Tageschau online vom 30. März: »Mit einer groß angelegten Aufklärungsoffensive wollte die Koalition den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr beleuchten. Doch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Bundestag verzögert sich weiter. (…) Mit dem gescheiterten militärischen Afghanistan-Einsatz sollte sich auch das Parlament befassen, so steht es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Doch der Beginn der Aufklärungsarbeit verzögert sich abermals. Wie WDR und NDR erfuhren, ist die Einsetzung des Untersuchungsausschusses durch den Bundestag inzwischen für frühestens Ende Mai geplant.«
Hintergrund für die Verzögerung seien unter anderem Wünsche aus dem Auswärtigen Amt. Das Ministerium unter Außenministerin Annalena Baerbock habe angesichts der derzeitigen Ukraine-Krise die Koalitionsfraktionen um mehr Zeit für die Vorbereitung eines Untersuchungsausschusses gebeten. Ihre Diplomaten seien umfassend mit der Reaktion auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine befasst.
Zwar hätten sich die Koalitionsfraktionen aus SPD, Grünen und FDP bereits Ende Februar auf einen gemeinsamen Antragsentwurf verständigt, heißt es weiter in dem Bericht der Tagesschau, jedoch solle auch die CDU/CSU-Fraktion mit ins Boot geholt werden.
In den Afghanistan-Krieg, der mit der von den USA geführten sogenannten Operation Enduring Freedom im Herbst 2001 begann und 2021 mit dem überstürzten Rückzug der Interventionstruppen endete, waren von Seiten der deutschen Regierung nicht weniger als sieben Verteidigungsministerinnen und -minister involviert: vier von der CDU (Franz Josef Jung, Thomas de Maizière, Ursula von der Leyen, Annegret Kramp-Karrenbauer), zwei von der SPD (Rudolf Scharping, Peter Struck) und einer von der CSU (Karl-Theodor zu Guttenberg). Dieses gemischte Septett gäbe, so befürchten die Regierungsfraktionen, Raum und Anlass genug für wechselseitige Schuldzuweisungen und politisches Störfeuer, sollte es nicht zu einem Antragsentwurf gemeinsam mit der Union kommen. Als Vorsitzender des Ausschusses ist der frühere schleswig-holsteinische SPD-Landes- und Fraktionsvorsitzende und jetzige Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner im Gespräch.
Wer nicht warten möchte, bis der Untersuchungsausschuss, wenn er denn endlich konstituiert sein wird, seinen Abschlussbericht vorlegt, was vermutlich frühestens gegen Ende der laufenden Legislaturperiode der Fall sein dürfte, sollte zu dem gerade erschienenen sehr empfehlenswerten Taschenbuch »Hybris am Hindukusch« von Michael Lüders greifen. Ich behaupte: Prägnanter als in diesem Buch werden die Parlamentarier das Scheitern des Westens und damit auch der Bundesrepublik Deutschland nicht beschreiben können.
Als Motto dient dem Autor ein Zitat der US-amerikanischen Reporterin und Historikerin Barbara Tuchman (Die Torheit der Regierenden – von Troja bis Vietnam): »Realitätsverleugnung, die Quelle der Selbsttäuschung, spielt eine bemerkenswert große Rolle auf Regierungsebene. Wunschdenken führt dazu, die Faktenlage zu übersehen.«
Lüders war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit. Heute ist er Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, als Nachfolger des Journalisten und Sachbuchautors Peter Scholl-Latour (1924-2014).
Ich zitiere: »Es ist keine gute Idee, in Afghanistan einzumarschieren. Dagegen sprechen die Geografie und historische Fakten. Im 19. Jahrhundert erlitten die Briten dort die vielleicht größte Niederlage ihrer Kolonialgeschichte (abgesehen vielleicht vom Verlust der nordamerikanischen Kolonien). In den 1980er Jahren scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, das Land zu unterwerfen. Diese selbst verschuldete Niederlage trug zu ihrem Untergang bei. Doch die USA und ihre Verbündeten haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Ohne Plan und klare Ziele besetzten sie 2001 Afghanistan. Sie finanzierten ein korruptes Regime in Kabul, währen Tausende Zivilisten bei Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien starben. Ein Land verändern zu wollen, ohne es zu verstehen – das ist Größenwahn. Hybris am Hindukusch.«
Übrigens, die Überschrift zu meinem Text habe ich bei Theodor Fontane geklaut. Das Trauerspiel von Afghanistan nannte er sein 1858 geschriebenes Gedicht, Franz Josef Degenhardt hat es 2008 für seine CD Dreizehnbogen vertont. Fontane bedichtete den britischen Rückzug aus Kabul im ersten Anglo-Afghanischen Krieg, zwei weitere Kriege sollten noch folgen. Das Gedicht endet mit dem Vers:
»Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.«
Die britische Armee war Ende 1838 in Afghanistan einmarschiert. Nach einem Aufstand in Kabul räumte General Elphinstone den Stützpunkt und machte sich am 6. Januar 1842 mit der gesamten Garnison auf in den Osten des Landes, zum 160 Kilometer entfernten britischen Fort in Dschalalabad. Die vereinbarten Sicherheitsgarantien waren jedoch das Papier oder den Handschlag nicht wert, mit dem freies Geleit vereinbart worden war, die versprochene Schutzeskorte war weit und breit nicht zu sehen. Die Überfälle auf den Tross und die Gefechte häuften sich, forderten Opfer um Opfer. Am 1070 Meter hoch gelegenen Khyber-Pass, dem wichtigsten Pass zwischen Afghanistan und Pakistan, kam es bei Gandamak zur letzten Schlacht. Nur der britischen Militärarzt William Brydon erreichte als Einziger das Fort in Dschalalabad. Fontane hat ihm ein literarisches Denkmal gesetzt.
Lüders beschreibt den Vorfall in seinem Buch, ebenso wie einige Kapitel und einen Zeitsprung weiter das »deutsche Massaker« im September 2009 südlich der Stadt Kunduz, für ihn ein Kriegsverbrechen. Georg Klein, Oberst der Bundeswehr, war damals Kommandeur einer ISAF-Einheit. Er ordnete, weil eine »unmittelbare Bedrohung« bestehe, den Bombenabwurf zweier US-Kampfflugzeuge auf zwei voll befüllte Tankwagen der Taliban an, die im Fluss Kunduz steckengeblieben waren und zu denen sich Bewohner naheliegender Dörfer aufgemacht hatten, um Benzin abzuzapfen.
Über die Anzahl der Toten gibt es divergierende Angaben, bis zu 150 und überwiegend Zivilisten sollen es gewesen sein. Oberst Klein musste sich vor keinem Gericht verantworten. Er wurde 2013 zum Brigadegeneral befördert (Minister: de Maizière, CDU) und ist seit April 2021 Abteilungsleiter Einsatz im Kommando Streitkräftebasis in Bonn (Ministerin: Kramp-Karrenbauer, CDU).
»Das alles ist Geschichte und doch sehr gegenwärtig,« schreibt Lüders. »Am Anfang steht die politische Fehleinschätzung. Es folgt die Hybris: Der messianisch anmutende Unfehlbarkeitsglaube einer Großmacht, gepaart mit rücksichtsloser Kriegsführung und einer umfassenden Ignoranz gegenüber Geschichte und Kultur der einheimischen Bevölkerung wie auch den Gegebenheiten im besetzten Land selbst.«
Wie aktuell das doch klingt.
Michael Lüders: Hybris am Hindukusch, C.H.Beck, München 2022, 205 S., 14,95 €.