Der deutsche Widerstand gegen das Naziregime braucht eine Stimme. 76 Jahre nach dem Ende der Gewaltherrschaft besteht die Gefahr, dass das humanistische Erbe des deutschen Widerstandes in Vergessenheit gerät. Bald werden die letzten Zeitzeugen verstummt sein, die einst um den Preis des eigenen Lebens für die Freiheit und die Würde des Menschen gekämpft haben.
Dem Vergessen muss ein Riegel vorgeschoben werden. Mit dem Gedenken an die Opfer am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, darf es nicht getan sein. Im Laufe der Zeit sind aus unterschiedlichen Gründen fast vierzig Bundesbeauftragte berufen worden. Warum nicht endlich auch ein Bundesbeauftragter für den deutschen Widerstand gegen das Naziregime? Seine oder ihre Aufgabe wäre es unter anderem, den Namen der Vielen, die in den Lagern der Nazis in den Gaskammern, am Galgen oder unter dem Fallbeil starben, einen ehrenden Platz im kollektiven Gedächtnis des deutschen Volkes zu verschaffen.
»Wie wir der Luft bedürfen, um zu atmen, des Lichts, um zu sehen, so bedürfen wir edler Menschen, um zu leben«, schrieb die Schriftstellerin Ricarda Huch 1946 im Gedenken an die ermordeten Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer. Winston Churchill rief der Welt in Erinnerung: »In Deutschland lebte eine Opposition, die zu dem Edelsten gehört, was in der Geschichte der Völker je hervorgebracht worden ist.« In der Tat war der deutsche Widerstand gegen das Naziregime das einzige Guthaben, das Deutschland 1945 vorweisen konnte. Auf dem Gründungskongress der nordrhein-westfälischen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sagte der Zentrumspolitiker und spätere Landesminister Rudolf Amelunxen, niemand habe das eigene Volk und die Menschheit mehr geliebt als die Verfolgten, Verfemten und Verachteten.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes konzipierten die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland als demokratischen Gegenentwurf zur Gewaltherrschaft des braunen Abschaums der Menschheit. Leider gerieten viele gute Vorsätze schnell unter die Räder des Kalten Krieges zwischen Ost und West, und selbst unter den gebrannten Kindern von gestern lebten die alten Grabenkämpfe wieder auf. Zehn Jahre nach dem demokratischen Neubeginn stufte die Bundesregierung die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes als kommunistische Tarnorganisation ein und beantragte beim Bundesverwaltungsgericht deren Verbot. Das Gericht widersetzte sich dem Verlangen mit der Begründung, staatliche Zwangsmaßnahmen gegen eine Organisation von Opfern des Naziterrors vertrügen sich nicht mit dem Sühnegedanken des Grundgesetzes.
Den Makel der Ausgrenzung wurden die Betroffenen aber nicht los. Richard von Weizsäckers mutiger Schritt, den kommunistischen Widerstand bei der Anerkennung des 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung erstmals in das offizielle Gedenken an die Opfer des NS-Terrors einzubeziehen, änderte daran nur wenig. Inzwischen war sich die Finanzbehörde im sozialdemokratisch regierten Berlin nicht zu schade, auf der Grundlage eines Gutachtens der Verfassungsschützer aus Bayern der Verfolgtenorganisation die Gemeinnützigkeit zu entziehen und sie damit finanziell zu ruinieren. Ihr Bekenntnis zum »Schwur von Buchenwald«, in dem die befreiten Häftlinge des Konzentrationslagers auf dem Ettersberg bei Weimar die Ausrottung des Faschismus mit seinen Wurzeln verlangten, war der einzige Grund. Das wurde als verkappter Aufruf zum Sturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und somit als Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit gedeutet.
Diesem Denken in den Kategorien der Inquisition entgegenzutreten, wird zu den Aufgaben des Bundesbeauftragten für den deutschen Widerstand gegen das Naziregime gehören. Seine Berufung sollte von allen Beteiligten, insbesondere vom Bundestag, angesichts der zunehmenden Bedrohung von rechts, als ebenso dringliche wie ehrenvolle Aufgabe betrachtet werden. Den richtigen Mann oder die richtige Frau dafür zu finden, sollte nicht schwerfallen. Die Viren kommen und gehen, die Pflicht der Nachgeborenen, sich der Geschichte ihres Volkes zu stellen, bleibt.