Parlamente und Normenklarheit nicht gerecht, weswegen ihm die Linksfraktion auch die Zustimmung verweigert hat. Es macht zwar die Anwendung von Grundrechtseinschränkungen zur Corona-Eindämmung davon abhängig, dass der Bundestag die »pandemische Lage von nationaler Tragweite« beschließt. Aber über den konkreten Umfang der Einschränkungen entscheiden nach wie vor die Exekutiven. Der neue Paragraph sieht beispielsweise »Kontaktbeschränkungen« vor. Aber was konkret beim Erreichen welcher Inzidenz auf einen zukommt, weiß man vorher nicht. Man verharrt in Erwartung der nächsten Regierungsbeschlüsse. Diese müssen jetzt zwar befristet werden, was aber auch bisher schon gemacht wurde. In der Praxis bedeutet das nur, dass sie alle drei bis vier Wochen verlängert werden können.
Die LINKE hatte gefordert, »unter Rückgriff auf unabhängigen und interdisziplinären Sachverstand die Wirksamkeit der Maßnahmen des Infektionsschutzes und ihre Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft zu evaluieren und ihre Ergebnisse dem Bundestag vorzulegen«. Dieser Ruf verhallt bis heute. Auf parlamentarische Anfragen der Linksfraktion, welche Erkenntnisse es zur konkreten Wirkung einzelner Maßnahmen im ersten Lockdown gebe, verwies die Bundesregierung schon im Frühsommer lediglich darauf, dass die Summe der Maßnahmen gewirkt habe, weil die Infektionszahlen zurückgingen. Auch später zeigte die Bundesregierung kein Interesse, genauer herauszufinden, welche Maßnahmen tatsächlich etwas nützen, und welche eher verzichtbar sind.
Sind die Kontaktlisten in Gaststätten wirklich hilfreich, um Infektionsketten zu unterbrechen? »Keine Erkenntnisse«. Müssen Einreisende aus »Risikogebieten« wirklich in Quarantäne, weil sie infektiöser sind als Reisende innerhalb Deutschlands? Es »kann sich ein erhöhtes Infektionsrisiko im Ausland auch aus einem mit dem Inland nicht vergleichbaren Maßnahmenrahmen zur Bewältigung der Pandemie ergeben«, so die Bundesregierung. Es »kann« also sein, dass man sich im Ausland eher infiziert. Ob es wirklich so ist, weiß keiner, und dennoch müssen die Betreffenden zehn Tage in Quarantäne verbringen. Womöglich hat die Bundesregierung ein infektionstreibendes »Ballermann-Szenario« vor Augen. Nur: Wo ist denn derzeit noch ein Ballermann geöffnet?
Grundrechtseinschränkungen unterliegen dem Verhältnismäßigkeitsgebot. Sie sind nur legitim, sofern sie geeignet und notwendig sind. Einschränkungen nach dem Motto »viel hilft viel«, ohne Nutzen und Notwendigkeit präzise zu belegen, sind, zumal auf längere Sicht, grundrechtswidrig.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Eindämmung der Pandemie ist dringend geboten. In diesen Zeiten die gleichen Freiheitsrechte ausüben zu wollen wie sonst auch, würde im Ergebnis darauf hinauslaufen, das Infektions- und damit auch das Sterberisiko nicht nur für sich, sondern auch für andere Menschen beträchtlich zu erhöhen. Die »Freiheit«, von der die sogenannten Querdenker schwadronieren, ist purer Sozialdarwinismus, die Freiheit zum Egoismus.
Dass in der Pandemieeindämmung Fehler gemacht werden, ist nicht das Problem. Problematisch sind die Intransparenz der Entscheidungsfindung, die Selbstgerechtigkeit der Exekutive und ihr offenkundiges Herumexperimentieren, das sie als unvermeidbaren Sachzwang verkauft. Nicht zuletzt: Die leider berechtigte Ahnung vieler Menschen, dass es am Ende nicht die Reichen sein werden, die die Kosten bezahlen müssen.
Je mehr die Eindämmung der Pandemie wie eine willkürliche Repression aussieht, je mehr unsinnige, nicht mehr vermittelbare Regelungen ersonnen werden, desto weniger Akzeptanz werden diese Maßnahmen erfahren, desto mehr Wasser fließt auf die Mühlen der »Querdenker« und Nazis.
Stattdessen wäre es Zeit für einen Wechsel des Ansatzes: Bis zum heutigen Tag liegt der Kern der Einschränkungen darin, den privaten Bereich zu reglementieren. Verboten ist, was Spaß macht – ins Café gehen, sich mit (mehreren) Freunden treffen, verreisen … Geboten bleibt dagegen meist: In öffentlichen Verkehrsmitteln während des Berufsverkehrs weiterhin dicht gedrängt zur Arbeit fahren, sich in Fabriken, Lagerhallen und Büros stundenlang gemeinsam mit Kollegen aufhalten, häufig ohne Chance, den Abstand einzuhalten. Aber wehe, es wollen nach Feierabend drei Kollegen noch die Köpfe zusammenstecken …
Es wäre an der Zeit, dieses Prinzip aufzugeben. Warum sollen immer nur private Kontakte eingeschränkt werden? Von den vielen Fabriken und Büros, die weiterhin in Betrieb sind, sind längst nicht alle überlebensnotwendig. Machen wir sie, wenigstens für ein paar Wochen, doch zu! Selbstverständlich bei vollem Lohnausgleich.
Industrievertreter haben auf entsprechende Forderungen (etwa: https://zero-covid.org/) schon panisch reagiert und warnen vor einem Kollaps der Wirtschaft. Da müsste man allerdings die Gegenrechnung aufmachen: Ein kurzer, kompletter Lockdown, der dann auch die Industrie trifft, dürfte unterm Strich kaum teurer sein als ein langer, teilweiser, wie er seit Monaten in Kraft ist und den Einzelhandel, Kulturbetriebe und Gastronomie zugrunde richtet und die Masse der Soloselbstständigen in die Armut treibt
Ob ein echter Lockdown tatsächlich zur massiven Senkung der Infektionszahlen beiträgt, kann natürlich niemand sagen. Es wäre ein Experiment. Zumindest aus verschiedenen asiatischen Ländern gibt es diesbezüglich positive Erfahrungen. Aber wenn mit den Freiheitsrechten der Bürger seit bald einem Jahr experimentiert wird, warum dann nicht auch einmal mit den Eigentumsrechten der Unternehmer?