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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dem Meer überlassen

Ful­vio Vass­al­lo Paleo­lo­go ist Rechts­an­walt und ehe­ma­li­ger Dozent für Asyl­recht an der Uni­ver­si­tät Paler­mo. In Koope­ra­ti­on mit ver­schie­de­nen NGOs ist er seit vie­len Jah­ren als Rechts­bei­stand für Migran­ten und Asyl­su­chen­de tätig. Er gehört zum euro­päi­schen Netz­werk »Migr­eu­rop«, das Hilfs-, Such- und Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen orga­ni­siert, und betei­ligt sich aktiv in der Initia­ti­ve »Lascia­te­Ci­en­tra­re«.

Das Gespräch für Ossietzky führ­te Tere­sa Sciac­ca auf Ita­lie­nisch; sie hat den Text anschlie­ßend ins Deut­sche übersetzt.

O.: Seit Mona­ten beherrscht die Pan­de­mie die Nach­rich­ten. Von Migra­ti­on ist seit­dem allen­falls ver­ein­zelt die Rede. Das erweckt den Anschein, als hät­te sich die Situa­ti­on im Mit­tel­meer ent­spannt. Trifft das zu?

FVP: Ganz im Gegen­teil. Die Lage ist dra­ma­ti­scher als zuvor. Im Unter­schied von vor zwei Jah­ren ist die offi­zi­ell ver­mel­de­te Anzahl der Flücht­lin­ge zwar tat­säch­lich rück­läu­fig, das liegt aber in erster Linie an einer restrik­ti­ven EU-Migra­ti­ons­po­li­tik und dar­an, dass die EU und ein­zel­ne EU-Län­der, wie Ita­li­en, Abkom­men mit Nicht-EU-Mit­tel­meer­an­rai­nern geschlos­sen haben, wie etwa mit Liby­en und der Tür­kei, die gewis­ser­ma­ßen dafür bezahlt wer­den, die Men­schen von der Flucht übers Mit­tel­meer abzu­hal­ten. Gleich­zei­tig wur­den die Fron­tex-Mis­sio­nen ins zen­tra­le Mit­tel­meer ein­ge­stellt und die Ret­tungs­ak­tio­nen von pri­va­ten Hilfs­in­itia­ti­ven (NGOs) durch vie­ler­lei Maß­nah­men mas­siv be- oder ver­hin­dert. Dadurch ist eine Art rechts­frei­er Raum ent­stan­den, der das Mit­tel­meer für all die Flücht­lin­ge, die in ihrer Hei­mat kei­ne Über­le­bens­chan­ce mehr sehen und deren Zahl wei­ter steigt, noch lebens­feind­li­cher gemacht hat. Wer es auf ein Boot schafft, und das sind nach wie vor nicht weni­ge, wird buch­stäb­lich dem Meer überlassen.

Für die »Schlep­per« ist das übri­gens ein Eldo­ra­do. Denn da immer mehr Flüch­ten­de etwa von der liby­schen Küsten­wa­che auf­ge­spürt und nach Liby­en zurück­ge­bracht wer­den – in die­sem Jahr min­de­stens 15.000 –, wo man sie unter unwür­di­gen Bedin­gun­gen in Lager sperrt und nicht sel­ten miss­han­delt, kön­nen die Schlep­per gleich mehr­fach kas­sie­ren. Denn vie­le Flucht­wil­li­gen wol­len nichts sehn­li­cher als erneut aufs Meer. Wie vie­le von ihnen tat­säch­lich ertrin­ken, lässt sich auf­grund der unüber­sicht­li­chen und »unöf­fent­li­chen« Situa­ti­on nicht sagen, und es soll auch öffent­lich gar nicht gesagt wer­den. Offi­zi­ell gezählt wur­den die­ses Jahr schon mehr als 800 Tote. Das ist im Ver­hält­nis zur »bekann­ten« Zahl derer, die sich auf den gefähr­li­chen Weg bege­ben, ein erschreckend gro­ßer Anteil im Ver­gleich mit den ver­gan­ge­nen Jahren.

O: War­um schafft die EU kei­ne lega­len Zugän­ge für Flücht­lin­ge, die doch als (bil­li­ge) Arbeits­kräf­te durch­aus gebraucht wer­den? War­um stellt man nicht groß­zü­gig Visa aus und sorgt für einen gere­gel­ten Zuzug. Wirt­schaft­lich wäre das doch sinn­voll und admi­ni­stra­tiv von Vor­teil, denn man wüss­te dann ja, anders als jetzt, wer ein­reist. Außer­dem wür­de man den Schlep­pern das Hand­werk legen und den Tod vie­ler verhindern.

FVP: Ich behaup­te, das ist system­be­dingt. Lega­le Ein­wan­de­rung macht die Arbeits­kraft teu­rer, weil sich die »Lega­len« auf die Rechts­la­ge beru­fen könn­ten. Es »rech­net« sich also nicht, die Migra­ti­on weni­ger restrik­tiv zu hand­ha­ben, weil die Arbeits­ko­sten in den Auf­nah­me­län­dern dadurch stei­gen wür­den. Unser kapi­ta­li­sti­sches Wirt­schafts­sy­stem hat einen Vor­teil durch irre­gu­lä­re Migra­ti­on. Men­schen­rech­te und die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on sind dage­gen zahn­lo­se Tiger.

Es gibt ja die Mög­lich­keit, etwa sai­so­na­le Visa aus­zu­stel­len, wie das zum Bei­spiel zwi­schen Spa­ni­en und Marok­ko prak­ti­ziert wird. Im Gegen­zug sichert Marok­ko sei­ne Gren­zen vor irre­gu­lä­rer Migra­ti­on – etwa in die spa­ni­schen Enkla­ven in Nord­afri­ka. Etwas Ähn­li­ches könn­te Ita­li­en mit Liby­en oder Grie­chen­land mit der Tür­kei und zum Teil auch Ägyp­ten ver­ein­ba­ren. Aber das geschieht nicht. Nicht ein­mal das. Dabei ist die Migra­ti­on durch Grenz­kon­trol­len und Restrik­tio­nen letzt­lich nicht zu ver­hin­dern, weil die Flucht­ur­sa­chen ja bestehen blei­ben. Zudem gibt es in den Zen­tren der Mit­tel­meer-Flucht, wie Liby­en, kei­nen funk­tio­nie­ren­den Rechts­staat, der eine trans­pa­ren­te und weni­ger restrik­ti­ve »Aus­wan­de­rungs­po­li­tik« gewähr­lei­sten könn­te. Es hakt also – system­be­dingt – an allen Enden.

Dabei gäbe es durch­aus die Mög­lich­keit, min­de­stens mode­ra­te lega­le Ein­rei­se­we­ge zu schaf­fen, zum Bei­spiel durch »huma­ni­tä­re« Visa. Aber lei­der sind die ein­zel­nen EU-Staa­ten in die­ser Hin­sicht sehr restrik­tiv, so dass die Visa-Poli­tik der EU eigent­lich nur sym­bo­li­schen Cha­rak­ter hat. Ita­li­en zum Bei­spiel stellt pro Jahr gera­de ein­mal 500 sol­cher huma­ni­tä­ren Visa für Flücht­lin­ge in Liby­en aus. Und das Gan­ze ist wie eine Art Lot­te­rie. Visa, die regu­lär, also etwa aus Arbeits­grün­den erteilt wer­den, sind hin­ge­gen durch bila­te­ra­le Abkom­men ver­bind­lich gere­gelt und im Grun­de eine Art Beloh­nung dafür, dass die Her­kunfts­län­der ihre Gren­zen dicht machen. Die­se soge­nann­te Migra­ti­ons­po­li­tik wur­de von Macron ein­ge­führt und ist von ande­ren EU-Staa­ten über­nom­men wor­den. Gleich­wohl ist die Zahl der ille­ga­len Migra­ti­on nach wie vor sehr hoch, was der Nach­fra­ge nach bil­li­gen Arbeits­kräf­ten, wie erwähnt, durch­aus ent­ge­gen­kommt – und des­halb wohl auch gar nicht wirk­lich ver­hin­dert wer­den soll.

Ein wei­te­res Ele­ment ist zur­zeit poli­ti­scher Natur. Fast über­all in den EU-Län­dern sind in den letz­ten Jah­ren star­ke rechts­ge­rich­te­te poli­ti­sche Strö­mun­gen ent­stan­den, die jede Öff­nungs­po­li­tik für sich nut­zen wür­den. Und die Coro­na-Pan­de­mie hat die­se Situa­ti­on, den Rück­zug aufs Natio­na­le, noch ein­mal ver­schlim­mert und die Kon­kur­renz auf dem Arbeits­markt – vor allem in psy­cho­lo­gi­scher, weni­ger in fak­ti­scher Hin­sicht – verschärft.

O.: Kann man denn heu­te über­haupt davon spre­chen, dass die euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen eine ein­heit­li­che Linie ver­fol­gen? Gibt es nicht schon erheb­li­che Dif­fe­ren­zen etwa zwi­schen der Kom­mis­si­on und dem Parlament?

FVP: Schlim­mer noch. Es gibt auch gro­ße Dif­fe­ren­zen zwi­schen Kom­mis­si­on und Par­la­ment einer­seits und Rat ande­rer­seits. Als es etwa dar­um ging, das Dub­li­ner Über­ein­kom­men von 1990, das regelt, wel­cher Mit­glied­staat für einen Asyl­an­trag zustän­dig ist, der Flücht­lings­si­tua­ti­on anzu­pas­sen, waren sich die dama­li­ge Kom­mis­si­on und das dama­li­ge Par­la­ment durch­aus einig, aber der Rat (der Regie­rungs­chefs) war dage­gen und hat eine Eini­gung blockiert. Damit wur­de und wird das Pro­blem – unso­li­da­risch – vor allem an die Mit­tel­meer-Anrai­ner­staa­ten aus­ge­la­gert, da der Asyl­an­trag wei­ter­hin im Land der Ein­rei­se gestellt wer­den muss. Ein auf Dau­er unhalt­ba­rer und die EU dis­kre­di­tie­ren­der Zustand.

Einig war und ist man ledig­lich in der Abschot­tung, wes­halb dann – gewis­ser­ma­ßen als »Ent­schä­di­gung« für die EU-Mit­tel­meer­län­der – die Grenz­schutz­or­ga­ni­sa­ti­on Fron­tex gegrün­det wur­de. Anson­sten aber haben die Staa­ten ganz unter­schied­li­che Inter­es­sen. Ganz offen­kun­dig wur­den die­se Dif­fe­ren­zen bei­spiels­wei­se bei den Ver­hand­lun­gen zum »Euro­päi­schen Pakt für Migra­ti­on und Asyl« am 23. Sep­tem­ber 2020. Bei der Fra­ge der See­not­ret­tung im Mit­tel­meer durch pri­va­te Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen (oder auch durch Fischer) blieb es bei papier­nen Erklä­run­gen, weil die nord- und mit­tel­eu­ro­päi­schen Staa­ten kei­ne Ver­an­las­sung sahen, hier eine ent­spre­chen­de Emp­feh­lung zu unter­stüt­zen. Das ist klar, deren Pro­blem­zo­ne ist nicht das Mit­tel­meer, son­dern etwa der Osten, die Ukrai­ne oder Bel­o­russ­land (für Polen und Ungarn). Auch die soge­nann­te Bal­kan­rou­te oder das Ver­hält­nis zur Tür­kei war für vie­le Län­der drän­gen­der. So blieb es bei der sehr frag­wür­di­gen Zusam­men­ar­beit etwa mit den nord­afri­ka­ni­schen Mit­tel­meer-Anrai­nern und der Tür­kei, die mit sehr viel Geld aus­ge­stat­tet wur­den, um Flücht­lin­ge von Euro­pa fern­zu­hal­ten – ein kla­rer Ver­stoß etwa gegen die Gen­fer Kon­ven­ti­on und in der prak­ti­schen Umset­zung durch die liby­sche Küsten­wa­che auch ein Bruch des inter­na­tio­na­len See­rechts. Durch sol­che »unrecht­mä­ßi­gen« Abkom­men wird das Asyl­recht fak­tisch abge­schafft, weil Men­schen dar­an gehin­dert wer­den, eine Gren­ze zu über­schrei­ten, um Asyl zu bean­tra­gen. Euro­pa über­lässt die Flücht­lin­ge statt­des­sen dem Meer – und jede/​r, der oder die mit der Situa­ti­on nur ein wenig ver­traut ist, weiß um die­sen tod­brin­gen­den Zynis­mus. Dass (natio­na­le) wirt­schaft­li­che Inter­es­sen mehr zäh­len als das Recht auf Unver­sehrt­heit setzt die EU ins­ge­samt ins Unrecht und ent­larvt die »west­li­chen Wer­te«, für die die »zivi­li­sier­te« Staa­ten­ge­mein­schaft vor­geb­lich so vehe­ment ein­tritt, als blo­ße Pro­pa­gan­da. Im Mit­tel­meer zäh­len die­se »Wer­te« gar nichts.