Fulvio Vassallo Paleologo ist Rechtsanwalt und ehemaliger Dozent für Asylrecht an der Universität Palermo. In Kooperation mit verschiedenen NGOs ist er seit vielen Jahren als Rechtsbeistand für Migranten und Asylsuchende tätig. Er gehört zum europäischen Netzwerk »Migreurop«, das Hilfs-, Such- und Informationskampagnen organisiert, und beteiligt sich aktiv in der Initiative »LasciateCientrare«.
Das Gespräch für Ossietzky führte Teresa Sciacca auf Italienisch; sie hat den Text anschließend ins Deutsche übersetzt.
O.: Seit Monaten beherrscht die Pandemie die Nachrichten. Von Migration ist seitdem allenfalls vereinzelt die Rede. Das erweckt den Anschein, als hätte sich die Situation im Mittelmeer entspannt. Trifft das zu?
FVP: Ganz im Gegenteil. Die Lage ist dramatischer als zuvor. Im Unterschied von vor zwei Jahren ist die offiziell vermeldete Anzahl der Flüchtlinge zwar tatsächlich rückläufig, das liegt aber in erster Linie an einer restriktiven EU-Migrationspolitik und daran, dass die EU und einzelne EU-Länder, wie Italien, Abkommen mit Nicht-EU-Mittelmeeranrainern geschlossen haben, wie etwa mit Libyen und der Türkei, die gewissermaßen dafür bezahlt werden, die Menschen von der Flucht übers Mittelmeer abzuhalten. Gleichzeitig wurden die Frontex-Missionen ins zentrale Mittelmeer eingestellt und die Rettungsaktionen von privaten Hilfsinitiativen (NGOs) durch vielerlei Maßnahmen massiv be- oder verhindert. Dadurch ist eine Art rechtsfreier Raum entstanden, der das Mittelmeer für all die Flüchtlinge, die in ihrer Heimat keine Überlebenschance mehr sehen und deren Zahl weiter steigt, noch lebensfeindlicher gemacht hat. Wer es auf ein Boot schafft, und das sind nach wie vor nicht wenige, wird buchstäblich dem Meer überlassen.
Für die »Schlepper« ist das übrigens ein Eldorado. Denn da immer mehr Flüchtende etwa von der libyschen Küstenwache aufgespürt und nach Libyen zurückgebracht werden – in diesem Jahr mindestens 15.000 –, wo man sie unter unwürdigen Bedingungen in Lager sperrt und nicht selten misshandelt, können die Schlepper gleich mehrfach kassieren. Denn viele Fluchtwilligen wollen nichts sehnlicher als erneut aufs Meer. Wie viele von ihnen tatsächlich ertrinken, lässt sich aufgrund der unübersichtlichen und »unöffentlichen« Situation nicht sagen, und es soll auch öffentlich gar nicht gesagt werden. Offiziell gezählt wurden dieses Jahr schon mehr als 800 Tote. Das ist im Verhältnis zur »bekannten« Zahl derer, die sich auf den gefährlichen Weg begeben, ein erschreckend großer Anteil im Vergleich mit den vergangenen Jahren.
O: Warum schafft die EU keine legalen Zugänge für Flüchtlinge, die doch als (billige) Arbeitskräfte durchaus gebraucht werden? Warum stellt man nicht großzügig Visa aus und sorgt für einen geregelten Zuzug. Wirtschaftlich wäre das doch sinnvoll und administrativ von Vorteil, denn man wüsste dann ja, anders als jetzt, wer einreist. Außerdem würde man den Schleppern das Handwerk legen und den Tod vieler verhindern.
FVP: Ich behaupte, das ist systembedingt. Legale Einwanderung macht die Arbeitskraft teurer, weil sich die »Legalen« auf die Rechtslage berufen könnten. Es »rechnet« sich also nicht, die Migration weniger restriktiv zu handhaben, weil die Arbeitskosten in den Aufnahmeländern dadurch steigen würden. Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem hat einen Vorteil durch irreguläre Migration. Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention sind dagegen zahnlose Tiger.
Es gibt ja die Möglichkeit, etwa saisonale Visa auszustellen, wie das zum Beispiel zwischen Spanien und Marokko praktiziert wird. Im Gegenzug sichert Marokko seine Grenzen vor irregulärer Migration – etwa in die spanischen Enklaven in Nordafrika. Etwas Ähnliches könnte Italien mit Libyen oder Griechenland mit der Türkei und zum Teil auch Ägypten vereinbaren. Aber das geschieht nicht. Nicht einmal das. Dabei ist die Migration durch Grenzkontrollen und Restriktionen letztlich nicht zu verhindern, weil die Fluchtursachen ja bestehen bleiben. Zudem gibt es in den Zentren der Mittelmeer-Flucht, wie Libyen, keinen funktionierenden Rechtsstaat, der eine transparente und weniger restriktive »Auswanderungspolitik« gewährleisten könnte. Es hakt also – systembedingt – an allen Enden.
Dabei gäbe es durchaus die Möglichkeit, mindestens moderate legale Einreisewege zu schaffen, zum Beispiel durch »humanitäre« Visa. Aber leider sind die einzelnen EU-Staaten in dieser Hinsicht sehr restriktiv, so dass die Visa-Politik der EU eigentlich nur symbolischen Charakter hat. Italien zum Beispiel stellt pro Jahr gerade einmal 500 solcher humanitären Visa für Flüchtlinge in Libyen aus. Und das Ganze ist wie eine Art Lotterie. Visa, die regulär, also etwa aus Arbeitsgründen erteilt werden, sind hingegen durch bilaterale Abkommen verbindlich geregelt und im Grunde eine Art Belohnung dafür, dass die Herkunftsländer ihre Grenzen dicht machen. Diese sogenannte Migrationspolitik wurde von Macron eingeführt und ist von anderen EU-Staaten übernommen worden. Gleichwohl ist die Zahl der illegalen Migration nach wie vor sehr hoch, was der Nachfrage nach billigen Arbeitskräften, wie erwähnt, durchaus entgegenkommt – und deshalb wohl auch gar nicht wirklich verhindert werden soll.
Ein weiteres Element ist zurzeit politischer Natur. Fast überall in den EU-Ländern sind in den letzten Jahren starke rechtsgerichtete politische Strömungen entstanden, die jede Öffnungspolitik für sich nutzen würden. Und die Corona-Pandemie hat diese Situation, den Rückzug aufs Nationale, noch einmal verschlimmert und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – vor allem in psychologischer, weniger in faktischer Hinsicht – verschärft.
O.: Kann man denn heute überhaupt davon sprechen, dass die europäischen Institutionen eine einheitliche Linie verfolgen? Gibt es nicht schon erhebliche Differenzen etwa zwischen der Kommission und dem Parlament?
FVP: Schlimmer noch. Es gibt auch große Differenzen zwischen Kommission und Parlament einerseits und Rat andererseits. Als es etwa darum ging, das Dubliner Übereinkommen von 1990, das regelt, welcher Mitgliedstaat für einen Asylantrag zuständig ist, der Flüchtlingssituation anzupassen, waren sich die damalige Kommission und das damalige Parlament durchaus einig, aber der Rat (der Regierungschefs) war dagegen und hat eine Einigung blockiert. Damit wurde und wird das Problem – unsolidarisch – vor allem an die Mittelmeer-Anrainerstaaten ausgelagert, da der Asylantrag weiterhin im Land der Einreise gestellt werden muss. Ein auf Dauer unhaltbarer und die EU diskreditierender Zustand.
Einig war und ist man lediglich in der Abschottung, weshalb dann – gewissermaßen als »Entschädigung« für die EU-Mittelmeerländer – die Grenzschutzorganisation Frontex gegründet wurde. Ansonsten aber haben die Staaten ganz unterschiedliche Interessen. Ganz offenkundig wurden diese Differenzen beispielsweise bei den Verhandlungen zum »Europäischen Pakt für Migration und Asyl« am 23. September 2020. Bei der Frage der Seenotrettung im Mittelmeer durch private Hilfsorganisationen (oder auch durch Fischer) blieb es bei papiernen Erklärungen, weil die nord- und mitteleuropäischen Staaten keine Veranlassung sahen, hier eine entsprechende Empfehlung zu unterstützen. Das ist klar, deren Problemzone ist nicht das Mittelmeer, sondern etwa der Osten, die Ukraine oder Belorussland (für Polen und Ungarn). Auch die sogenannte Balkanroute oder das Verhältnis zur Türkei war für viele Länder drängender. So blieb es bei der sehr fragwürdigen Zusammenarbeit etwa mit den nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainern und der Türkei, die mit sehr viel Geld ausgestattet wurden, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten – ein klarer Verstoß etwa gegen die Genfer Konvention und in der praktischen Umsetzung durch die libysche Küstenwache auch ein Bruch des internationalen Seerechts. Durch solche »unrechtmäßigen« Abkommen wird das Asylrecht faktisch abgeschafft, weil Menschen daran gehindert werden, eine Grenze zu überschreiten, um Asyl zu beantragen. Europa überlässt die Flüchtlinge stattdessen dem Meer – und jede/r, der oder die mit der Situation nur ein wenig vertraut ist, weiß um diesen todbringenden Zynismus. Dass (nationale) wirtschaftliche Interessen mehr zählen als das Recht auf Unversehrtheit setzt die EU insgesamt ins Unrecht und entlarvt die »westlichen Werte«, für die die »zivilisierte« Staatengemeinschaft vorgeblich so vehement eintritt, als bloße Propaganda. Im Mittelmeer zählen diese »Werte« gar nichts.