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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Trauerspiel von Afghanistan

Tages­chau online vom 30. März: »Mit einer groß ange­leg­ten Auf­klä­rungs­of­fen­si­ve woll­te die Koali­ti­on den Afgha­ni­stan-Ein­satz der Bun­des­wehr beleuch­ten. Doch die Ein­set­zung eines Unter­su­chungs­aus­schus­ses im Bun­des­tag ver­zö­gert sich wei­ter. (…) Mit dem geschei­ter­ten mili­tä­ri­schen Afgha­ni­stan-Ein­satz soll­te sich auch das Par­la­ment befas­sen, so steht es im Koali­ti­ons­ver­trag von SPD, Grü­nen und FDP. Doch der Beginn der Auf­klä­rungs­ar­beit ver­zö­gert sich aber­mals. Wie WDR und NDR erfuh­ren, ist die Ein­set­zung des Unter­su­chungs­aus­schus­ses durch den Bun­des­tag inzwi­schen für frü­he­stens Ende Mai geplant.«

Hin­ter­grund für die Ver­zö­ge­rung sei­en unter ande­rem Wün­sche aus dem Aus­wär­ti­gen Amt. Das Mini­ste­ri­um unter Außen­mi­ni­ste­rin Anna­le­na Baer­bock habe ange­sichts der der­zei­ti­gen Ukrai­ne-Kri­se die Koali­ti­ons­frak­tio­nen um mehr Zeit für die Vor­be­rei­tung eines Unter­su­chungs­aus­schus­ses gebe­ten. Ihre Diplo­ma­ten sei­en umfas­send mit der Reak­ti­on auf Russ­lands Angriffs­krieg in der Ukrai­ne befasst.

Zwar hät­ten sich die Koali­ti­ons­frak­tio­nen aus SPD, Grü­nen und FDP bereits Ende Febru­ar auf einen gemein­sa­men Antrags­ent­wurf ver­stän­digt, heißt es wei­ter in dem Bericht der Tages­schau, jedoch sol­le auch die CDU/C­SU-Frak­ti­on mit ins Boot geholt werden.

In den Afgha­ni­stan-Krieg, der mit der von den USA geführ­ten soge­nann­ten Ope­ra­ti­on Endu­ring Free­dom im Herbst 2001 begann und 2021 mit dem über­stürz­ten Rück­zug der Inter­ven­ti­ons­trup­pen ende­te, waren von Sei­ten der deut­schen Regie­rung nicht weni­ger als sie­ben Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin­nen und -mini­ster invol­viert: vier von der CDU (Franz Josef Jung, Tho­mas de Mai­ziè­re, Ursu­la von der Ley­en, Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er), zwei von der SPD (Rudolf Schar­ping, Peter Struck) und einer von der CSU (Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg). Die­ses gemisch­te Sep­tett gäbe, so befürch­ten die Regie­rungs­frak­tio­nen, Raum und Anlass genug für wech­sel­sei­ti­ge Schuld­zu­wei­sun­gen und poli­ti­sches Stör­feu­er, soll­te es nicht zu einem Antrags­ent­wurf gemein­sam mit der Uni­on kom­men. Als Vor­sit­zen­der des Aus­schus­ses ist der frü­he­re schles­wig-hol­stei­ni­sche SPD-Lan­des- und Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de und jet­zi­ge Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Ralf Ste­g­ner im Gespräch.

Wer nicht war­ten möch­te, bis der Unter­su­chungs­aus­schuss, wenn er denn end­lich kon­sti­tu­iert sein wird, sei­nen Abschluss­be­richt vor­legt, was ver­mut­lich frü­he­stens gegen Ende der lau­fen­den Legis­la­tur­pe­ri­ode der Fall sein dürf­te, soll­te zu dem gera­de erschie­ne­nen sehr emp­feh­lens­wer­ten Taschen­buch »Hybris am Hin­du­kusch« von Micha­el Lüders grei­fen. Ich behaup­te: Prä­gnan­ter als in die­sem Buch wer­den die Par­la­men­ta­ri­er das Schei­tern des Westens und damit auch der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nicht beschrei­ben können.

Als Mot­to dient dem Autor ein Zitat der US-ame­ri­ka­ni­schen Repor­te­rin und Histo­ri­ke­rin Bar­ba­ra Tuch­man (Die Tor­heit der Regie­ren­den – von Tro­ja bis Viet­nam): »Rea­li­täts­ver­leug­nung, die Quel­le der Selbst­täu­schung, spielt eine bemer­kens­wert gro­ße Rol­le auf Regie­rungs­ebe­ne. Wunsch­den­ken führt dazu, die Fak­ten­la­ge zu übersehen.«

Lüders war lan­ge Jah­re Nah­ost-Kor­re­spon­dent der Wochen­zei­tung Die Zeit. Heu­te ist er Prä­si­dent der Deutsch-Ara­bi­schen Gesell­schaft, als Nach­fol­ger des Jour­na­li­sten und Sach­buch­au­tors Peter Scholl-Latour (1924-2014).

Ich zitie­re: »Es ist kei­ne gute Idee, in Afgha­ni­stan ein­zu­mar­schie­ren. Dage­gen spre­chen die Geo­gra­fie und histo­ri­sche Fak­ten. Im 19. Jahr­hun­dert erlit­ten die Bri­ten dort die viel­leicht größ­te Nie­der­la­ge ihrer Kolo­ni­al­ge­schich­te (abge­se­hen viel­leicht vom Ver­lust der nord­ame­ri­ka­ni­schen Kolo­nien). In den 1980er Jah­ren schei­ter­te die Sowjet­uni­on bei dem Ver­such, das Land zu unter­wer­fen. Die­se selbst ver­schul­de­te Nie­der­la­ge trug zu ihrem Unter­gang bei. Doch die USA und ihre Ver­bün­de­ten haben aus der Ver­gan­gen­heit nichts gelernt. Ohne Plan und kla­re Zie­le besetz­ten sie 2001 Afgha­ni­stan. Sie finan­zier­ten ein kor­rup­tes Regime in Kabul, wäh­ren Tau­sen­de Zivi­li­sten bei Droh­nen­an­grif­fen und nächt­li­chen Raz­zi­en star­ben. Ein Land ver­än­dern zu wol­len, ohne es zu ver­ste­hen – das ist Grö­ßen­wahn. Hybris am Hindukusch.«

Übri­gens, die Über­schrift zu mei­nem Text habe ich bei Theo­dor Fon­ta­ne geklaut. Das Trau­er­spiel von Afgha­ni­stan nann­te er sein 1858 geschrie­be­nes Gedicht, Franz Josef Degen­hardt hat es 2008 für sei­ne CD Drei­zehn­bo­gen ver­tont. Fon­ta­ne bedich­te­te den bri­ti­schen Rück­zug aus Kabul im ersten Anglo-Afgha­ni­schen Krieg, zwei wei­te­re Krie­ge soll­ten noch fol­gen. Das Gedicht endet mit dem Vers:

»Die hören sol­len, sie hören nicht mehr,
Ver­nich­tet ist das gan­ze Heer,
Mit drei­zehn­tau­send der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.«

Die bri­ti­sche Armee war Ende 1838 in Afgha­ni­stan ein­mar­schiert. Nach einem Auf­stand in Kabul räum­te Gene­ral Elphin­stone den Stütz­punkt und mach­te sich am 6. Janu­ar 1842 mit der gesam­ten Gar­ni­son auf in den Osten des Lan­des, zum 160 Kilo­me­ter ent­fern­ten bri­ti­schen Fort in Dscha­lal­abad. Die ver­ein­bar­ten Sicher­heits­ga­ran­tien waren jedoch das Papier oder den Hand­schlag nicht wert, mit dem frei­es Geleit ver­ein­bart wor­den war, die ver­spro­che­ne Schut­zes­kor­te war weit und breit nicht zu sehen. Die Über­fäl­le auf den Tross und die Gefech­te häuf­ten sich, for­der­ten Opfer um Opfer. Am 1070 Meter hoch gele­ge­nen Khy­ber-Pass, dem wich­tig­sten Pass zwi­schen Afgha­ni­stan und Paki­stan, kam es bei Gan­da­mak zur letz­ten Schlacht. Nur der bri­ti­schen Mili­tär­arzt Wil­liam Bry­don erreich­te als Ein­zi­ger das Fort in Dscha­lal­abad. Fon­ta­ne hat ihm ein lite­ra­ri­sches Denk­mal gesetzt.

Lüders beschreibt den Vor­fall in sei­nem Buch, eben­so wie eini­ge Kapi­tel und einen Zeit­sprung wei­ter das »deut­sche Mas­sa­ker« im Sep­tem­ber 2009 süd­lich der Stadt Kun­duz, für ihn ein Kriegs­ver­bre­chen. Georg Klein, Oberst der Bun­des­wehr, war damals Kom­man­deur einer ISAF-Ein­heit. Er ord­ne­te, weil eine »unmit­tel­ba­re Bedro­hung« bestehe, den Bom­ben­ab­wurf zwei­er US-Kampf­flug­zeu­ge auf zwei voll befüll­te Tank­wa­gen der Tali­ban an, die im Fluss Kun­duz stecken­ge­blie­ben waren und zu denen sich Bewoh­ner nahe­lie­gen­der Dör­fer auf­ge­macht hat­ten, um Ben­zin abzuzapfen.

Über die Anzahl der Toten gibt es diver­gie­ren­de Anga­ben, bis zu 150 und über­wie­gend Zivi­li­sten sol­len es gewe­sen sein. Oberst Klein muss­te sich vor kei­nem Gericht ver­ant­wor­ten. Er wur­de 2013 zum Bri­ga­de­ge­ne­ral beför­dert (Mini­ster: de Mai­ziè­re, CDU) und ist seit April 2021 Abtei­lungs­lei­ter Ein­satz im Kom­man­do Streit­kräf­te­ba­sis in Bonn (Mini­ste­rin: Kramp-Kar­ren­bau­er, CDU).

»Das alles ist Geschich­te und doch sehr gegen­wär­tig,« schreibt Lüders. »Am Anfang steht die poli­ti­sche Fehl­ein­schät­zung. Es folgt die Hybris: Der mes­sia­nisch anmu­ten­de Unfehl­bar­keits­glau­be einer Groß­macht, gepaart mit rück­sichts­lo­ser Kriegs­füh­rung und einer umfas­sen­den Igno­ranz gegen­über Geschich­te und Kul­tur der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung wie auch den Gege­ben­hei­ten im besetz­ten Land selbst.«

Wie aktu­ell das doch klingt.

 Micha­el Lüders: Hybris am Hin­du­kusch, C.H.Beck, Mün­chen 2022, 205 S., 14,95 €.