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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Ende der Bescheidenheit?

Der Export­über­schuss aus Deutsch­land ist seit vie­len Jah­ren sehr hoch und beträgt inzwi­schen jähr­lich fast 300 Mil­li­ar­den Euro: »Wir sind Export­welt­mei­ster!« Das Sta­bi­li­täts­ge­setz von 1967 schrieb etwas ganz ande­res vor: Preis­sta­bi­li­tät, Voll­be­schäf­ti­gung, aus­ge­gli­che­nen Außen­han­del und ange­mes­se­nes Wachs­tum. Die Fol­gen der andau­ern­den Insta­bi­li­tät und des unaus­ge­gli­che­nen Außen­han­dels sind gra­vie­rend in Deutsch­land und in Europa.

Mög­lich wur­de der Export­boom durch die schrö­der­sche Agen­da 2010, durch die Schaf­fung eines rie­si­gen Nied­rig­lohn­sek­tors in Deutsch­land, bezahlt mit gras­sie­ren­der Armut vor allem bei Frau­en, Kin­dern und älte­ren Men­schen. Der jüng­ste Armuts­be­richt spricht da Bän­de: Ein Drit­tel der erwach­se­nen Armen in Deutsch­land ist erwerbs­tä­tig, jede*r vier­te arme Erwach­se­ne ist in Ren­te oder Pen­si­on und nur ein Fünf­tel ist arbeits­los, so nur einer der vie­len bri­san­ten Befun­de des aktu­el­len Armuts­be­richts des Pari­tä­ti­schen Wohl­fahrts­ver­ban­des. Dem­ge­gen­über erklärt die Bun­des­re­gie­rung im fünf­ten Armuts- und Reich­tums­be­richt über aktu­el­le Lebens­la­gen in Deutsch­land (2017): »Zehn Jah­re nach Beginn der Finanz- und Wirt­schafts­kri­se steht Deutsch­land heu­te – ins­be­son­de­re auch im inter­na­tio­na­len Ver­gleich – sehr soli­de da.« Und wei­ter: »Die Ein­kom­mens­ver­tei­lung in Deutsch­land war im Berichts­zeit­raum sta­bil. Die Ein­kom­mens­an­tei­le, die auf die obe­re und unte­re Hälf­te der Ein­kom­mens­be­zie­her ent­fal­len, lie­gen bereits seit dem Jahr 2005 in einem sta­bi­len Ver­hält­nis von etwa 70:30.« Das bedeu­tet, dass die Rei­chen fast uner­mess­li­che reich sind: 6000 Mil­li­ar­den Euro pri­va­tes Geld­ver­mö­gen wur­den zusam­men­ge­schef­felt und vaga­bun­die­ren durch die inter­na­tio­na­len Finanz­märk­te, suchen lukra­ti­ve Anla­ge­mög­lich­kei­ten im Auf­kauf von gan­zen Wohn­sied­lun­gen, von Kran­ken­haus­ge­sell­schaf­ten und Alten­pfle­ge­hei­men – immer mit dem Ziel, den pri­va­ten Reich­tum zu ver­grö­ßern; nie mit dem Ziel, Woh­nen als Recht zu garan­tie­ren, nie mit dem Ziel bester Bedin­gun­gen für Gesund­heit, Pfle­ge oder gute Arbeit. Wür­de den Super­rei­chen nur die Hälf­te des gigan­ti­schen Ver­mö­gens durch Ver­mö­gens­ab­ga­be und Ver­mö­gens­steu­er genom­men – sozu­sa­gen ein moder­ner Lasten­aus­gleich – wären die gesam­ten Schul­den von Bund, Län­dern und Gemein­den getilgt, es wären noch 1000 Mil­li­ar­den Euro übrig für Inve­sti­tio­nen in Bil­dung, Gesund­heit, Infra­struk­tur und öffent­li­chen Ver­kehr. Und die Rei­chen wären immer noch sehr reich.

Im EU-Ver­gleich sind die Arbeits­zei­ten von Frau­en in Deutsch­land die zweit­kür­ze­sten. Müt­ter in Deutsch­land sind im EU-Ver­gleich schlech­ter in den Arbeits­markt ein­ge­bun­den als Frau­en ohne Kin­der. Kin­der zu haben stellt einen Risi­ko­fak­tor für die Erwerbs­tä­tig­keit und finan­zi­el­le Absi­che­rung von Frau­en dar.

Flan­kiert wird das Armuts­pro­gramm Hartz IV durch einen Wäh­rungs­krieg, in dem ein schwa­cher Euro zur Waf­fe wird. Jedoch haben die Hartz-Refor­men kei­ne zusätz­li­che Arbeit und also auch kei­ne zusätz­li­chen Arbeits­plät­ze geschaf­fen. Die Arbeit wur­de ledig­lich auf mehr Per­so­nen ver­teilt. Mini­jobs und unfrei­wil­li­ge kur­ze Teil­zeit sind kein »Beschäf­ti­gungs­wun­der«; ein unge­nü­gen­der Min­dest­lohn und zu gerin­ge Ren­ten zwin­gen ärme­re Men­schen zu Tätig­kei­ten, die sie frei­wil­lig zu die­sen Bedin­gun­gen nie­mals aus­füh­ren wür­den. Die Pro­duk­te aus Deutsch­land wur­den so bil­li­ger und haben die Märk­te ande­rer Län­der, auch von Grie­chen­land, Spa­ni­en, Ita­li­en und Frank­reich, gewal­tig über­schwemmt. Eines der nega­ti­ven Ergeb­nis­se davon besteht im Export von Erwerbs­lo­sig­keit. Die noch geschön­ten Erwerbs­lo­sen­quo­ten betra­gen in Grie­chen­land 20 Pro­zent, in Spa­ni­en 15 Pro­zent, in Ita­li­en und in Frank­reich jeweils zehn Pro­zent. Für eine gan­ze Gene­ra­ti­on jun­ger Men­schen beginnt das Leben nach der Schu­le oder dem Stu­di­um mit Erwerbs­lo­sig­keit oder pre­kä­rer Arbeit zu mie­se­sten Bedin­gun­gen und schlecht entlohnt.

Die deut­schen Spar­pro­gram­me, das deut­sche »Beschäf­ti­gungs­wun­der«, die ja tat­säch­lich nur ein Pro­gramm zur Umver­tei­lung von unten nach oben sind, wer­den jetzt auch ande­ren Län­dern als Rezep­tur für einen Auf­schwung emp­foh­len – und die rechts­kon­ser­va­ti­ven Regie­run­gen in Wien, Paris und Buda­pest machen sich dar­an, die Tarif­ver­trä­ge aus­zu­he­beln, die Gewerk­schaf­ten zu schwä­chen, die Arbeits­zeit zu ver­län­gern und die Löh­ne und Ren­ten zu sen­ken. Es sind die­se neo­li­be­ra­len Pro­gram­me der Euro­päi­sie­rung und Glo­ba­li­sie­rung des Elends für Mas­sen von Men­schen zugun­sten weni­ger rei­cher Schma­rot­zer, die das Pro­jekt eines fried­li­chen Euro­pas in die Sack­gas­se ohne Wen­de­ham­mer führen.

Dage­gen weh­ren sich die Men­schen in Öster­reich, Frank­reich und in Ungarn. Hun­dert­tau­sen­de gehen auf die Stra­ßen und demon­strie­ren gegen den Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus, gegen die unso­zia­len Geset­zes­vor­ha­ben von Kurz, Macron und Orban. Sie pro­te­stie­ren in den jeweils lan­des­ty­pi­schen For­men – mit Stra­ßen­bar­ri­ka­den und Blocka­den von Ama­zon in Frank­reich, mit von Gewerk­schaf­ten, lin­ken Par­tei­en und sozia­len Bewe­gun­gen getra­ge­nen Demon­stra­tio­nen und Kund­ge­bun­gen in Öster­reich und Ungarn. Vie­le, auch lin­ke Men­schen in Deutsch­land, schau­en mit einem roman­ti­schen Blick nach Frank­reich, bewun­dert wer­den die gro­ßen Kund­ge­bun­gen in Öster­reich und die andau­ern­den Kämp­fe in Ungarn. Oft unbe­ach­tet blei­ben oder belä­chelt wer­den die vie­len klei­nen Kämp­fe in unse­rem Land – sei es der Streik der Eisenbahner*innen oder der muti­ge Streik der Beschäf­tig­ten bei Ama­zon, sei es der Kampf gegen Miet­erhö­hun­gen oder sei es nur der Kampf um einen Fahrradweg.

Dabei kann, das wird in den aktu­el­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen sicht­bar, Euro­pa nur von unten ver­än­dert wer­den. Macron muss­te ein Mil­li­ar­den­pro­gramm auf­le­gen – und konn­te die Pro­te­ste doch kaum damit beein­flus­sen. Aber die Sta­bi­li­täts­kri­te­ri­en der EU, die eine maxi­ma­le Ver­schul­dung von Staa­ten fest­schrei­ben, prak­tisch die deut­sche »Schul­den­brem­se« euro­päi­siert und die Staa­ten damit weit­ge­hend hand­lungs­un­fä­hig gemacht haben, die wer­den nun nach Ita­li­en auch wie­der von Frank­reich geris­sen. Die Aktio­nen der Men­schen in Frank­reich, Öster­reich und Ungarn sind – neben dem Brexit – dabei, die Euro­päi­sche Uni­on zu ver­än­dern. Hier­zu­lan­de wird ana­ly­siert und debat­tiert, vor dem Betre­ten des Rasens gewarnt, wäh­rend in Frank­reich, Öster­reich und Ungarn die Rech­ten inner­halb und außer­halb der Regie­rung durch viel­fäl­ti­gen Pro­test iso­liert wer­den. Das Den­ken und Reden über die Novem­ber­re­vo­lu­ti­on vor 100 Jah­ren scheint nicht mehr als ein roman­ti­scher Rück­blick – weder die Abwie­ge­lei des DGB-Chefs noch der Appell der lin­ken Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den auf­zu­ste­hen ändern etwas an die­ser äußer­li­chen Ruhe im Land. Es bedarf brei­ter Bünd­nis­se wie der die #unteil­bar-Demo gegen repres­si­ve Poli­zei­ge­set­ze, um eine grö­ße­re Anzahl von Men­schen run­ter vom Sofa auf die Stra­ße zu mobilisieren.

Erst wenn wir auf­hö­ren, unter unse­ren Ver­hält­nis­sen zu leben, wenn wir uns unse­ren Teil am Reich­tum des Lan­des holen, wenn wir die öko­no­mi­schen Ungleich­ge­wich­te in Euro­pa ver­än­dern, ist Aus­sicht auf ein Zusam­men­füh­ren der eman­zi­pa­to­ri­schen Pro­te­ste in Euro­pa! Es könn­te im Jahr 2019 alles schlim­mer kom­men – es könn­te aber auch alles bes­ser werden!