Wechselten wir vor dem 13. August 1961 zu Fuß vom Ost- in den Westteil Berlins, informierte uns ein Straßenschild auf Deutsch, Russisch, Englisch und Französisch, dass wir nunmehr den »demokratischen Sektor« verließen. Bei der Rückkehr hieß es auf der anderen Seite, ebenfalls viersprachig, in Versalien: YOU ARE LEAVING THE AMERICAN SECTOR.
Als wir am 3. Oktober 2020, wir konnten uns vor der nächsten Corona-Welle noch frei bewegen, auf das Landgut Stober in Groß Behnitz fuhren, las ich am Hofeingang auf einer Tafel wie weiland an der Berliner Sektorengrenze mehrsprachig: YOU ARE LEAVING THE CORONA FREE SECTOR. Offenkundig sollte auf diese Weise signalisiert werden, dass man nach Überschreiten dieser Linie sich einen Mundschutz umbinden sollte.
Nun, wir taten es und nahmen auf der Terrasse des Restaurants in der Sonne Platz. Von dort oben hatten wir einen wunderbaren Blick auf den Groß Behnitzer See, der gesäumt wird von mächtigen Eichen und Buchen, riesigen Sumpfzypressen und jahrhundertealten Platanen. Dass der Naturlehrpfad, der an ihnen vorüberführt, bereits in der DDR – auf Initiative des Kulturbundes – angelegt worden war, lässt sich aus dem Text einer Tafel von 2016 indirekt schließen. Der Anlass für deren Anbringung nämlich war der 50. Geburtstag des lehrreichen Weges. Offenkundig denkt man hier immer ein wenig um die Ecke und setzt auf die Intelligenz der Besucher.
Dass das Anwesen mit Gutswirtschaft – einst von den Grafen von Itzenplitz angelegt und von den Borsigs 1866 übernommen – bis 1990 jahrzehntelang von einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft geführt wurde, erfährt man ebenso beiläufig wie die Nachricht, dass das von der LPG zwangsweise verlassene Objekt nach 1990 verwahrloste – obgleich sich doch die Denkmalpflege um den Erhalt bemühte. Tja, wir hatten vieles in der DDR nicht, aber danach hatten wir vieles nicht mehr. Zum Beispiel Verantwortung fürs Erbe und eine Bahnstation in Groß Behnitz.
Ein Münchner Bauunternehmer erwarb 2000 die Immobilie mit Herrenhaus, Park und den Wirtschaftsgebäuden aus roten Brandenburger Ziegeln und richtete alles, auch mit Millionen aus europäischen und nationalen Fördertöpfen, ansehenswert her. Nichts dagegen zu sagen. Er fügte auch ein neues »Bio-Hotel« hinzu, das sich architektonisch in das Ensemble durchaus harmonisch einfügt, und stritt dann mit einem Borsig-Nachfahren mehrere Jahre und durch alle Instanzen um den Namen des Ganzen. Der Bundesgerichtshof entschied 2015 schließlich, dass die Bezeichnung »Borsig« für das Anwesen keine Verwendung finden dürfe und folgte darin der Argumentation des Klägers: »Mein Vater Ernst von Borsig setzte auf Landwirtschaft und auf ein soziales Engagement in der Region. Was Herr Stober aus dem Areal gemacht hat, hat damit wenig zu tun. Das ist doch ein reiner Gewerbebetrieb.« So heißt denn seither das Unternehmen mit Konferenz- und Ausstellungsräumen, Herberge und Standesamt, Restaurants und Museumsstücken et cetera nach dem Eigentümer »Landgut Stober«.
Dabei weist doch alles in diesem Ort, der keine sechshundert Seelen zählt, auf die Berliner Unternehmerfamilie. Nicht nur die Grabanlage für Albert und Ernst von Borsig neben der Kirche. Auch der zweiflügelige schmiedeeiserne Zugang zum Gutshaus tut es. Er trägt Teile des 1868 in Berlin abgerissenen Oranienburger Tores und eine Tafel, auf der es heißt, dass sich zwischen 1941 und 1943 »auf Einladung des Dr. Ernst von Borsig mehrmals die Grafen Moltke und York von Wartenburg mit führenden Mitgliedern des Kreisauer Kreises« hier getroffen hätten.
Die Frage von Krieg und Frieden spielte auch später in Groß Behnitz eine gewisse Rolle. Das lässt sich aus der temporären Anwesenheit der Raketenabteilung 1 der Nationalen Volksarmee (NVA) schließen. Die zog aber bereits 1986 ab, womit der Ort von der Liste der strategischen Angriffsziele der Nato verschwand und der Region Frieden bescherte. Und dem Havelland neben Schloss Ribbeck ein zweites touristisches Kleinod.
Das schöne Gut ist allerdings aktuell nicht mehr mit der Bahn erreichbar. Obgleich doch die Familie Borsig, als in den 1860er Jahren die Strecke von Berlin nach Hannover gelegt wurde, zehntausend Taler und mehr als fünfzehn Hektar Land für einen Bahnhof spendierte. Der wurde aus den gleichen Bausteinen errichtet wie die gesamte Gutsanlage und steht, da er dem Klassizismus zugerechnet wird, ebenfalls unter Denkmalschutz. Allerdings stoppen dort gegenwärtig nur Busse. Erst 2034 sollen hier wieder Regionalzüge halten.
So denn die kommenden Corona-Kosten solche Luxus-Investitionen überhaupt noch erlauben werden.