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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Kapital in der Wolfsschanze

Die Schwe­ster Geno glaub­te bis zuletzt, sie starb 2007, dass ihr Bru­der Felix Hart­laub noch lebe, viel­leicht irgend­wo in Russ­land, zu dem er sich als Zög­ling der Oden­wald­schu­le hin­ge­zo­gen fühl­te. Geno Hart­laub führ­te in Ham­burg einen Jour fixe, wo ich sie ken­nen­lern­te. Geno war Schrift­stel­le­rin wie vie­le ihrer Besucher.

Bei Suhr­kamp ist ein Buch erschie­nen: »Der ver­schwun­de­ne Zeu­ge – Das kur­ze Leben des Felix Hart­laub«. Geschrie­ben hat es Mat­thi­as Wei­chelt, der Chef­re­dak­teur von Sinn und Form. Die­ses, auf 232 Sei­ten (20 Euro) zusam­men­ge­fass­te Leben könn­te Bän­de fül­len. Felix Hart­laub wur­de als Sohn des Kunst­hi­sto­ri­kers Gustav Fried­rich Hart­laub und sei­ner Ehe­frau Féli­cie am 17. Juni 1913 gebo­ren – das Ster­be­da­tum ist unbe­kannt, mög­li­cher­wei­se war es der 20. April 1945. An dem Tag mach­te sich der Ober­ge­frei­te auf zur Seeckt-Kaser­ne in Span­dau – noch zur Abkom­man­die­rung an die Front, die da schon in Ber­lin war. War­um lei­ste­te Hart­laub dem Befehl Fol­ge? Um Freun­de zu schüt­zen. Er leb­te damals in einer Vil­la am Schlach­ten­see, wo auch Klaus Gysi und Ire­ne Les­sing wohn­ten. Es gab Durch­su­chun­gen nach Deser­teu­ren, tat­säch­lich fand noch eine statt. Klaus Gysi hat­te das Glück, dass ein Arzt ihm ein gefälsch­tes Attest aus­ge­stellt und einen Diph­te­rie-Abstrich besorgt hat­te. Das ret­te­te ihn. Mit­glie­der sei­ner Fami­lie wur­den von den Nazis umge­bracht. Gysis Ver­lob­te, Ire­ne Les­sing, beglei­te­te Felix Hart­laub noch zum Bahn­hof Niko­las­see. Dann ver­schwand er unauf­find­bar. Klaus und Ire­ne hat­ten nach den Ras­se­ge­set­zen der Nazis irgend­wel­che Pro­zen­te jüdi­sches Blut in den Adern, und dazu waren sie – auch das noch – Kom­mu­ni­sten. Klaus Gysi, der spä­te­re Kul­tur­mi­ni­ster der DDR und Auf­bau-Ver­le­ger, muss­te sich nach 1945 recht­fer­ti­gen, war­um er über­lebt habe. Er hat­te Felix in der Oden­wald­schu­le ken­nen­ge­lernt. Dort wur­den die klas­si­schen huma­ni­sti­schen Wer­te hoch­ge­hal­ten, nur das, was drau­ßen pas­sier­te, was sich poli­tisch ver­än­der­te, blieb unaus­ge­spro­chen. Der Vater erzog Sohn Felix zu einem Wun­der­kna­ben, schrieb das Buch: »Das Genie im Kin­de«. Durch die­ses Vor­ge­prägt­sein fühl­te sich der sen­si­ble Felix ein­ge­engt. Er zeich­ne­te und schrieb. Der Vater wur­de 1923 zum Direk­tor der Mann­hei­mer Kunst­hal­le ernannt. Er rei­ste viel mit dem Sohn. Und alles wur­de auf­ge­schrie­ben. Jeder in der Fami­lie führ­te Tage­buch, Brie­fe waren all­täg­lich. Heu­te ist vie­les im Lite­ra­tur­ar­chiv Mar­bach auf­be­wahrt. 1933 wur­de Gustav Hart­laub als Direk­tor der Kunst­hal­le wegen »Kul­tur­bol­sche­wis­mus« ent­las­sen. Kurz vor­her war eine auf­ge­reg­te Men­ge durch Mann­heim gezo­gen, auf einem Lei­ter­wa­gen ein Gemäl­de: Chagalls »Rab­bi­ner«, aus dem Rah­men geschnit­ten und mit einem Trans­pa­rent ver­se­hen: »Hier­für miß­braucht man das Geld der Steu­er­zah­ler«. Hier­für, das hieß »undeut­sche Kunst«.

Felix stu­diert in Hei­del­berg Roma­ni­stik und Geschich­te, 1934 geht er nach Ber­lin und stu­diert dort wei­ter. Sei­ne Pro­fes­so­ren sind Wal­ter Elze und Wil­helm Pin­der. Pro­fes­sor Elze, ein Geor­ge-Anhän­ger, der im Ersten Welt­krieg Jagd­flie­ger in der Richt­ho­fen-Staf­fel gewe­sen war und bis 1919 im Preu­ßi­schen Kriegs­mi­ni­ste­ri­um gear­bei­tet hat­te, dann schnell in die NSDAP ein­ge­tre­ten war, aus­ge­rech­net er hat­te gro­ßen Ein­fluss auf Felix. Er schlug ihm als Dok­tor­ar­beit »Don Juan d’ Austria und die Schlacht bei Lepan­to« vor – der Kampf des Abend­lands gegen die feind­li­che tür­ki­sche Flot­te, die fast voll­stän­dig zer­schla­gen wur­de. Ein The­ma, das Felix immer unheim­li­cher wur­de, das er aber glän­zend bewäl­tig­te. Im August 1938 war Felix ein­be­ru­fen und in Bad Saa­row kaser­niert, aber im Okto­ber schon wie­der ent­las­sen wor­den. In Ber­lin hat­te er die Fami­lie Gysi und Ire­ne Les­sing ken­nen­ge­lernt. Die Mut­ter von Klaus, Erna, wur­de die gro­ße Lie­be Hart­laubs – dass sie zwan­zig Jah­re älter war als er, spiel­te kei­ne Rol­le. 1938 emi­grier­te sie nach Frankreich.

Auf Pro­fes­sor Elzes Ver­an­las­sung und über sei­ne Kon­tak­te bekommt Felix ab August 1940 eine Stel­le des Aus­wär­ti­gen Amts bei der Histo­ri­schen Kom­mis­si­on in Paris. Sei­ne Kriegs­auf­zeich­nun­gen aus dem besetz­ten Paris zei­gen bei­spiel­haft, wie die deut­schen Sol­da­ten dort hau­sen, sich als Sie­ger füh­len und wie sich Felix als Deut­scher schämt, unsicht­bar wer­den möch­te, wenn er durch die Stadt geht. Nach einem kur­zen Mili­tär­ein­satz in Rumä­ni­en beginnt im Novem­ber 1941 eine Tätig­keit, die sich mit sei­nem Vor­le­ben kaum ver­ein­ba­ren lässt. Er wird »histo­ri­scher Sach­be­ar­bei­ter« in der Abtei­lung »Wehr­machts­kriegs­ge­schich­te« beim Ober­kom­man­do der Wehr­macht in Ber­lin. Im Mai 1942 wech­selt er zur Abtei­lung »Kriegs­ta­ge­buch des Ober­kom­man­dos der Wehr­macht«. Das führt ihn ins Füh­rer­haupt­quar­tier »Wer­wolf« in der Ukrai­ne, dann in die »Wolfs­schan­ze« in Ost­preu­ßen und spä­ter nach Berch­tes­ga­den. Er hilft mit, die Schlach­ten­hi­sto­rie für die Zeit nach dem »End­sieg« zu ver­fas­sen. Alles soll spä­ter als Quel­le für das gro­ße »Haupt­buch« Hit­lers dienen.

Hat Felix wohl noch Zeit zum Lesen? Er lässt sich vom Vater aus Hei­del­berg Bücher ins Füh­rer­haupt­quar­tier schicken, dar­un­ter »Das Kapi­tal« von Marx. Der Vater schreibt von »halb­ver­dau­tem Vul­gär­mar­xis­mus Gysi­scher Observanz«.

Den Anschlag vom 20. Juli erlebt Hart­laub im Sperr­kreis II, etwa 500 Meter ent­fernt. Felix beginnt, einen Roman zu schrei­ben, »Im Dickicht des Süd­ostens«, in dem das Atten­tat vom 20. Juli eine Rol­le spielt und ein Schrei­ber, der mit ihm eine gewis­se Ähn­lich­keit hat und doch völ­lig anders ist. Eine kri­ti­sche Spie­ge­lung sei­ner selbst und eine prä­zi­se Vor­aus­schau der Nach­kriegs­zeit. Alle Ent­schul­di­gungs­flos­keln ste­hen hier schon, das Nicht­wis­sen – er wuss­te es.

Viel ist über Felix Hart­laub geschrie­ben wor­den. War er der oppor­tu­ni­sti­sche Mit­ma­cher oder der wider­stän­di­ge Auf­be­geh­rer? Man­cher hat sei­ne Erzäh­lun­gen als Erleb­nis­be­rich­te miss­ver­stan­den, weil er so genau beschrieb. Er sah sein Schrei­ben als Ent­lar­vung, Demas­kie­rung. Dabei ließ er sich selbst nicht aus. Er wur­de 1955 für tot erklärt.

Ein Buch, das trotz eini­ger Unge­nau­ig­kei­ten – es gibt weder Anmer­kun­gen noch Regi­ster – unbe­dingt zu emp­feh­len ist.