Die Schwester Geno glaubte bis zuletzt, sie starb 2007, dass ihr Bruder Felix Hartlaub noch lebe, vielleicht irgendwo in Russland, zu dem er sich als Zögling der Odenwaldschule hingezogen fühlte. Geno Hartlaub führte in Hamburg einen Jour fixe, wo ich sie kennenlernte. Geno war Schriftstellerin wie viele ihrer Besucher.
Bei Suhrkamp ist ein Buch erschienen: »Der verschwundene Zeuge – Das kurze Leben des Felix Hartlaub«. Geschrieben hat es Matthias Weichelt, der Chefredakteur von Sinn und Form. Dieses, auf 232 Seiten (20 Euro) zusammengefasste Leben könnte Bände füllen. Felix Hartlaub wurde als Sohn des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Hartlaub und seiner Ehefrau Félicie am 17. Juni 1913 geboren – das Sterbedatum ist unbekannt, möglicherweise war es der 20. April 1945. An dem Tag machte sich der Obergefreite auf zur Seeckt-Kaserne in Spandau – noch zur Abkommandierung an die Front, die da schon in Berlin war. Warum leistete Hartlaub dem Befehl Folge? Um Freunde zu schützen. Er lebte damals in einer Villa am Schlachtensee, wo auch Klaus Gysi und Irene Lessing wohnten. Es gab Durchsuchungen nach Deserteuren, tatsächlich fand noch eine statt. Klaus Gysi hatte das Glück, dass ein Arzt ihm ein gefälschtes Attest ausgestellt und einen Diphterie-Abstrich besorgt hatte. Das rettete ihn. Mitglieder seiner Familie wurden von den Nazis umgebracht. Gysis Verlobte, Irene Lessing, begleitete Felix Hartlaub noch zum Bahnhof Nikolassee. Dann verschwand er unauffindbar. Klaus und Irene hatten nach den Rassegesetzen der Nazis irgendwelche Prozente jüdisches Blut in den Adern, und dazu waren sie – auch das noch – Kommunisten. Klaus Gysi, der spätere Kulturminister der DDR und Aufbau-Verleger, musste sich nach 1945 rechtfertigen, warum er überlebt habe. Er hatte Felix in der Odenwaldschule kennengelernt. Dort wurden die klassischen humanistischen Werte hochgehalten, nur das, was draußen passierte, was sich politisch veränderte, blieb unausgesprochen. Der Vater erzog Sohn Felix zu einem Wunderknaben, schrieb das Buch: »Das Genie im Kinde«. Durch dieses Vorgeprägtsein fühlte sich der sensible Felix eingeengt. Er zeichnete und schrieb. Der Vater wurde 1923 zum Direktor der Mannheimer Kunsthalle ernannt. Er reiste viel mit dem Sohn. Und alles wurde aufgeschrieben. Jeder in der Familie führte Tagebuch, Briefe waren alltäglich. Heute ist vieles im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. 1933 wurde Gustav Hartlaub als Direktor der Kunsthalle wegen »Kulturbolschewismus« entlassen. Kurz vorher war eine aufgeregte Menge durch Mannheim gezogen, auf einem Leiterwagen ein Gemälde: Chagalls »Rabbiner«, aus dem Rahmen geschnitten und mit einem Transparent versehen: »Hierfür mißbraucht man das Geld der Steuerzahler«. Hierfür, das hieß »undeutsche Kunst«.
Felix studiert in Heidelberg Romanistik und Geschichte, 1934 geht er nach Berlin und studiert dort weiter. Seine Professoren sind Walter Elze und Wilhelm Pinder. Professor Elze, ein George-Anhänger, der im Ersten Weltkrieg Jagdflieger in der Richthofen-Staffel gewesen war und bis 1919 im Preußischen Kriegsministerium gearbeitet hatte, dann schnell in die NSDAP eingetreten war, ausgerechnet er hatte großen Einfluss auf Felix. Er schlug ihm als Doktorarbeit »Don Juan d’ Austria und die Schlacht bei Lepanto« vor – der Kampf des Abendlands gegen die feindliche türkische Flotte, die fast vollständig zerschlagen wurde. Ein Thema, das Felix immer unheimlicher wurde, das er aber glänzend bewältigte. Im August 1938 war Felix einberufen und in Bad Saarow kaserniert, aber im Oktober schon wieder entlassen worden. In Berlin hatte er die Familie Gysi und Irene Lessing kennengelernt. Die Mutter von Klaus, Erna, wurde die große Liebe Hartlaubs – dass sie zwanzig Jahre älter war als er, spielte keine Rolle. 1938 emigrierte sie nach Frankreich.
Auf Professor Elzes Veranlassung und über seine Kontakte bekommt Felix ab August 1940 eine Stelle des Auswärtigen Amts bei der Historischen Kommission in Paris. Seine Kriegsaufzeichnungen aus dem besetzten Paris zeigen beispielhaft, wie die deutschen Soldaten dort hausen, sich als Sieger fühlen und wie sich Felix als Deutscher schämt, unsichtbar werden möchte, wenn er durch die Stadt geht. Nach einem kurzen Militäreinsatz in Rumänien beginnt im November 1941 eine Tätigkeit, die sich mit seinem Vorleben kaum vereinbaren lässt. Er wird »historischer Sachbearbeiter« in der Abteilung »Wehrmachtskriegsgeschichte« beim Oberkommando der Wehrmacht in Berlin. Im Mai 1942 wechselt er zur Abteilung »Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht«. Das führt ihn ins Führerhauptquartier »Werwolf« in der Ukraine, dann in die »Wolfsschanze« in Ostpreußen und später nach Berchtesgaden. Er hilft mit, die Schlachtenhistorie für die Zeit nach dem »Endsieg« zu verfassen. Alles soll später als Quelle für das große »Hauptbuch« Hitlers dienen.
Hat Felix wohl noch Zeit zum Lesen? Er lässt sich vom Vater aus Heidelberg Bücher ins Führerhauptquartier schicken, darunter »Das Kapital« von Marx. Der Vater schreibt von »halbverdautem Vulgärmarxismus Gysischer Observanz«.
Den Anschlag vom 20. Juli erlebt Hartlaub im Sperrkreis II, etwa 500 Meter entfernt. Felix beginnt, einen Roman zu schreiben, »Im Dickicht des Südostens«, in dem das Attentat vom 20. Juli eine Rolle spielt und ein Schreiber, der mit ihm eine gewisse Ähnlichkeit hat und doch völlig anders ist. Eine kritische Spiegelung seiner selbst und eine präzise Vorausschau der Nachkriegszeit. Alle Entschuldigungsfloskeln stehen hier schon, das Nichtwissen – er wusste es.
Viel ist über Felix Hartlaub geschrieben worden. War er der opportunistische Mitmacher oder der widerständige Aufbegehrer? Mancher hat seine Erzählungen als Erlebnisberichte missverstanden, weil er so genau beschrieb. Er sah sein Schreiben als Entlarvung, Demaskierung. Dabei ließ er sich selbst nicht aus. Er wurde 1955 für tot erklärt.
Ein Buch, das trotz einiger Ungenauigkeiten – es gibt weder Anmerkungen noch Register – unbedingt zu empfehlen ist.