Krieg wird ständig bewertet: Ob er die Sache wert sei, ob er sein müsse, wer an ihm schuld sei? Einen derartigen Diskussionsbedarf gibt es heute allerdings nicht mehr, angesichts dessen, dass Russland den Angriff auf die Ukraine begangen hat – und das ist natürlich tatsächlich so; angesichts dessen, dass der Krieg brandakut ist, erscheint ein Hinweis darauf, dass der Krieg eine Vorgeschichte hat, als fruchtloses whataboutistisches Sezieren von mittlerweile evident Überholtem: Russland ist schuld, der Krieg ist jetzt! Was tun?
Beide Seiten, die Ukraine, die USA, Nato, EU etc. auf der einen sowie Russland auf der anderen Seite, bezichtigen die andere des Völkerrechtsbruchs. Der diesbezügliche OSZE-Passus gesteht Staaten die Wahl ihrer Bündnisse zu und formuliert: »Kein Teilnehmerstaat wird seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen« (OSZE-Charta, Istanbul 1999). Beide Seiten sehen sich somit im Recht und setzen dieses mit dem Umbringen von Leuten durch.
Beide Seiten haben gegensätzliche »gute Gründe« für Krieg: Russland die Notwendigkeit der »Vorwärtsverteidigung« (ein für Militärs in aller Welt geläufiges Konzept) und die seit 2014 ihre Ostgebiete, denen kein Selbstbestimmungsrecht zusteht, mit einem Bürgerkrieg überziehende Ukraine die Notwendigkeit von Verteidigung, die von hinten angeführt wird. Etwas anderes ist »undenkbar« geworden. Somit beantworten die Kriegsparteien die Frage »Was tun? « gleichlautend: 1. Zu Krieg bis zum Sieg, und sei dieser auch nur total und atomar zu erringen, gibt es keine Alternative. 2. Es darf keinen »Diktatfrieden« (mit diesem Begriff delegitimierte der deutsche Faschismus den Versailler Vertrag) geben; nur Siegfrieden kommt in die Haubitze.
Offiziell ausgedrückt: »Heute verteidigen Sie das, wofür Ihre Väter, Großväter und Urgroßväter gekämpft haben. Der höchste Sinn ihres Lebens war immer das Wohlergehen und die Sicherheit unserer Heimat. (…) Ruhm unseren tapferen Streitkräften! Auf Russland! Auf den Sieg! Hurra!« (Putin, 09.05.2022).
»Einen russischen Diktatfrieden(!) soll es nicht geben. (…) Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen. Freiheit und Sicherheit werden siegen – so wie Freiheit und Sicherheit vor 77 Jahren über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur triumphiert haben. (…) Nie wieder! (Der Schwur von Buchenwald) Darin liegt das Vermächtnis des 8. Mai« (Scholz, 08.05.2022).
Augen geradeaus!
Diesen Diktaten kriegsbeschickender Staatenlenker, die die vitalen Interessen von Bevölkerungen schädigen, letztere verheizen, sollten sich Staatsbürger hüben wie drüben nicht unterwerfen. Aus »gerechter Empörung« (die dabei immer »das Gebot der Stunde« sein soll) Krieg patriotisch zu wollen, ist ein tödlicher Fehler.
Das einzig berechtigte Interesse besteht darin, nicht umzukommen. Wer desertieren und flüchten kann und das tut, hat noch Glück; die, denen nur bleibt, sich wegzuducken, brauchen mehr Glück als es gibt.
Nun mag Aufgeben nicht gerade der Königsweg sein, aber wie wäre es zur Abwechslung mit ernsthaften Verhandlungsversuchen? Vielleicht wäre es ja dafür noch nicht zu spät, bevor es zu spät ist. Nein, das wäre »Appeasement«, »Feigheit vor dem Feind«! Und eine neutralistische »Hinterwäldlerei« (IPG, 14.05.2022) sollte man den Österreichern überlassen, die den Schuss nicht gehört haben. Einem Russland, von dem »jeder weiß, dass es außenpolitisch nur Destruktives anzubieten hat« (so die FAZ schon vor Jahren), ist nur ebenfalls destruktiv zu begegne®n? Dann muss es – Hunde, wollt ihr ewig leben? – wohl so sein. Den Uneinsichtigen attestiert der nicht mit Altersstarrsinn geschlagene Wladimir Kaminer: »Bei alten Menschen siegt der Pazifismus über die Logik.«
Was spricht gegen die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge? Nichts. Was aber ist, wenn sich der Feind nicht ergeben will? Dann werden wir weiterhin hinter Flüchtlingen stehen, solidarisch sein, bis er vernichtet ist. »Serbien muss sterbien« – das hatten wir schon. Nun geht es weiter.
Russland hat die Wahl: »Mit einem Winseln zugrunde gehen« oder mit dem »großen Knall«. Auch Staaten können – »wenn das deutsche Volk untergeht, so hat es das nicht anders verdient« (Hitler) – zu erweitertem Selbstmord greifen, dieses Mal auch atomar. Na und? Wir jedenfalls werden im Recht gewesen sein. Nur darauf kommt es an. Ist das nun – »Bange machen gilt nicht!« – »alarmistisch«, oder was? Schön wärs. Die Heereszüge fahren in den Abgrund. Unsere Heizer, denen sich die Vertreter von Arbeit und Religion mit Ausnahme des untragbaren Papstes hinzugesellen, befeuern sie nach ihren und mit unseren Kräften. Dann sind wir schneller dort, Endstation Apokalypse.
Das pazifistische, »senile, unsinnige« (Kaminer) somit »zynische« und »aus der Zeit gefallene« (Scholz) Bedenken wird zu spät kommen. »Ich habe es immer gewusst. Wenn die Überlebenden des letzten großen Krieges sterben, werden die Ahnungslosen wieder Krieg führen, unwissend, gleichgültig« (Dieter Forte 1999).
Verweigern wir diesen unsere Zustimmung!
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Rede für den Frieden (1952). Von Bertolt Brecht.
Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Beschreibung, die der New Yorker von den Gräueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben. Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht nass, sagen viele.
Die Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen.
Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!
Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.